05.07.2008

Mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf

Ich erinnere mich noch an meinen Lehrer Pietersen – einen großen Mann, der sich geschmeidig bewegte, immer in einem braunen Anzug vor der Klasse stand und offensichtlich problemlos von Gott, Afrika, Willem van Oranje, amerikanischen Soldaten und vor allem Grammatik sprach. Ich saß ganz hinten im Klassenraum und meine Aufmerksamkeit war ganz auf ihn gerichtet.

Ich war neun Jahre alt. Der Lehrer Pietersen stand da vorne und sprach. Er schien irgendwie auf den Inhalten, von denen er erzählte, zu treiben, wie ein Stück Holz auf sanft fließendem Wasser. Es waren die Inhalte, die ihn bewegten: er kam, so schien es mir, nie davon los, um zum Beispiel einen Blick auf mich zu werfen. Ich hatte das Gefühl, in seiner Welt nicht zu existieren. Seine Aufmerksamkeit betraf ganz und gar nicht mich, und ich meinte, dass er auch die anderen Kinder nicht wirklich wahrnahm. Ja, als ein Klassenkamerad zu laut war, nahm er das schon war. „Mattheus, bald ist Pause“, sagte er dann geschmeidig und ohne Ärger, „dann kannst du in aller Ruhe mit Hans reden“. Mattheus muss aber das Gefühl gehabt haben, dass nicht er gemeint war, sondern sein zu lautes Sprechen.

Der Lehrer Pietersen war unerreichbar. Seine Aufmerksamkeit und meine Aufmerksamkeit – oft läuft das ja über Blicke – haben einander nie gekreuzt, berührt, getroffen. Es gab nur ein einziges Mal eine Ausnahme – ein Ereignis, dass in meinem weiteren Leben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Es betraf eine Situation, vor der ich damals wie heute eine richtige Angst hatte und habe. Die Tatsache, dass gerade in dieser Situation das Gespür der Nähe auf einmal da war, hat mich als Erwachsenen sehr beschäftigt.

Ich war ein braves Schulkind. Aus irgendeinem Grund – ich weiss nicht mehr, was geschehen war – hatte der Lehrer Pietersen mich aber einmal in ein kleines Zimmer ganz oben unter dem Dach des Schulgebäudes eingesperrt. Es wird etwa drei Uhr nachmittags gewesen sein. Er war sofort wieder runter gegangen und ich wartete. Weil die Schulzeit gewöhnlich um vier Uhr zu Ende war, meinte ich, dass ich noch etwa eine Stunde da oben zu bleiben hätte. Es wurde aber vier, es wurde fünf, es wurde halb sechs... Und mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf.

Ich war verzweifelt. Ins Leere hinein zu warten, kann ich noch immer nicht. Warten ist okay – aber nur dann, wenn ich weiss, wie lange ich ungefähr zu warten habe. Die Tatsache aber, dass ich nicht wusste ob der Lehrer mich einfach vergessen hatte oder mich bewußt warten ließ, gab mir richtig zu schaffen. Ich saß da im Dachzimmer auf einem Stuhl und hatte Angst. Vor mir gab es nur eine leere & unbestimmte & dunkle Zeit.

Um sechs kam er. Ich hörte ihn mit schnellen Schritten die Treppe hoch kommen. Er öffnete mit dem Schlüssel die Tür, kam auf mich zu, kniete vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und schaute mir in die Augen. „Es tut mir leid“, sagte er, „ich habe dich komplett vergessen. Du Armer...“ Später stellte sich heraus, dass mein Vater ihn zu Hause mit der Frage angerufen hatte, wo ich denn blieb. (Denn ich war ja ein braves Kind, und immer pünklich um halb fünf wieder zu Hause.)

„Du Armer...“. In seiner Stimme, seinen Händen, seinen Augen war auf einmal eine Aufmerksamkeit zu spüren, die mich völlig umgab, vereinnahmte, trug und innerlich wieder auf die Beine stellte... Und ich war dankbar, eigentlich nur dankbar. Ich war dankbar, weil ich auf einmal in seiner Welt existierte und offensichtlich genau so wichtig war wie Willem van Oranje oder amerikanische Soldaten. Und obwohl in den nächsten Tagen nichts mehr von der Nähe zu merken war, ist sie lange als eine Aura geblieben.

Bis heute weiss ich noch, wie mein Lehrer Pietersen gerochen hat, als er vor mir kniete.

27.06.2008

Wer sind denn eigentlich meine besten Freunde?

Wie viele Freunde habe ich? Als ich diese Frage beantworten wollte, enstand in weniger als zehn Minuten eine Liste von etwa zwanzig Personen. Ich hätte die Liste noch länger machen können, war aber darüber in Zweifel geraten, welche Kriterien ich eigentlich einsetzte. Um eine Sicht auf die spontanen Kriterien zu kriegen, habe ich dann mit Hilfe dieser Liste versucht eine Art Reihenfolge aufzustellen. Die Frage verwandelte sich: wer sind meine besten Freunde?

An der Spitze der Liste stehen nun fünf Personen. Nummer sechs, sieben und acht würde ich „ganz gute“ Freunde nennen, aber nicht „beste“ Freunde. An dieser Stelle scheint es also einen Unterschied zu geben. Irgendwie scheint es Freunde zu geben, die ich klar als meine „besten“ Freunde verstehe, und abgesehen davon „ganz gute“ Freunde, die aus irgendeinem Grund doch ein bisschen „weniger“ Freunde sind. Wenn ich in dieser Art und Weise weiter auf die Liste schaue, tauchen auch noch „gute“ Freunde und „ganz gute Bekannte“ auf. Alles was über zwanzig Menschen hinausgeht, würde ich einfach „gute Bekannte“ oder eben „Bekannte“ nennen. (Übrigens: meine Lebensgefährtin habe ich spontan nicht aufgelistet. Eine Frage für sich: Was ist der Unterschied zwischen Freunden und Geliebten?)

Heute möchte ich versuchen folgende Frage zu beantworten: haben die Beziehungen zu den fünf „besten“ Freunden etwas gemeinsam? Gibt es Gemeinsamkeiten?

Erst einmal stelle ich fest, dass es um drei Männer und zwei Frauen geht. Die Männer sind alle ungefähr so alt wie ich, zwischen fünfzig und sechzig. Die beide Frauen hingegen sind um einiges jünger bzw. älter. Die berufliche Tätigkeiten diese fünf Menschen liegen weit auseinander. Alle fünf haben Kinder, drei leben innerhalb einer Familie, zwei leben getrennt.

Alle fünf Freunde kenne ich schon länger. An dieser Stelle fällt mir eine signifikante gemeinsame Gegebenheit ein, die Tatsache nämlich, dass die Begegnung mit allen fünf Freunden direkt oder indirekt mit einem Buch von Bernard Lievegoed[i], das ich 1993 veröffentlicht habe, zu tun hat. (Einen der Freunde kannte ich schon vorher als „guten“ Bekannten – im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten, die mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängen, ist er dann später ein „bester“ Freund geworden.) Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Buch und meine Beziehung als Herausgeber dazu, eine Wende in mein Leben gebracht haben. Die fünf Freunde haben mit dieser Wende zu tun, ja gingen gleichsam aus ihr hervor.

Es gibt aber natürlich auch noch viel mehr Leute, die ich über das Buch von Lievegoed kennengelernt habe. (Und natürlich auch viele, die gar nichts mit dem Buch zu tun haben.) Was macht also diese fünf Freundschaften aus, was bringt mich dazu zu sagen, dass sie meine besten Freunden, meine wichtigsten Freundschaften sind?

Heute meine ich drei Aspekte zu erkennen. Der erste ist, dass sie mich sehen & verstehen & unterstützen als jemanden mit einer Aufgabe, die zwar mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängt, gleichzeitig aber eigenständig mit meiner eigenen Biographie verbunden ist. Eigentlich müsste ich sagen, dass diese fünf das in gewisser Hinsicht besser verstehen oder verstanden haben als ich selbst. Sie haben mich mir und anderen gegenüber energisch & positiv & erwartungsvoll „vertreten“. Ich würde sagen, dass ich aus diesen fünf Freunden hervorgegangen bin. Sie wollten und wollen, dass ich wurde und werde, was ich in ihren Augen schon war und bin. Uneingeschränkt wollten und wollen sie das Gute für mich.

Und umgekehrt war und ist genau das Gleiche der Fall. So unterschiedlich die fünf Freunde sind, in mir rufen sie alle eine Art Sehnsucht hoch: ich möchte & wünsche mir & will, dass sie blühen. Und ich verstehe diesbezüglich meine eigene Person als Partner und meine Biographie & Fähigkeiten & Möglichkeiten als Dünger. Oder vielleicht ganz anders und besser gesagt: die Sehnsucht danach, meine Freunde erblühen zu sehen, erzeugt in mir die Kraft & die Bereitschaft & die Kreativität mitzutanzen.

Ein zweiter Aspekt hat damit zu tun, was wir Vertrauen nennen. Ich glaube, ich kann gar nichts dazu sagen, warum zwischen mir und gerade diesen fünf Menschen ein uneingeschränktes Vertrauen herrscht. (Um ehrlich zu sein: ich wüsste nicht einmal, was Vertrauen eigentlich ist. Liebe?) Aber klar ist, dass wir gegenseitig bereit sind (oder den Wunsch haben, oder die Entscheidung getroffen haben), alle lichten und dunklen Aspekte des Lebens im Lichte der Sehnsucht-nach-dem-Erblühen zu sehen. Ohne Vertrauen geht das nicht.

Und ein dritter Aspekt ist, dass diese Freundschaften auch lebendig existieren, wenn wir einander länger nicht sehen oder sprechen. Eigentlich ist die Freundschaft gar nicht davon abhängig, ob wir einander öfters treffen oder nicht. Denn die fünf Freunde sprechen & klingen & agieren in mir. Ich kann mit ihnen innerlich „reden“, und das über alle Themen, die in meinem Leben anstehen. Und ich mache das auch.

Interessant ist dabei übrigens, dass in dieser Hinsicht jede freundschaftliche Verbindung eine Welt für sich darstellt. Freund A redet auf seine Art und Weise über ganz bestimmte Aspekte des Lebens mit mir, während Freund B das auf eine andere Art und Weise und über andere Aspekte des Lebens tut. Jede Freundschaft hat eine bestimmte Signatur, jeder Freund hat seinen eigenen Blick und seine eigene Landschaft.



[i] Bernard Lievegoed: Über die Rettung der Seele. Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1994.

18.06.2008

Verdattert & verdutzt & baff & von den Socken. Übers Klauen. Und mein Fahrrad

Ich bin Holländer, und das heißt, dass ich etwas von Fahrrädern verstehe. Ein Fahrrad ist nicht nur ein billiges Transportmittel, sondern weit darüber hinaus auch ein Übungsinstrument für die Seele. Auf dem Fahrrad balanciert man zwischen Himmel und Erde. Und: gerade dadurch, dass man sich mit einer gewissen Leichtigkeit fortbewegt und ständig ein bisschen nach links und sofort auch wieder ein bisschen nach rechts schwenkt, bleibt man in der Mitte. Anders gesagt: dadurch, dass man andauernd ein kleines bisschen zur falschen Seite kippt, ist man grundsätzlich in der richtigen Spur.

So far, so good.
Letzte Woche ist mir etwas passiert, wovon ich unbedingt erzählen will. Ich war mit Freunden in einer Kneipe in Köln. In einer anderen Kneipe, mit dem Fahrrad nicht mehr als fünf Minuten entfernt, saßen ein paar andere Freunde. Die beiden Grüppchen hatten – zusammen mit noch einer Menge anderer Leute – den ganzen Tag gemeinsam gearbeitet. Thema: Erziehung. Und jetzt war Feierabend. Ich wollte in der ersten Kneipe kurz mit meinen dortigen Freunden sprechen und dann mit meinem Fahrrad zur zweiten Kneipe fahren, um dort den Abend fortzusetzen. Mein Fahrrad stand draußen, allerdings nicht verschlossen, weil meine Freundin das Schloss mitgenommen hatte.

Als ich zur zweiten Kneipe fahren wollte, war mein Fahrrad verschwunden. Geklaut, entwendet, einfach weg. (Das ist in Köln ganz normal.) Es ist ganz komisch: wenn man irgendwo sein Fahrrad erwartet, und es nicht da ist, wirkt die Stelle auf einmal sehr-sehr-sehr leer. Ich sollte schreiben: LEER. Ich schimpfte ein bisschen vor mich hin. Und war schon so ein bisschen verärgert. Und ich dachte: na ja, Jelle, du hast dein Fahrrad nicht abgeschlossen, eigene Schuld also. Und ich dachte auch: jetzt sollst du also ohne dein Übungsinstrument zu Fuß weiter gehen, ohne andauernd ein bisschen nach links und nach rechts schwenken zu können. (Ich finde das als Holländer nämlich sehr angenehm.) Und ich sagte mir: Du wirst auch zu Fuß den richtigen Weg finden.

In der zweiten Kneipe warteten meine Freunde schon auf mich. Ich setzte mich neben meine Freundin und sagte: „Mein Fahrrad ist geklaut worden. Scheiße!“ Und meine Freundin sagte sofort: „Schon wieder? Scheiße!“ Ich meckerte eine Weile, beschimpfte den unbekannten Dieb und meinte, dass das Leben in Köln nun einmal nicht ohne Risiken wäre. Dann aber sagte einer meiner Freunde am Tisch: „Jelle, war das rechte Bremsseil deines Fahrrads kaputt?“ Ich verstand gar nicht, worum er das fragte, sagte aber: „Ja, das stimmt, das Bremsseil war aus der Halterung gesprungen.“ Und dann sagte mein Freund: „Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen!“

Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen? Ich verstand überhaupt nicht was er meinte. Ein zweiter Freund aber stand sofort auf und ging raus. Der erste Freund, der so rätselhaft von dem rechten Bremsseil gesprochen hatte, nickte mir zu und sagte leise: „Jelle, geh raus und rede mal mit Wolfgang“. (Den Namen habe ich geändert.) Ich verstand aber noch immer gar nichts & wollte nicht raus & sowieso nicht mit Wolfgang über das rechte Bremsseil reden. Ich blieb also wo ich war.

Als deutlich wurde, dass ich bestimmt nicht raus gehen würde, wiederholte mein Freund: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Verdattert sagte ich: „Wieso nicht?“ „Nun ja“, sagte er mit einem Grinsen-zwischen-Freude-und-Angst, „weil wir gerade ein Fahrrad mitgenommen haben, das wir nicht weit von hier bei einer Kneipe ohne Schloss vorfanden und...“ Er schwieg und ich beendete den Satz: „...dessen rechtes Bremsseil kaputt war.“ Er nickte und grinste. „Vermutlich haben wir dein Fahrrad mitgenommen“, sagte er noch verlegen. „Es steht hier direkt um die Ecke.“

„Mitgenommen?“ sagte ich, „mitgenommen? Ich würde sagen: ihr habt mein Fahrrad geklaut. Nicht mitgenommen. Geklaut. Gestohlen. So nennt man das.“ „Nun ja“, sagte er beruhigend, „du hattest dein Fahrrad nicht abgeschlossen“. Und ich: „Das heißt aber nicht, dass mein Fahrrad auf einmal euch gehört. Auch ohne Schloss gehört mein Fahrrad mir.“ Und er wieder hoffnungsvoll grinsend: „Sei doch froh, dass du dein Fahrrad wieder zurück hast.“ Und dann auch noch: „Sei froh, dass wir es dir so ehrlich erzählen. Wir hätten auch schweigen können – du hättest es nicht gemerkt!“ Der letzte Satz war ein Hammer für mich.

Mittlerweile hatten die anderen Freunde am Tisch mitgekriegt was los war. Das Geschehen wurde gnadenlos heiter & beglückt & begeistert aufgenommen. Alle waren sich einig, dass etwas ganz Wunderbares & Interessantes & Einzigartiges geschehen war. Und meine Freundin sagte mir: „Jelle, das ist doch ein richtiges Ereignis!“ Ich aber war verdattert & verdutzt & bestürzt & verblüfft & perplex & platt & von den Socken & sprachlos & baff & wie begossen & konsterniert & durch den Wind & und so weiter und so fort. (Wunderbar, all diese deutschen Wörter, die ich so unheimlich mag.)

Und ich dachte. Ich fing richtig an zu denken. Nachzudenken. Ich dachte so viel, dass ich das alles nicht sofort einordnen konnte. (Und genau das heißt es ja, verdattert & verdutzt & baff zu sein.) Der Grund lag in dem Folgenden: Es war nicht das erste Mal, dass mir mein Fahrrad gestohlen wurde. In Amsterdam habe ich das bestimmt zehn Mal erleben müssen – und in Köln auch schon ein paar Mal. Ein Fahrrad zu haben und beklaut zu werden, gehört irgendwie zusammen. In all den vorangegangenen Fällen war der Dieb aber anonym geblieben und mit meinem Fahrrad in das Schattenreich seines Lebens verschwunden.

Aber heute saß der Dieb auf einmal vor mir. Und er grinste. Und was noch viel krasser war, er ist ein Bekannter von mir. Und dann noch: er versuchte mich zu beruhigen. Und noch heftiger: er verteidigte sich. Und er sagte genau das, was ich mir selber gesagt hatte: es ist deine eigene Schuld. Und er grinste wieder und immer weiter. Und er rühmte sich, wegen seiner Ehrlichkeit. Und meinte sogar mit dem Mut eines Verzweifelten: du hast ein paar gute Gründe froh zu sein. Und er hatte offensichtlich Recht, weil ich nicht nur verblüfft & platt & von den Socken war, sondern irgendwie auch froh & heiter & glücklich. Und heute, fast eine Woche später, denke ich: es war ein richtiges Ereignis. Gut, dass es Diebe & Fahrräder & all diese wunderbare deutschen Wörter gibt. Und, gut dass es Freunde gibt.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

11.06.2008

Über die intensive Beziehung zwischen mir und meinen Feinden

(Über Kommentare freue ich mich sehr. Ich verstehe meine Blogsite als eine Werkstatt mit offener Tür – und es macht richtig Spaß, wenn Leute da hereinkommen, einfach zuschauen oder sogar mitmachen.) In einem der Kommentare schreibt ANONYM: „In welchem Verhältnis stehen Freundschaft und Feindschaft zueinander?“

Ich kenne zwei Arten von Feinden. Der erste Feind ist von Anfang an ein Feind. Sobald er oder sie in mein Leben tritt, sehe & erkenne & fürchte ich ihn oder sie als Feind oder Feindin. Aus irgendeinem Grund ist mir sofort klar, dass dieser Feind mir im Weg steht. Ich spüre, dass er nicht will, dass ich so bin, wie ich bin – er will eigentlich überhaupt nicht, dass ich existiere. Und umgekehrt genauso: ich will nicht, dass er existiert. Ich könnte sagen, dass dieser Feind mir von Anfang an „unsympathisch“ ist – in Wirklichkeit geht meine Abwehr aber noch darüber hinaus. Eigentlich wünsche ich mir, dass er einfach irgendwie „verschwindet“. Ohne ihn scheint mir die Welt besser zu sein.

Der zweite Feind war einmal ein Freund. Es gab einmal eine Nähe zwischen mir und ihm, ein Vertrauen, ein gemeinsames & offenes & faires & warmes hin-und-her-bewegen, also eine lebendige Beziehung. Dann aber geschah „etwas“ und auf einmal ist ein Bruch entstanden. Die Beziehung ist um-ge-kippt und hat sich in sein Gegenteil verwandelt. So ein Bruch hat immer mit Vertrauen zu tun; aus irgendeinem Grund ist die Sphäre der Intimität zerstört worden.

Weil für mich sowieso noch eine Frage ist, wann man von „Freundschaft“ sprechen kann (ja, wieviele Freunde habe ich eigentlich? Aristoteles meinte, dass es nicht zu viele sein sollten!), benutze ich das Wort in diesem Text un-eigentlich; das heißt, ich schreibe von „Freundschaft“ ohne genau zu wissen, was sie beinhaltet. Und das gilt genauso für das Wort „Feindschaft“. Spontan und naiv sage ich heute: Feinde sind Leute, die aktiv verhindern wollen, dass ich mich glücklich entfalte. Freunde jedoch wollen einen Beitrag daran leisten, dass ich glücklich werde - Feinde wollen gerade das Gegenteil.

Ein Ding scheint mir sicher zu sein: Genau wie meine Freunde, gehören meine Feinde zu mir. Damit meine ich, dass mich beide bis in meinen innersten Kern „mit-gestalten“. Feinde werfen ein Licht auf meine Person, auf dieses ungreifbare & wunderbare & erbärmliche Gefüge, dass eine spannungsvolle und immer verwirrende Mischung ist zwischen dem, was ich bin und dem, was ich meine zu sein. Meine Feinde unterscheiden zwischen Schein und Wesen in mir, und werfen vor allem ein Licht auf das Scheinbare. Der Blick meiner Feinde erzeugt die Vermutung, dass in mir gar nichts Wesentliches vorhanden ist.

Aus diesem Grund rede ich innerlich ständig mit meinen Feinden. Auch wenn ich äußerlich nicht einmal einen Kaffee mit so jemandem trinke, bin ich in der Sphäre, in der ich scheinbar alleine mit mir bin, intensiv mit meinen Feinden beschäftigt. Und die Gespräche die ich mit ihnen führe, sind aufschlussreich. Ich meine, dass es in diesen inneren Dialogen letztendlich immer um die Frage geht (mit Bob Dylan): „What good am I?“

Ich verteidige mich. Ich greife an. Ich entkräfte Argumente. Ich beharre immer wieder darauf: nein lieber Feind, so ist es nicht gelaufen – es ist SO gelaufen. Ich konstruiere & rekonstruiere & dekonstruiere die Geschichte. Und ich sage: du verstehst mich nicht. Und vor allem: ich hingegen verstehe dich durch und durch... Und manchmal sage ich sogar: ich verstehe dich nicht, weil man dich nicht verstehen KANN – du bist ja völlig und völlig daneben. (Neben was eigentlich?) Und dann schweige ich. Ich sage gar nichts mehr. Ich erkläre meinen Feind für tot & irrelevant & erbärmlich. Und ich sage meinem Freund: weißt du, mein Feind tut mir richtig leid...

Zwischen mir und meinem Feind gibt es also eine intensive Beziehung. In dem Film Novecento - 1900 zeigt Bertolucci wie man in der Freundschaft und in der Feindschaft gleichermaßen miteinander verschränkt ist. Am Ende des Filmes stehen die zwei alten Freunde/Feinde Robert de Niro und Gerard Depardieu auf einem Landweg einander gegenüber und schwingen ihre Stöcke. Das unvergessliche Bild zeigt, dass die beiden zueinander gehören und auseinander hervor gegangen sind.

What good am I? Oder auch: wie schlecht bin ich? Oder auch: sprechen meine Feinde die Wahrheit über mich? Für heute meine ich: ja und nein. Ich sage heute: man muss in seinem Leben Entscheidungen treffen – ein Leben ohne Entscheidungen ist keine Biographie. Und ohne Entscheidungen hat man keine Feinde, leider aber auch keine Freunde. So groß & bedeutungsvoll & strahlend & bestürzend Entscheidungen sein können, sie sind aber immer per definitionem beschränkt. Die Verantwortung für seine Entscheidungen zu nehmen, heißt ja auch, aufzuhören sich gekränkt über die Tatsache zu wundern, dass man Feinde hat.

04.06.2008

Mein erster Freund war ein Verstorbener. Über Rogier

Ein erstes Gespür für Nähe zwischen mir und jemand anderem entstand in mir, als plötzlich mein Schulkamerad Rogier starb. Er war mit seinem Fahrrad mitten auf einer Kreuzung stehen geblieben und ein Lastwagen konnte nicht mehr ausweichen. Auf der Beerdigung sagte der Pfarrer: „Jetzt ist Rogier bei Gott“. Der Begriff Gott war mir wohl vertraut – Gott war da ganz oben im Himmel; und bei ihm waren die verstorbenen Menschen, die in Übereinstimmung mit seinem Wollen gelebt hatten.

Zwischen mir und Rogier war die Welt immer in Ordnung gewesen. Er war klein, hatte große blaue Augen, sagte wenig und wollte immer spielen. Obwohl wir nicht in die gleiche Klasse gingen, trafen wir uns immer wieder auf dem Spielplatz der Schule um einander Tennisbälle zuzuwerfen. Ich meine mich zu erinnern, dass Rogier die Bälle immer so warf, dass ich sie leicht fangen konnte. Und weil Bälle fangen nicht so direkt meine Spezialität war, habe ich mich über das erfolgreiche Spiel immer gefreut.

Viel zu besprechen hatten wir nicht. Ich glaube, dass wir beide schweigsame und träumerische Kinder waren, die bis dahin die entscheidende Bedeutung von Auseinandersetzung, Kampf und Reibung noch gar nicht verstanden hatten. Die Welt war für uns beide in Ordnung, wenn wir es schafften, ungestört Bälle zu werfen und zu fangen. Wir brauchten nachher nicht einmal zu sagen: „Morgen wieder?“ Wir wussten einfach, dass wir es morgen wieder machen würden, wenn das Leben es uns ermöglichte.

Und dann war Rogier auf einmal nicht mehr da. Er war bei Gott. Dass er nicht mehr da und bei Gott war, hieß aber nicht, dass er nicht mehr da war. Er hatte auf dem Spielplatz eine leere Stelle hinterlassen, ein Vakuum, das seine Existenz deutlich bemerken ließ. In den ersten Wochen nach seinem Tod schien es mir so zu sein, dass Rogier fast noch nachdrücklicher anwesend war als vorher. Hätte ich damals die richtigen Worte gehabt, hätte ich gesagt: „Gerade weil er nicht da ist, spüre ich seine Nähe“.

Und in dieser Nähe geschah etwas. Rogier wurde in meine träumerische Innenwelt aufgenommen. Monate lang erschien er als Akteur auf meiner inneren Bühne, sprach entschieden von diesem und jenem, erlebte Abenteuer mit mir, machte Reisen mit mir. Er war immer dabei, wenn ich den langen Fußweg von der Schule nach Hause ging, an den Teichen entlang, wo ältere Herren saßen, rauchten und angelten. Ja, diese Herren: ich hatte mit keinem von ihnen je ein Wort gesprochen, meinte aber genau zu wissen, dass sie alle etwas Großes und Unbekanntes vorhatten. Und dankbar wusste ich, dass es ein Privileg war, die Herren beobachten zu dürfen. Was sie genau vorhatten? Ich hätte es nicht sagen können.

Und ich teilte mit Rogier all meine Geheimnisse, wovon es damals eine ganze Menge gab. Er wusste von meiner fast unerträglichen Faszination für die wunderbare und unberührbare Nase von meiner Klassenkameradin Klara, von den tödlich charmanten Sommersprossen von Tilly, von meiner höllischen Angst vor dem Zahnarzt, ja, von der Tatsache, dass ich gerade meinen Onkel Herman sehr mochte, obwohl er in unserer Familie aus irgendeinem Grund glatt als daneben galt.

Um Tennisbälle ging es ganz und gar nicht mehr.

Rogier war bei mir angekommen. Oder anders gesagt: er war in meine geheime Welt avanciert. Er war, so könnte ich jetzt sagen, ein richtiger Freund geworden.

Mit dank an Sophie Pannitschka

28.05.2008

Das Kinderhaus. Ein Ereignis im Sandkasten

Der Sandkasten hat fünf Ecken. Im Sand sitzen Sophie und Lucia. Sie spielen. Von der Terrasse, etwa sieben Meter vom Sandkasten entfernt, schaue ich den beiden zu. Ich habe keine Ahnung davon, wohin das Spiel die beiden Mädchen führt. Ich kann aber feststellen, dass die Stimmung heiter & fröhlich & intensiv ist. Obwohl die beiden auf ihrem Po sitzen, scheint es mir, als ob sie tanzen. Denn die Hände und Worte flattern wie Vögel hin und her.

Direkt neben dem Sandkasten steht Malte mit einem Fahrrad. Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen. Mir ist nicht klar, ob er gerade kurz und völlig in sein eigenes Spiel wegträumt, oder ob er Zugang zu der gewichtigen Leichtigkeit der beide Prinzessinnen – denn das sind Sophie und Lucia ja im Grunde genommen rund um die Uhr – gefunden hat. Er steht ganz unbeweglich da, wie ein Mittelpunkt der in sich selber versunken ist.

Dann erscheint Johann. Er ist ein paar Jahre älter. Er schaut kurz auf das Ganze, wartet keinen Moment zu lang und springt in den Sandkasten. Er denkt offensichtlich, dass es im Sand eine klare und dringende Aufgabe gäbe. Er fängt damit an, mit seinen Händen Sand um sich herum zu sammeln und aufzutürmen. Die beiden Mädchen gucken jetzt still & aufmerksam & unsicher auf die Taten von Johann.

Ich sitze auf der Terrasse und warte. Auf was? Ich habe keine Ahnung. Irgendetwas hängt in der Luft. Malte bleibt weiterhin einfach stehen und träumt, Lucia und Sophie schauen auf die großen Taten von Johann, und Johann macht kräftig weiter. Um sich herum hat er mittlerweile einen Wall aus Sand aufgetürmt. Er sitzt da so ein bisschen wie ein um sich herum greifender Buddha, mit einem Fettrand von Sand rund um seine Taille.

Plötzlich sehe ich Thomas rechts von mir. Er ist noch ein paar Jahre älter. Auch er scheint die Szene im Blick zu haben. Wartet er auf etwas? Kann sein. Ich habe das Gefühl, dass es ein Warten ohne eine konkrete Erwartung ist. Spürt er genau wie ich, dass etwas im Kommen ist, ohne zu wissen, worum es genau geht? Oder wartet er einfach auf...

Boris!!!

Also, Boris erscheint. Boris ist groß & rund & vierzehn & lächelt gerne & macht Witze & bringt die Welt gerne in Schwung & beherrscht die soziale Mitte wie ein Meister. Irgendwie richtet Gott immer wieder sein Spotlight auf ihn. Boris sieht Johann im Sandkasten direkt & dazu die Möglichkeit etwas Lustiges zu machen. Und sofort verstehen wir alle worauf wir gewartet haben. Ich stehe auf, gehe zum Sandkasten und setzte mich auf eine Ecke.

Boris nimmt einen Plastikeimer, füllt ihn mit Sand und gießt den Inhalt von oben in das Shirt von Johann. „Du sollst dein Shirt unten zu halten“, beauftragt er Johann. Nach fünf Eimern ist Johann tatsächlich zu dem Buddha geworden, den wir vorher nur erahnt haben. Malte sagt: „Johann, du bist ja fett!“ Und Lucia: „Du bist ja schwanger!“ Und ich denke: Boris hat den Buddha nicht nur als Möglichkeit gesehen, sondern auch tatsächlich hervorgerufen.

Das Spiel dauert eine Weile. Heiterkeit & Leichtigkeit & fröhliche Prinzessinnen machen die Welt aus. Ich mache ganz & gar nichts, bin aber innerlich voll dabei und genieße die Buddha-Gestaltung. Einmal Buddha, zweimal Buddha, dreimal Buddha – immer wieder einen neuen Buddha, noch dicker, noch gewichtiger, noch lustiger. Und jedes Mal steht Johann plötzlich auf, lässt den Sand aus seinem Shirt hinausströmen und lässt den Buddha so verpuffen.

Buddha da, Buddha weg.

Drei kleine Kinder, ein größeres Kind, zwei Jugendliche und ein Erwachsener sind in das Spiel eingebunden. Wir sind an einem Ereignis beteiligt. Und plötzlich nimmt das Spiel auf einmal eine Wendung, erfährt eine Steigerung – es wird ernst. Wie das genau geschehen ist, kann ich nicht erzählen. Es geschah einfach.

Thomas und Boris haben auf einmal Spaten in der Hand, womit sie in der Mitte des Sandkastens einen hohen Sandberg auftürmen, so hoch, dass ich meine, dass es ja höher gar nicht mehr gehen kann. Das Höchste wird gesucht & verfolgt. Boris schuftet und schuftet – ironische Bemerkungen macht er gar nicht mehr. Es ist, als ob der Showmaster auf einmal zurückgetreten ist und Platz für einen Baumeister gemacht hat. „Wir bauen eine Burg!“ sagt er.

Und Thomas? Er kümmert sich um die Schönheit & Richtigkeit der Burg. Als der Berg wirklich nicht mehr höher aufgetürmt werden kann, legt er seine Hände auf den Sand und macht ihn glatt. Er sorgt dafür, dass die Rundungen elegant & gleichmäßig verlaufen. „Das muss man von oben nach unten machen“, sagt er professionell – und uns allen leuchtet ein, dass er, genau so wie Boris, ein Baumeister ist. Wo Boris aber etwas von Masse versteht, beschäftigt sich Thomas mit Feinheiten.

Rund um den Sandkasten stehen Malte (sein Fahrrad ist mittlerweile verschwunden, ja, wann und wohin?), Johann (seine Haare sind noch voll Sand), Sophie, Lucia und ich. Irgendwann ist aber auch Melina aufgetaucht – ich nehme an, dass sie, wie immer, irgendwo im Garten alleine mit etwas unterwegs war, und dann gemerkt hat, dass im Sandkasten ein Ereignis im Kommen war, das man nicht verpassen sollte... Sie steht auf dem Rand des Sandkastens und lehnt sich gegen meinen Bauch. Sie sagt nichts.

Und ich denke: heute Nachmittag, kurz nach fünf, ist die Welt komplett & komplett in Ordnung. Boris schuftet, Johann liebkost den Sand, Malte staunt, Sophie schaut nachdenklich auf das Geschehen und bewegt ihre Lippen, als ob sie jemandem – ja, wem? – auf der Stelle wie eine Reporterin davon erzählt, Licia berät die beiden Jugendlichen mit hilfreichen Vorschlägen und Melina lässt mich merken, dass sie meinen Bauch gar nicht merkt.

Und ich? Ich denke: als Erzieher brauche ich nichts zu tun. Ich brauche nur für mich dabei zu sein.

23.05.2008

Das kleine Kind. Über das Selbst und Schicksalsflechtwerken

Wie können Tagesstätten-für-Kinder-unter-drei zu Orten einer Kultur des Herzens werden? In meinem letzen Blogbeitrag über das kleine Kind habe ich versucht, etwas über die physischen Räumlichkeiten einer Kindertagesstätte zu sagen (siehe 9.5.2008). Heute möchte ich versuchen, den sozialen Raum zu beleuchten.

Das kleine Kind ist eingebettet in eine soziale und familiäre Umgebung. Es gibt eine Mutter, einen Vater (oder nicht), Geschwister, die Großeltern, Onkel, Tanten und Cousinen – die Blutsverwandten also; und es gibt Paten, Bekannte, Freunde und Nachbarn – die sozialen Verwandten.

Oft wird eine Kindertagesstätte als Ersatz für die Familie gehalten. Mit dieser Vorstellung wird das Kind „abgegeben“, was impliziert, dass das Kind eigentlich zu Hause bleiben sollte; weil die Mutter aber arbeiten möchte, werden professionelle Tagesmütter und Erzieherinnen gesucht und bezahlt um das Kind zu betreuen. Diese Art und Weise über Kindertagesstätten zu denken, bleibt meistens unbewusst. Sie kreiert aber spontan eine Kluft zwischen der unmittelbaren Lebensumgebung des Kindes und dem Ort wo es „betreut“ wird.

Und weil der Staat sich in Bezug auf die Einrichtung von Kindertagesstätten stark einbringt und einmischt, entstehen im Sinne von Michel Foucault gesellschaftliche Institutionen, die nicht nur auf die Bedürfnisse der Kinder schauen, sondern auch die Ordnung der Gesellschaft bewahren. Kindertagesstätten stehen damit zwangsläufig in der massiven europäischen Tradition von Schulen, Kliniken und Gefängnissen. Das hierarchische Überwachungssystem dieser Tradition wird unbewusst übernommen.

Die Erziehung & Begleitung & Betreuung von Kindern ist aber prinzipiell eine private Angelegenheit. Die Eltern und nur die Eltern haben an dieser Stelle das Sagen. Ich meine, das dieses Sagen durch alle Beteiligten – Staat, Eltern, Verwandte, Bekannte – nicht ernst ergriffen wird. Gerade die Debatte über das kleine Kind macht deutlich, das etwas grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen ist. Sobald die Eltern meinen, dass ihr Kind tagsüber nicht mehr zu Hause bleiben soll, tritt der Staat kräftig in Erscheinung, so wie das vorher schon mit Schulen und Kindergärten der Fall war. Das professionelle und institutionelle System wird automatisch nach vorne geschoben, bis an die Schwelle der Geburt.

Die Schwelle der Geburt ist aber eine richtige Bewusstseinswand. Je näher man rückwärts an die Geburt heran kommt, umso schwieriger es wird, das System der Steuerung & Rationalisierung aufrecht zu erhalten. In dem kleinen Kind wirkt das reine, noch nicht subjektivierte Selbst – das heißt, dass kleine Kind ist un(an)greifbar. In unserer Gesellschaft fällt der Unterschied zwischen Subjekt und Selbst haargenau mit dem Unterschied zwischen öffentlich und privat zusammen. Für die öffentliche Gesellschaft gibt es kein Selbst, weil so etwas rechtlich nicht zu definieren ist; wenn es um das Selbst geht, ist der Staat per definitionem ungeschickt.

Wenn man sich der Schwelle der Geburt annähert – und ich meine, dass gerade das zur Zeit in der Gesellschaft geschieht – hört man entweder auf zu denken, oder man steigert sein Denken ins Spirituelle. Die Frage, die an der Schwelle der Geburt gilt, lautet: wie wird man dem Selbst des Kindes gerecht? Oder in der Sprache des Alltags: wie kann man das kleine Kind in seiner Offenheit & Unvorsehbarkeit & absolutistischen Lernfähigkeit einerseits schützen, und anderseits aber Freiräume entstehen lassen?

Mir scheint ein wichtiger Schritt in dieser Richtung zu sein, dass die Kindertagesstätten gerade nicht als Ersatz verstanden werden. Die Kindertagesstätten für Kinder unter drei könnten als Dynamisierung & Erweiterung der menschlichen Nähe aufgefasst werden. Ich meine, dass mit dieser Sichtweise zwei Aspekte verbunden sind.

Erstens: Das Schicksalsflechtwerk um das kleine Kind herum wird aktiviert & dynamisiert. Das heißt, dass die Eltern & Nachbarn & Freunde & Großeltern & Onkel & Tanten sich kräftig ehrenamtlich einbringen. Der kranke Onkel zum Beispiel, der gerne im Garten arbeitet, kommt zweimal in der Woche und legt Pflanzenbeete an. Und die arbeitslose Tante kocht Nudeln, macht einen Spaziergang mit den Kindern oder malt in der Ecke ein Bild.

Zweitens: Neben der (so genannten) pädagogischen Arbeit haben die professionellen Mitarbeiter (Erzieher, Pädagogen, Tagesmütter) eine soziale Aufgabe. Sie schauen auf das ganze Schicksalsflechtwerk der Kinder, laden beteiligte Menschen ein aktiv zu werden, organisieren und koordinieren Aktivitäten, planen und leiten Treffen, pflegen Beziehungen, und so weiter. Die Profis küssen die Prinzen und Prinzessinnen wach.

Es wäre eine Illusion zu denken, dass diese Vorgehensweise leichter (und billiger) wäre als die übliche systemorientierte. Das ist klar nicht der Fall. Die Eltern die sich auf diese Art und Weise als freie „Bürger“ zusammen tun und mit Hilfe der Profis einen Weg gehen wollen, kriegen mit intensiven Fragen zu tun. Weil gerade das Geheimnis des Selbst im Mittelpunkt steht, funktionieren Rezepte nicht. Die Tatsachen des Lebens müssen jeden Tag neu entdeckt & die Beziehungen zwischen den Beteiligten jedes Mal neu erlebt und verstanden werden.

So aber wächst ein Selbst nach dem anderen in die Welt hinein.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

17.05.2008

Was Samuel heute Sammy sagt. Über die Welle der Würdigkeit

"Lieber Sammy, ja, du bist noch immer da. Ich sehe dich im Wohnzimmer unserer Eltern stehen – erstarrt & ratlos. Du schaust von rechts nach links, die Ereignisse laufen aber von links nach rechts. Du bist im Gegenstrom der Zeit gefangen, oder besser gesagt: im Stau zwischen Zukunft und Vergangenheit. Nein, ich wüsste noch immer nicht, wie dich zu befreien. Vielleicht fange ich aber an, dich zu erreichen? Ja, du hörst mich.“

„Vielleicht ist es so, dass du immer elf geblieben bist? Oder soll ich mir die Frage stellen: ist Sammy immer elf geblieben? Wer soll eine Antwort geben? Ich oder du? Oder die Person in der Tarnkappe?“

„Sammy, du bist eine Welle. Mir scheint es so zu sein, dass du wie eine Welle in mir immer im Kommen bist, genauso wie Freundschaft & Gemeinschaft & Wahrheit immer im Kommen sind. Einerseits bist du erstarrt und fixiert, andererseits aber trittst du in Erscheinung als eine Bewegung am Horizont. Und wenn ich Angst habe, meine ich: Sammy ist ein Tsunami – er wird mich bald erschüttern!“

„Ich sollte auf dich schauen, wie auf etwas was im Kommen ist. Deine kleine Gestalt im Wohnzimmer unserer Eltern ist höchstens ein Ankerpunkt, ein Signal in der bekannten Welt von etwas Unbekanntem, so wie eine singende Amsel am Abend viel mehr ist, als ein schwarzer Punkt auf einem Schornstein. Das Singen der Amsel deutet auf etwas, das aus der Nacht im Kommen ist. Hören wir nicht die Träume & Sehnsüchte & Vorsätze der Nacht?“

„Was hast du mit mir vor? Oder müsste ich sagen: was habe ich mit dir vor? Was ist die richtige Frage? Heute Morgen beim Aufwachen warst du auf einmal wieder da, wie eine Entzündung in meinem Bauch – eine kleine schmerzende Stelle zwischen Leber & Nieren & Galle. Es tat richtig weh, und ich dachte: Sammy ist wieder da. Und ich dachte wegen des Schmerzes: was ist mit Sammy los?“

„Ja, ich denke wegen des Schmerzes oft an Dich. So ist es mit dem Schmerz: in & durch & über den Schmerz können wir uns selber immer wieder ein bisschen besser kennen lernen. Aber nur wenn wir es wollen.“

„Beim Aufwachen heute Morgen wusste ich auf einmal wieder, dass du damals verliebt warst. Es gab ja Til, die kleine & leichte & rote Til-mit-Sommersprossen, die am Nachmittag nach der Schule immer wieder auf dich gewartet hat. Sie war oft verärgert, weil sie spürte, dass dir nicht klar war, dass sie auf dich wartete. Aber wie hättest du wissen können, dass auf dich gewartet wurde? Du wusstest doch nicht einmal, dass du existiertest?“

„Ist es letztendlich nicht Til gewesen, die dich zu dir gebracht hat? Du wirst dich bestimmt noch erinnern, was an diesem warmen Nachmittag im Mai geschah, als sie wieder auf dich gewartet hatte, und sagte: Komm Sammy, jetzt machen wir es... Und du hattest keine Ahnung wovon sie sprach, sagtest aber: Klar, jetzt machen wir es... Til hat deine Hand genommen und dich in den Park geleitet.“

„Komm, sagte sie immer wieder... Und sie hat dich im Park unter einen riesigen Rhododendron geführt. Erst schaute sie dir in die Augen und du hast gemerkt, dass ihr Blick voll & warm & weckend war. Irgendetwas Wichtiges und Lebendiges, so hast du gemerkt, gab es in diesem Blick. Und dann hat sie langsam deine beiden Hände genommen und auf ihre Brüste – die waren ja im Kommen! – gelegt. Und sie flüsterte: Jemand soll doch merken, dass es meine Brüste gibt! Und: Noch weiß niemand davon!“

„Und du hast die Brüste gespürt. Sie waren klein & glatt & fest. Und sie waren ein Geheimnis. Auch hast du gespürt, dass die Brüste Til gehören, und dass nur sie – nur ihre volle & warme & weckende Anwesenheit – dir die Brüste zeigen konnten. Ohne Til gibt es die Brüste nicht, so wie Til meinte, dass es sie ohne deine Berührung nicht gibt. Ist es nicht so, Sammy, dass du ihre Brüste noch immer im Gedächtnis deiner Hände spüren kannst?“

"Seitdem bist du heilig verliebt, bis zum heutigen Tag. Ja, um dich im Wohnzimmer deiner Eltern zu sehen und zu verstehen, müssen wir auch feststellen, dass du heilig verliebt bist. Du warst und bist noch immer erstart & verliebt. Und heute, Sammy, fallen mir ein paar Worte ein, die über dir und Til schweben. Die Worte sind: Welle der Würdigkeit."





09.05.2008

Das kleine Kind. Über Räume, Träume und Gegenstände.

In meinem Blog am 12.01.2008 habe ich etwas darüber geschrieben, dass in Kindergärten drei „Räume“ zu unterscheiden sind: ein physischer Raum, ein Raum in der Zeit und ein sozialer Raum.

Ich werde in den kommenden Wochen in meinen Blogbeiträgen versuchen die Frage anzugehen, wie die drei Räume für das Kind unter drei gestaltet werden könnten. Mir scheint diese Frage deswegen dringend zu sein, weil ich den Eindruck habe, dass das Denken über Tagesstätten für Kinder unter drei, stark von den Vorstellungen ausgeht, die in Bezug auf Kindergärten leben. Eine Kindertagesstätte scheint wie ein Kindergarten zu sein, der nur in der Zeit nach vorne verschoben ist.

Was aber für Kinder ab drei richtig ist, gilt nicht unbedingt für Kinder unter drei. Zwischen einem Kind von fünf und einem Kind von zwei Jahren liegen ja Welten. Das Denken über die Gestaltung der Tagesstätten für Kinder bis drei müsste beim Kind von null bis drei beginnen.

Ich fange mit dem ersten Raum an, dem physischen. Dabei lasse ich mich durch Henning Köhler inspirieren. In seinem Integrationskurs – das in Zusammenarbeit mit dem Kölner Seminar für Waldorfpädagogik stattfindet – hat er letztes Wochenende über eine „spirituelle Entwicklungspsychologie“ gesprochen. Ausführlich hat er die "Grundbedürfnisse" beschrieben, die in den ersten vier Lebensjahren des Kindes auf dem Vordergrund stehen. Mir wurde deutlich, dass seine Ausführungen interessante Konsequenzen für die Gestaltung der physischen Räume haben.

Ein kleines Kind ist völlig & völlig & völlig orientiert auf das sich Hineinleben in die Welt der Gegenständlichkeit. Seinem Wesen nach kennt das Kind die Wirklichkeit der Gegenstände gerade ganz und gar nicht. Das Kind ist von Gegenständlichkeit weit entfernt. Es „befindet“ sich träumend in einem undifferenzierten Zustand-des-Seins, in dem zum Beispiel Raum und Zeit keine Rolle spielen. Die inneren und äußeren „Bewegungen“ des kleinen Kindes sind völlig frei, ungezielt und ohne eine festgelegte Bedeutung.

Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang aufschlussreich über Träume. Er meint, dass das kleine Kind „am Anfang seine Träume in die Dinge, seine Gedanken in die Anderen verlegt und mit diesen gleichsam einen gemeinsamen Lebensblock bildet, innerhalb dessen die verschiedenen Perspektiven sich noch nicht unterscheiden.“ (Und er meint dazu, dass diesbezüglich die Philosophie sich „dem Problem der Genese ihres eigenes Sinnes“ stellen muss.)1

Man kann das an kleinen Kindern beobachten. Wenn ein Kind auf einem Parkplatz aus dem Auto gehoben und auf seine wunderbar wackelig-stabilen Beine gestellt wird, befindet es sich nicht auf einem Parkplatz, sondern einfach in einem Raum. Es steht eine Weile in seinem Stehen, so wie ein Baum sich in seinem Stehen befindet, schaut herum ohne richtig zu schauen, und fängt dann „auf einmal“ an zu gehen. Das heißt, es bewegt seine Beine in eine unbestimmte Richtung – und „befindet“ sich einfach in seinem Gehen. Dann hört es „auf einmal“ auf zu gehen, plumpst charmant-elegant auf seinen Po, spürt, dass seine Hand „etwas“ berührt und bringt dieses „etwas“ selbstverständlich und wie in einem Traum an seinen Mund – ja, einen runden Stein genauso wie eine saftige Erdbeere.

(Der Vater ist aber schon dabei ihm den Stein abzunehmen, weil Steine auf Parkplätzen einen schlechten Ruf haben – es heißt, sie wären meistens nicht sauber. Das berühmte Reinheitsgebot in Deutschland hat sich mittlerweile über alle Aspekte des Lebens ausgebreitet.)

Was heißt das für die Einrichtung einer Tagesstätte für Kinder unter drei? Es heißt meines Erachtens erstens, dass es da Steine, Äste, Holzblöcke, Kastanien, Kieferzapfen, Wasser, Sand, Töpfe, ja, alte und robuste Schreibmaschinen, Lenkräder und Gießkannen aus Blech geben sollte. Und vieles anderes mehr. Es heißt zweitens, dass die Gegenstände sich frei, aber nicht unorganisiert im Raum befinden. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die Kinder einerseits einen freien Zugang zu den Gegenständen haben, sich aber anderseits nicht in einem sinnlosen Chaos befinden. Vielleicht sind einfache, niedrige Regale hilfreich – möglich wäre aber auch eine Art Blume mit „Blüten“ zu gestalten: in eine Blüte die Steine, in eine andere die Äste, in noch eine andere Wasser, usw. In der Mitte könnte ein Kreis sein, in dem die Kinder sich frei bewegen können.

Etwas Drittes kommt aber dazu. Die Erwachsenen sind gerade NICHT da um die Kinder zu „betreuen“ oder eben zu „bewachen“. Die Erwachsenen sind für sich selber da, das heißt, sie machen ihr eigenes Ding. Ein Mann näht gerade eine Hose oder übt Gitarre, eine Frau schreibt einen Brief oder malt ein Bild oder drückt sich die Daumen. Die Erwachsenen sind tätig. Und die Kinder erleben, dass auch für die Erwachsenen das Leben und die Welt eine sinnvolle & spannende & höchst interessante Angelegenheit ist, genau so wie die vorhandenen Steine & Äste & Schreibmaschinen sinnvoll & spannend & interessant sind.

Ich behaupte, dass auf diese natürliche Art und Weise aus den Kindern intelligente & sorgsame & leidenschaftliche & kreative Naturwissenschaftler, Künstler, Unternehmer, Krankenschwestern, Gärtner und Journalisten werden. Nicht die Erwachsenen und auch nicht die implizit definierten Räumlichkeiten, sondern das Leben & die tausend Möglichkeiten werden zeigen, wozu die Kinder gemeint sind. Die Einrichtung des Raumes müsste erst mal auf dieser Ebene gerade keine Aussage machen, das heißt, dass im Prinzip alles Mögliche vorhanden ist.

Die Kinder werden in & aus & mit der Vielfalt sich selber gestalten.



1 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München, 1986, Seite 28.

05.05.2008

Die Fragestellung der Kleinkindbetreuung ist sexy. Antwort an Michael Eggert

In seinem lesenswerten, oft sehr interessanten und ideologiefreien Blog (www.egoisten.de) reagiert Michael Eggert auf meine Behauptung, dass der gesellschaftliche Wunsch nach Kinderbetreuung in einer Sehnsucht nach anderen Lebensverhältnissen und anderen Beziehungen liegt. Eggert: „Ich denke, die primären Gründe sind schlicht das sinkende Realeinkommen von Familien, die ständig steigenden Anforderungen in den Berufen, aber auch die Gefahren des Abgleitens in den Berufen, bedingt auch durch ständige Umwälzungen darin. Die veränderten Lebenskonzepte und Rollen von Mann und Frau kommen nach meiner Beobachtung erst in zweiter Reihe.“

Michael Eggert macht also die Sache, wie das üblicherweise gemacht wird, an äußerlichen Umständen fest. Nun habe ich aber nicht gemeint zu sagen, dass diese Umstände keine Rolle spielen – sondern mein Anliegen ist es, vom „Kulturpessimismus“ (Eggert) weg zu kommen, der zwangsläufig entsteht, wenn Sehnsüchte ausgeklammert werden und das Handeln von Menschen als ein reines Reagieren auf materielle Parameter verstanden wird. Das heutige wissenschaftliche und politische Denken ist bis in alle Ecken durch diese Ansicht geprägt.

Menschen wollen immer etwas von-sich-aus, auch und vor allem wenn dieses Wollen gerade (noch) nicht in „veränderten Lebenskonzepten“ klar vor Augen steht. Es geht, so meine ich, gerade nicht um definierte Konzepte, sondern um Sehnsüchte. Eine Sehnsucht ist kein Konzept. Ein Konzept ist als solches mehr oder weniger bekannt und muss natürlich noch „umgesetzt“ werden; eine Sehnsucht ist aber auch ein Phänomen, dass mit Jacques Derrida immer wieder und immer wieder nur „im Kommen“ ist, so wie zum Beispiel auch die Freundschaft immer wieder nur „im Kommen“ ist.

Ich behaupte, dass die Fragestellung der Kinderbetreuung SEXY ist. Den Wunsch nach Kinderbetreuung an äußeren Umständen festzumachen, macht die Sache gerade dürr und trocken. Für etwas Saftiges wie Sehnsüchte & Willensrichtungen & Umwälzungen ist in dieser Sichtweise kein Platz. Und so ist es: die Fragestellung der Kleinkindbetreuung muss unter allen Umständen langweilig bleiben.

Michael Eggert nennt meine Sichtweise „pragmatisch“. Nun hatte das griechische „Pragma“ ursprünglich zwei Bedeutungen: Sache und Handlung. Wenn Eggert die zweite Bedeutung im Auge hat, bin ich einverstanden. Mich interessiert brennend, warum Menschen handeln wie sie handeln. Der Gedanke, dass Menschen handeln wie sie handeln, weil sie bestimmte Konzepte im Kopf haben, scheint mir den Ungeist-per-se zu repräsentieren. Was Menschen denken ist in der Regel weniger aufschlussreich, als was Menschen tun.

So etwas wie „reine“ Umstände gibt es im gesellschaftlichen Sinne nicht. In dem, was wir reine Umstände nennen (Karl Marx hat ja das ganze Leben auf reine Umstände reduziert – ich behaupte: in Europa wird zur Zeit marxistisch gedacht), lebt gewollter Widerstand und verborgene Innerlichkeit. Wir akzeptieren zum Beispiel kollektiv, dass jede Person das Recht oder eben die Pflicht hat, ihr Leben auf allen Ebenen in die Hand zu nehmen: kulturell, sozial-politisch und wirtschaftlich. Das Selbstbild – oder vielleicht besser gesagt: die Vorstellung der eigenen Biographie – kriegt dadurch eine völlig andere Bedeutung.

Die Schattenseite ist klar und heißt: jeder für sich und Gott gegen alle (Werner Herzog). Nicht nur die Götter ziehen sich zurück, sondern, auf der wirtschaftlichen Ebene auch der Staat. Die Lichtseite gibt es aber auch, und sie heißt: jeder Mensch ist der Künstler & der Unternehmer seiner Biographie. Ich meine, dass die gesellschaftlichen Veränderungen nur zu verstehen sind, wenn die Sehnsucht nach biographischer Identität bei Müttern & Vätern & Kindern & Freunden & Erziehern als verborgener Drahtzieher anerkannt wird.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

Text von Michael Eggert: http://www.egoisten.de/files/kleinkinder.html


20.04.2008

Das Schweben über dem schwarzen Loch. Oder: der Fakir-in-mir

Jemand hat mir letzte Woche per Email das Folgende geschrieben: „Ich habe ein Loch in mir - ich nenne es das Einsamkeitsloch. Meistens kann ich in das Loch hineinsehen. Ich stehe am Rand des Loches, nein besser: ich schwebe über dem Loch und schaue tief hinein. Aber manchmal wächst das Loch. Es frisst sich dann weiter in mich hinein und wird größer und größer. Und es fängt an zu leben, es wird aktiv. Das heißt, es saugt alles zu sich heran und zieht es in sich hinein. Das Loch wird lebendig, wenn Dinge, die außerhalb von mir passieren oder auf mich zukommen und mich beschäftigen, sehr beschäftigen. Dann gibt es keinen Halt mehr und ich werde mit ins tiefe schwarze Loch gezogen. Das ist ein schreckliches Gefühl.“

Diese Sätze haben mich aus zwei Gründen berührt. Der erste Grund liegt in der Tatsache, dass ich aus Erfahrung weiß, wovon da gesprochen wird. Das fressende „Einsamkeitsloch“ hat etwa drei Jahre in meinem Leben – ich war um die vierzig – kräftig gearbeitet. Eigentlich gab es in diesen Jahren nur dieses Loch; alles andere war zweitrangig, unwesentlich und „circumstantial“. Die ganze Welt sah schwarz & schwer & abgründig aus. Der Psychiater, zu dem ich damals ging, sprach von einer „Depression“.

Im Nachhinein würde ich sagen, dass die Wirkung des fressenden Einsamkeitslochs richtig etwas in mir und mit mir gemacht hat. Nach der Erfahrung des Lochs oder des Abgrunds oder des Nichts ist einerseits alles so geblieben wie es war, andererseits ist alles komplett anders geworden. Geblieben sind meine Fähigkeiten & Vorlieben & Gewohnheiten – anders geworden sind meine Erwartungen & Hoffnungen & Zielsetzungen. Um es in einem Satz zu sagen: der Grund des Lebens hat sich als unergründlich erwiesen.

Ich meine, dass die Erfahrung des Abgrunds dazu geführt hat, dass ich gelernt habe zu „schweben“. In gewissem Sinne bin ich innerlich gesprochen ein Fakir geworden. Die entscheidende Erfahrung dabei war, dass ich nach drei Jahren, in denen alles schwarz & schwer & abgründig war, auf einmal festgestellt habe: das Loch frisst ja alles & alles & alles, nur mein Selbst bleibt unangetastet. Mein Selbst oder mein Ich war als teilnehmender Beobachter immer dabei und wurde in dem Akt des Beobachtens unbemerkt immer stärker und stärker. Erst als mir diese Tatsache blitzartig klar wurde – man könnte an dieser Stelle von einer Erleuchtung sprechen – war das Loch keine Bedrohung mehr.

Und so ist es: das Loch ist noch immer da, saugt noch immer, kann noch immer unangenehm sein – erzeugt aber kaum noch Angst sondern bringt eher Freude. Und Erkenntnisse. Die Erkenntnisse beziehen sich auf die grundlegenden & bedeutungsvollen Aspekte des Lebens, weil das Schweben des Selbst’ auf eine unmittelbare Art und Weise zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen unterscheidet. Das, was den Fakir-in-mir versucht herunter zu ziehen, ist ja unwesentlich; und das, was das Schweben-des-Selbst’ ermöglicht, ist ja wesentlich.

Der zweite Grund hat mit Sprache zu tun. Irgendwie ist es daneben hier von „Loch“ zu sprechen. Auf der seelischen Ebene gibt es keine Löcher, da gibt es nur Gefühle. Wir verstehen „Loch“ an dieser Stelle als eine Metapher, ein Bild, eine helfende Vorstellung – ein reales Loch gibt es aber in der Seele nicht. Trotzdem scheint mir das Wort Loch genau stimmig zu sein, so wie Abgrund und Nichts auch. Wenn ich auf meine Erfahrungen schaue, die damaligen und die heutigen, komme ich nicht um das Empfinden herum, dass Löcher, seelisch-geistig gesprochen, tatsächlich existieren.

Was aber ist ein Loch? Die Geschichte des Wortes bringt Bewegung in unsere gefestigten Vorstellungen. Interessant ist, dass das Wort etymologisch eine verdoppelte und zweiseitige Bedeutung hat: es heißt „Verschluss“ und „Öffnung“. In dem englischen Wort „lock“ hören wir das noch; ein Loch-Lock schließt etwas ab, ist aber gleichzeitig eine Öffnung irgendwo hin. In Löcher passen Schlüssel.

Überraschend ist weiter, dass die indogermanische Wurzel „leug“ deutlich macht, dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes auch mit „winden“ und „drehen“ zu tun hat. „Lauch“ (das Gemüse) windet, dreht und kräuselt sich nach unten hin, verschließt und öffnet sich. Damit ist die statische Vorstellung des Loches auf einmal dynamisch geworden. Ein Loch ist kein Zustand und kein Gegenstand, sondern ein Vorgang oder ein Geschehen. Das Urbild des Wortes nimmt gerade die statische Bedrohung, die von dem modernen Begriff ausgeht, weg.

Das alles heißt nicht, dass die Erfahrung des schwarzen Lochs auf einmal weniger dramatisch wäre. Nein, die Wahrheit bleibt nach wie vor so: um zu seinem Selbst zu gelangen, muss man sterben; und sterben heißt auch, dass man nichts mehr vom Aufstehen weiß. Um aber zu seinem Selbst zu gelangen, das heißt schweben zu lernen, kommt man nicht an dem Punkt vorbei, wo man sich wie eine Stange Lauch „umdreht“ und zum innerlichen Beobachter wird. Erst wenn dieser Beobachter aktiv tätig wird, das heißt in Kontinuität aufmerksam wird & aus dem Nichts Vorsätze hervorzaubert & dementsprechende Entscheidungen trifft, ist man frei von den Bedrohungen des Abgrunds.


12.04.2008

Für das kleine Kind. Orte der Freiheit

Was ansteht, ist also die Frage: wie können kleine und sogar sehr kleine Kinder tagsüber außerhalb die Familie versorgt & begleitet werden? Wie könnte ein anthroposophischer Ansatz diesbezüglich aussehen?

Erster Gedanke. Die Mütter und Väter können nach wie vor die Verantwortung für die Gestaltung selbst in die Hand nehmen. In einem Stadtviertel von Hamburg oder Freiburg oder Siegen könnten sich Mütter & Väter & Großmütter & Großväter & Onkel & Tanten & Freunde dieser Aufgabe gemeinsam stellen. Im Grunde genommen wird dazu nichts anderes gebraucht als Räumlichkeiten & Zeitlichkeiten & Menschen. Ich würde die sozialen Knotenpunkte, die auf diese Art und Weise entstehen, als Bausteine einer Kultur des Herzens verstehen.

Solche freien Initiativen öffnen sich einerseits für alles Mögliche, grenzen sich aber gleichzeitig klar ab, vor allem vom Staat. Aus meiner Sicht hat der Staat ganz und gar nichts mit der Aufgabe zu tun, dem Eintritt des Kindes in das Leben und die Gesellschaft eine Form zu geben. Der Staat hat diesbezüglich die Aufgabe, die Liebe zur freien Tat zu schützen. Gerechtigkeit – was ja das Hauptanliegen des Staates sein müsste – heißt an dieser Stelle: die Gleichheit zur Freiheit zu gewährleisten.

Zweiter Gedanke. Freie Initiativen brauchen keine vorgefertigten Konzepte. Die immer wieder und überall auftauchende Vorstellung, dass es eine einheitliche Methode geben müsse, die beschreibt, wie Waldorfkindertagesstätten auszusehen haben, müsste demontiert und aufgeräumt werden. Ein anthroposophischer Ansatz liegt in dem Leitprinzip der Begegnung. Die Mütter & Väter & Großmütter & Großväter & Onkel & Tanten & Freunde können sich gemeinsam auf einen Weg begeben und erstens versuchen, die Ahnungen & Sehnsüchte in klare Begriffe zu fassen, und zweitens sich darum bemühen, auf Grund der gewonnenen Einsichten Vorsätze zu formulieren und Entscheidungen zu treffen.

Das „Konzept“ in Hamburg wird sich aus der Begegnung der Hamburger heraus kristallisieren und deswegen einen anderen Ton haben, als die Ansätze in Würzburg und Duisburg. Die lokalen Initiativen werden eigensinnig & stolz & strahlend auf eine eigene Art und Weise auf die zwei Pfeiler der anthroposophischen Pädagogik bauen: das Schicksal der Beteiligten und das anthroposophische Menschenbild. Das erhabene Spiel zwischen (meistens noch) verborgenen Willensrichtungen und geistigen Erkenntnissen wird das Herz der Sache ausmachen.

Dritter Gedanke. Aus dem Vorangehenden geht hervor, das die Initiativnehmer sich – wie leider in westlichen Ländern üblich – gerade nicht von Anfang an auf Satzungen & Gesetze & Rahmenbedingungen stürzen. Die Welt der Gesetze soll erst dann ins Auge gefasst werden, wenn eine anfängliche Klarheit in Bezug auf das eigene Wollen erlangt ist. Man könnte es auch so formulieren: erst wenn eine Schicksalsgemeinschaft sich auch wirklich als „Gemeinschaft“ erfährt (das heißt: sich über eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Zukunft definiert), kann die Begegnung mit der gewordenen Vergangenheitswelt-der-Gesetze angegangen werden.

Ein naiver Sprung in die Maschinerie der Gesetze zerfetzt Sehnsüchte & Ahnungen & Ideale. Die erste Arbeit liegt aus meiner Sicht eher auf einer „meditativen“ Ebene. Damit ist gemeint, dass die innere Aufmerksamkeit aktiviert und auf „inhaltliche“ Fragestellungen-des-alltäglichen
-und-allnächtlichen-Lebens gerichtet wird. Die Zusammenkünfte der Initiativnehmer sehen erst mal wie langsame & schnelle & stille & bewegte Diskurse aus – im Sinne von Emmanuel Lévinas: heilige Räume der Begegnung.

Diese erste Phase ist nicht als Vorbereitung gemeint. Die erste Phase ist die Sache selbst, so wie die Sache in der ersten Phase nun mal aussieht. In einer zweiten Phase wird ja die Sache wieder anders aussehen – es bleibt aber die gleiche Sache. Und die Sache ist: dem kleinen Kind einen herzlichen & würdigen Empfang zu bereiten.

Vierter Gedanke. Es geht um freie „Stiftungen“ im sozialen Leben. An diesen Stiftungen oder Knotenpunkten oder Orten-der-Freiheit sind Menschen & Menschen & Menschen beteiligt. Die Frage, ob diese Menschen & Menschen & Menschen sich Anthroposophen oder Kalvinisten oder Buddhisten oder „Bin-ja-gar-nichts“ nennen, ist nicht relevant. Entscheidend aber ist die Frage, ob zumindest Raum für die Vermutung gelassen wird, dass alle beteiligten Menschen, vor allem die Kinder, dazu berufen sind, im Leben eine eigene „geistige“ Mission zu finden und zu gestalten.

Fünfter Gedanke. Es scheint mir sinvoll, diesbezüglich so etwas wie eine "Stiftungsberatung" ins Leben zu rufen. So wie Virgil seinen Schützling Dante auf seiner Reise durch die Unterwelt bis in den Himmel begleitet, könnten erfahrene SupervisorInnen & Entdeckungsreisende & MeisterInnen die unerfahrenen Initiativnehmer auf ihren - zweifellos abenteuerlichen - Wegen begleiten. Der Gedanke, dass alles aus der Begegnung der Beteiligten entstehen muss, heißt ja nicht, dass man keine Hilfe akzeptieren darf. Vielleicht könnten im Rahmen der internationalen Kindergarten Vereinigung - die eigentlich heißen müsste: Vereinigung für Kindheit - Stiftungsberater geschult werden?

07.04.2008

Nochmals Waldorfkindergärten. Wie geht es weiter?

In der öffentlichen Gesellschaft lebt der dringende Wunsch, die institutionalisierte Erziehung des Kindes in der Zeit nach vorne zu schieben, so, wie das in den neuen Bundesländern schon lange der Fall ist. Kinder müssen möglichst schnell, eben schon mit vier Monaten, in eine professionelle Einrichtung (Kindertagesstätte) aufgenommen & begleitet & „erzogen“ werden. Klar ist, dass die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten sich mit dieser Entwicklung schwer tut. Die Gemeinschaft ist an dieser Stelle gelähmt.

Der Grund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung liegt meines Erachtens nicht darin, dass Mütter unbedingt arbeiten wollen - oder müssen. Ich glaube, der wirkliche Grund liegt darin, dass viele Menschen heute eine Sehnsucht nach anderen Lebensverhältnissen – und damit andere Beziehungen – haben. Sie ahnen, dass gerade auf der sozialen Ebene die Verhältnisse festgefahren sind. Das klassische Bild einer „geschlossenen“ Familie mit einer Mutter, einem Vater und zwei Kindern funktioniert nicht mehr, weil es generell gesprochen nicht mehr gewollt wird. (Gleichzeitig ist man sich darüber nicht im Klaren – das ist aber ein anderes Thema. Das Wollen geht dem Verstehen immer voraus.)

Der Wunsch, die institutionalisierte Erziehung in der Zeit nach vorne zu schieben, hängt also mit grundlegenden Änderungen in Bezug auf die Frage, wie die Menschen heute das Leben „ahnen“, oder anders gesagt, was sie halbbewusst träumen zusammen. Dass an dieser Stelle vom Staat etwas verlangt wird – so verstehen zumindest viele Politiker die Lage – scheint mir ein tragischer Fehler zu sein, der sichtbar macht, dass das sozialistische Denken in Deutschland alles andere als überwunden ist. Wir brauchen uns aber nicht vom Staat verführen zu lassen. Wir können tun, was wir tun WOLLEN.

Wenn wir diesbezüglich nicht tun was wir wollen, kriegen wir in der Zukunft richtig ein Problem. Rein praktisch sieht das Problem so aus, dass die Eltern den Weg zu den Waldorfkindergärten einfach nicht mehr finden werden, weil die Entscheidung für die „Richtung“ schon vorher gefallen ist. Wenn es nicht genügend schöne & interessante & waldorfeigene Angebote für sehr kleine Kinder gibt, werden die Waldorfkindergärten und die Waldorfschulen leer bleiben.

Das ist die praktische Seite. Es gibt aber auch eine moralische Seite. Und die liegt aus meiner Sicht gerade nicht in der Frage, ob es „gut“ für die ganz kleinen Kinder ist, sie in eine professionelle Einrichtung zu schicken. Natürlich soll diese Frage gestellt werden – letztendlich werden aber nur die Eltern diesbezüglich eine Entscheidung treffen. Für die Menschen, die sich mit dem anthroposophische Erziehungsimpuls verbunden wissen, steht aber eine andere Frage an, nämlich: sind wir freudig bereit in das Schicksal der Kinder einzusteigen? Oder vielleicht besser: wollen wir unsere Handlungen durch die oben erwähnten Ahnungen inspirieren lassen? Und dazu kommt dann direkt die Frage: sind wir bereit uns auf ein Abenteuer einzulassen?

Wie sieht eine anthroposophisch-inspirierte Einrichtung für das Kleinkind aus? Über diese Frage werde ich das nächste Mal etwas schreiben. Für heute noch dies: Mir scheint es ein Fehler zu sein, diese Frage aus der Perspektive eines Kindergartens anzugehen. Das würde heißen, dass wir versuchen, von der Vergangenheit in die Zukunft hinein zu denken. Die Fortsetzung-nach-vorne ist keine Fortsetzung der Waldorferziehung nach vorne. Die Frage des Kleinkindes ist eine Frage des Kleinkindes-für-sich, eine Frage also, die aus dem Nichts beantwortet werden muss.


Mit Dank an Sophie Pannitschka

30.03.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über die Eltern

Sammy: „Es hat lange gedauert, bevor ich eine Ahnung davon bekam, dass ich existierte. Irgendwie schien alles ein Traum zu sein. Ich war aber glücklich & glücklich & glücklich, vor allem, wenn ich am Abend auf der Fensterbank meines Zimmers saß und die Amsel singen hörte. In einem Buch von links nach rechts hatte ich gelesen, dass die Amsel der Singvogel der Stadt genannt wird. Irgendwie schien mir das besser oder höher oder tiefer zu sein, als ein Singvogel im Wald. Weil im Wald niemand zu hört.“

„Ich habe lange nicht verstanden, dass Häuser gebaut werden. Ich meinte, ohne es wirklich zu meinen – ich hatte es irgendwie gemerkt – dass Häuser einfach da sind, so wie alles einfach da ist: die große Wiese im Park, der Bach an der anderen Seite der Strasse, die Schule auf dem Hügel, das Elektrizitätshäuschen um die Ecke... Alles ist immer vorhanden gewesen. Mein Vater und meine Mutter waren immer vorhanden gewesen. Und ich war immer vorhanden gewesen, obwohl ich gerade das nicht verstand – dass ich vorhanden war.“

„War ich vorhanden? Bin ich vorhanden? Was heißt es, vorhanden zu sein? Samuel, bist du vorhanden? Und bin ich für Dich vorhanden? (Und sind meine Hände vorhanden?) Irgendwie scheint es mir jetzt so zu sein, dass ich gerade nicht vorhanden bin, weil das Vorhandene doch vorhanden ist für mich? Ich kann doch nicht das sein, was für mich vorhanden ist?“

„Eine erste Ahnung davon, dass ich existiere, habe ich über die Augen meines Großvaters gekriegt. Er war klein & kahl & gegerbt. Er sagte nie etwas. Er rauchte alles mögliche: Zigaretten, Zigarren und Pfeife. Und er schwieg. Mein Großvater schwieg aktiv, so wie die meisten Menschen aktiv reden. Schweigen war seine Sprache. Seine Augen aber – braun, tief versteckt in großen Augenhöhlen – schauten auf alles was vorhanden war. Und alles was vorhanden war, steigerte sich in seinem Blick. Wenn er auf eine kupferne Granathülse schaute, stand sie auf einmal angenommen & überzeugend & mächtig im Raum.“

„Er schaute auch auf mich. Wenn er ins Wohnzimmer meiner Eltern eintrat, suchte sein Blick mich, berührte sein Blick mich, weckte sein Blick mich auf, so, als ob sein Blick eine Art Draht ist, der mich aus meinem inneren Meer an den Strand zog. Sein Blick brachte mich in die Luft und ins Licht hinein. In seinem Blick gab es etwas Lebendiges, dass mich ansteckte & nicht nur ins Weltenlicht brachte, sondern auch zu mir führte. Ja, ich würde sagen: in dem Blick meines Großvaters wurde ich geboren. Aus seinem Blick bin ich hervor gegangen.“

„Und manchmal frage ich mich: Ist er die Person in der Tarnkappe?“

„Mein Vater und meine Mutter waren mir fremd. Lieber Samuel, es fällt mir schwer zu beschreiben, wie ich die beiden gesehen habe, oder eben gar nicht gesehen habe. Sie waren irgendwie wie Gegenstände die man nicht anfasst, weil sie unbedingt sauber bleiben müssen. Sie zu berühren würde zu Krankheiten führen. Berühren würde zerstören. Berühren würde irgendwie die Welt in ihrem Kern aus dem Gleichgewicht heben. Die Körper meiner Eltern waren mir nicht zugehörig – sie befanden sich in einer anderen Welt, die sich parallel zu meiner, aber unerreichbar, fortbewegten in eine für mich nicht nachvollziehbare Richtung.“

„Es ist nicht so, dass ich die beiden nicht liebte. Und umgekehrt glaube ich bestimmt, dass sie mich liebten. Es war aber eine Liebe ohne eine wirkliche Verwandtschaft, so wie der Kuckuck in einem fremden Nest. Ist es nicht so, dass wir nur sehen & verstehen können, was wir irgendwie schon kennen? Samuel, sag mir, würde Plato das nicht bestätigen?“

„Ich glaube aber, dass man lieben kann, was man nicht kennt. Man kann lieben ohne zu erkennen. Die Liebe zu meiner Mutter und zu meinem Vater war aber nicht selbstverständlich, nicht vertraut, nicht von alleine... Jeden Tag wenn ich aus der Schule kam und über den Gartenweg ins Haus gelangte, war ich somewhere deep down überrascht meine Mutter anzutreffen, so, als ob ich nicht mit ihr gerechnet hätte. Ja, sie hatte immer Tee gekocht. Immer Tee. Und immer gab es Kuchen & Süßigkeiten & Schokolade. Und immer hat sie geraucht, wie mein Großvater, der ihr Vater war. Und immer habe ich gedacht: sie hat auch die braunen und tiefen Augen meines Großvaters - sie sah mich aber irgendwie nicht.“

"Samuel, ich muss jetzt schweigen. Weil ich weinen muss. Weil ich meine Mutter liebe, gerade auch deshalb, weil ich ihr fremd war. Weil sie meine Sehnsucht nach der Bewegung von links nach rechts nicht verstand. Weil sie, wenn sie auf mich schaute, immer etwas vermisst hat, ohne zu wissen, dass sie es vermisste. Sie muss das Gefühl gehabt haben, in ein schwarzes Loch zu schauen - genau das, was ich erlebte, als ich noch ganz ober war. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie mich nie spontan umarmen konnte?"

19.03.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über das Loch

Sammy: „Auf einmal war da ein Loch, ein Nichts, ein offenes Ende ohne Licht, einen dunklen Geruch, den ich nicht erkennen konnte – ja, wenn Du, Samuel, mich jetzt fragst, würde ich sagen: es war so, als ob eine frische & prickelnde Frucht, die lange auf mich gewartet hatte, auf einmal auseinander fiel & einen faulen Kern offenbarte. Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich noch orientieren konnte.“

„Ich war da ganz oben. Was es heißt, da ganz oben zu sein? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Da ganz oben ist man eingebettet in tragende Ströme, wie Vögel in hohen Luftbewegungen – in Erwartungen & Hoffnungen & weiten Perspektiven & uralten Motiven & bedeutungsvollen Schwingungen. Alles da oben hängt mit allem zusammen, wie in einer Symphonie von Gustav Mahler oder auf einem Bild von Willem de Kooning. Die Töne & Rhythmen & Farben & Flächen bewegen sich wie ein Schwarm Stare. Und man ist da mittendrin.“

„Ja, ganz oben sein, das heißt noch nicht geboren sein, oder vielleicht besser gesagt: im Kommen sein. Man ist da ganz oben immer selbstverständlich unterwegs. Man geht auf etwas zu. Man neigt sich nach vorne und damit nach unten. Vorne ist da oben gleich unten. Aber unten riecht es gut, ganz gut, so wie es von hier unten ja gerade da oben frisch & prickelnd riecht. Da oben sind irgendwie Weg und Ziel immer eins und das Gleiche.“

„Als ich da oben war, was sah ich da unten? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Ich würde sagen, dass ich da unten zwei Menschen sah, zwei dunkle Menschen, die alte Bücher liebten – ihre Zeigefinger waren immer & immer zwischen aufgeschlagenen Blättern mit fast brennenden Zeichen, die von rechts nach links liefen. Dieses von rechts nach links laufen von Zeichen, hat mich damals da oben sehr beschäftigt, weil ich spürte: der göttliche Reigen bewegt sich von rechts nach links.“

„Die zwei Menschen wohnten in einer Stadt an einem breiten Fluss. Ich meinte – na ja, da oben „meint“ man eigentlich gar nichts, man merkt die Dinge einfach – dass in dieser Stadt noch viele andere sich von rechts nach links bewegende Zeigefinger waren. Und ich wollte da hin. Ich wollte vor allem bei diesen zwei dunklen Menschen sein, die irgendwie etwas bewahrten, was ich abholen sollte – die auf mich warteten, genau so dringend, wie ich mich auf sie zu bewegen wollte. Sie hatten mir etwas zu sagen, zu enthüllen, zu zeigen über mich.“

"Aber dann war auf einmal das Loch da. Die beiden waren verschwunden. Ich konnte leider nicht sehen, wie das geschehen war. Ich spürte da unten eine heftige Unruhe, als ob alles durcheinander geraten & sich von rechts nach links bewegen irgendwie nicht mehr möglich war. Vage meinte ich einen langen & düsteren Weg in östliche Richtung zu sehen, von mir aus gesehen klar von links nach rechts, der sich in einem Nichts auflöste. Weil es da oben den Begriff Tod nicht gibt, konnte ich nicht verstehen, was passiert war.“

„Jetzt weiß ich es: die beiden waren tot.“

„Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich in meinem Kommen richten sollte. Ich war nicht mehr unterwegs. Und fast hätte ich mich umgedreht & den Weg zurück eingeschlagen, den Weg in die oberen Schwingungen & Bedeutungen & Herkünfte. Nicht weil ich mich danach sehnte, nein, das war ganz und gar nicht der Fall! Ich wusste einfach keinen anderen Weg. Es gab nichts anderes.“

„Irgend jemand oder irgend etwas – war es ein Bild? Ein Song? Eine gebrochene Stimme? Ein Bluessänger? Ein Freund, der mich brauchte? – hat mir an dieser Stelle geholfen. Nein, ich kann leider nicht sagen, wie das geschah, weil mir dieser Moment verborgen ist. Wenn es eine Person war, hüllt sie sich bis auf den heutigen Tag in eine Tarnkappe. Aber irgend jemand oder irgend etwas hat mir den Weg zurück versperrt & meine Augen nach vorne und nach unten wieder geöffnet. Und was ich sah, waren zwei andere Menschen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Ja, auch diese zwei Menschen liebten ein altes Buch – die Zeichen dieses Buches verliefen aber gerade umgekehrt, also von links nach rechts.“

„Bei diesen beiden Menschen bin ich letztendlich mehr oder weniger angekommen. Ja, ich sage mehr oder weniger, weil die beiden mir irgendwie immer fremd geblieben sind. Ihre Haut, ihre Haare, ihre Bewegungen (von links nach rechts), ihre Worte & Redewendungen, ihre Art Fahrrad zu fahren & ihre Liebe zu Bach & ihr Ärger über Jazz, ja, ihre klaren Gedanken über Gott & die Menschen, über Arbeitgeber & Arbeitnehmer – das alles stand trocken und bewegungslos um mich herum. Es war, als ob ich wie ein Frosch in einem Schuhkarton gelandet war.“

„Als ich endlich aufwachte und zu mir kam, war ich elf Jahre alt. Ich stand im Wohnzimmer meiner Eltern und dachte: die Welt ist leer. Ich dachte: meine Welt gibt es hier nicht. Ich dachte sogar: die Welt gibt es nicht. (Jahre später hast Du, Samuel, in einem Buch von links nach rechts gelesen: „die Welt ist, was der Fall ist“. Dieser Gedanke bot Dir einen Ausweg – darüber schreibst Du vielleicht später mal ein paar Worte.) Ja, in diesem Wohnzimmer bin ich, der kleine Sammy, in gewissem Sinne bis auf den heutigen Tag stehen geblieben."

"Du, Samuel, bist weiter gegangen. Du hast Grenzen überschritten & Umzüge arrangiert & mittlerweile gelernt Dich von rechts nach links zu bewegen. Es wird aber Zeit, dass ich vom Fleck komme und mitmache."

Was Sammy heute Samuel sagt.

Sammy: „Auf einmal war da ein Loch, ein Nichts, ein offenes Ende ohne Licht, einen dunklen Geruch, den ich nicht erkennen konnte – ja, wenn Du, Samuel, mich jetzt fragst, würde ich sagen: es war so, als ob eine frische & prickelnde Frucht, die lange auf mich gewartet hatte, auf einmal auseinander fiel & einen faulen Kern offenbarte. Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich noch orientieren konnte.“

„Ich war da ganz oben. Was es heißt, da ganz oben zu sein? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Da ganz oben ist man eingebettet in tragende Ströme, wie Vögel in hohen Luftbewegungen – in Erwartungen & Hoffnungen & weiten Perspektiven & uralten Motiven & bedeutungsvollen Schwingungen. Alles da oben hängt mit allem zusammen, wie in einer Symphonie von Gustav Mahler oder auf einem Bild von Willem de Kooning. Die Töne & Rhythmen & Farben & Flächen bewegen sich wie ein Schwarm Stare. Und man ist da mittendrin.“

„Ja, ganz oben sein, das heißt noch nicht geboren sein, oder vielleicht besser gesagt: im Kommen sein. Man ist da ganz oben immer selbstverständlich unterwegs. Man geht auf etwas zu. Man neigt sich nach vorne und damit nach unten. Vorne ist da oben gleich unten. Aber unten riecht es gut, ganz gut, so wie es von hier unten ja gerade da oben frisch & prickelnd riecht. Da oben sind irgendwie Weg und Ziel immer eins und das Gleiche.“

„Als ich da oben war, was sah ich da unten? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Ich würde sagen, dass ich da unten zwei Menschen sah, zwei dunkle Menschen, die alte Bücher liebten – ihre Zeigefinger waren immer & immer zwischen aufgeschlagenen Blättern mit fast brennenden Zeichen, die von rechts nach links liefen. Dieses von rechts nach links laufen von Zeichen, hat mich damals da oben sehr beschäftigt, weil ich spürte: der göttliche Reigen bewegt sich von rechts nach links.“

„Die zwei Menschen wohnten in einer Stadt an einem breiten Fluss. Ich meinte – na ja, da oben „meint“ man eigentlich gar nichts, man merkt die Dinge einfach – dass in dieser Stadt noch viele andere sich von rechts nach links bewegende Zeigefinger waren. Und ich wollte da hin. Ich wollte vor allem bei diesen zwei dunklen Menschen sein, die irgendwie etwas bewahrten, was ich abholen sollte – die auf mich warteten, genau so dringend, wie ich mich auf sie zu bewegen wollte. Sie hatten mir etwas zu sagen, zu enthüllen, zu zeigen über mich.“

„Aber dann war auf einmal das Loch da. Die beiden waren verschwunden. Ich konnte leider nicht sehen, wie das geschehen war. Ich spürte da unten eine heftige Unruhe, als ob alles durcheinander geraten & sich von rechts nach links bewegen irgendwie nicht mehr möglich war. Vage meinte ich einen langen & düsteren Weg in östliche Richtung zu sehen, von mir aus gesehen klar von links nach rechts, der sich in einem Nichts auflöste. Weil es da oben den Begriff Tod nicht gibt, konnte ich nicht verstehen, was passiert war.“

„Jetzt weiß ich es: die beiden waren tot.“

„Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich in meinem Kommen richten sollte. Ich war nicht mehr unterwegs. Und fast hätte ich mich umgedreht & den Weg zurück eingeschlagen, den Weg in die oberen Schwingungen & Bedeutungen & Herkünfte. Nicht weil ich mich danach sehnte, nein, das war ganz und gar nicht der Fall! Ich wusste einfach keinen anderen Weg. Es gab nichts anderes.“

14.03.2008

Die Art von Henning Köhler

„Ich bin ein Existentialist bis in meine Knochen“. Und: „Mein Thema ist die Freiheit“. Und: „Karma und Freiheit bedingen einander“. Und: „Man soll nichts aus Treue und Glauben annehmen“. Diese vier Sätze stammen von Henning Köhler. Er hat sie vor ein paar Wochen in Köln ausgesprochen. Der Titel des Seminars lautete: „Dem Karma auf der Spur“.

Ich war in den letzten Jahren öfters in der Gelegenheit Henning Köhler sprechen zu hören. Im Rahmen der integrativen Fortbildung, die er in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Waldorfpädagogik in Köln anbietet, habe ich seine Ausführungen über ein breites Themenspektrum, wie ein Schwamm aufgenommen. Angst bei Kindern, die anthroposophische Sinneslehre, die so genannten ADS-Kinder, die Ethik des Beratungsgespräches, auffällige Verhaltensweisen und „ungewöhnliche Begabungsprofile“ bei Kindern, der Kindheitsgedanke... Und irgendwo und irgendwann habe ich Henning Köhler in einem Artikel „den warmen Philosophen der Kindheit“ genannt.

Was Henning Köhler denkt, kann man in seinen Büchern nachlesen. Mich interessiert heute eher die Frage: wie denkt und spricht er? Ich meine damit: wie verhält er sich zu den Gedanken, die er äußert? Wie „bewegt“ er sich in der Welt der Gedanken? Wie verwandelt er Gedanken in Sprache? Oder anders gesagt: wie wirkt seine „Gestalt“ als Philosoph? Und vor allem auch: wie spricht er seine Zuhörer an? Wie schafft er es, in einem Seminar seine Zuhörer zu einer Art philosophischen Spaziergang zu bewegen?

Also, nicht das Was, sondern das Wie steht heute in diesem Text an. Was immer auffällt, ist seine Ruhe. Henning Köhler steht da vorne am Rednerpult, hat ein paar Papiere und Bücher dabei, liest manchmal kurz, befreit sich dann selbstverständlich von den Unterlagen und bewegt sich im Raum. Er macht ein paar Schritte um das Pult herum, drei oder vier, nicht mehr, und spricht frei. Sein Blick schweift dabei nach vorne und um ihn herum, wobei er gleichzeitig zwei Sachen zu sehen scheint: die Gedanken, die er gerade in seinen Papieren gefunden hat, und seine Zuhörer.

Er scheint die Gedanken vor sich in einem Raum zu sehen, wie vertraute Objekte, die er mag (oder manchmal auch gerade nicht mag). Seine Gedanken & Begriffe wirken wie unsichtbare Gegenstände, die sich fast handfest & genau & differenziert in einer Landschaft befinden. Und was Henning Köhler macht, ist in einem gewissen Sinne nichts anders, als diese Landschaft zu öffnen & betretbar zu machen.

Wenn er meint, einen Teil der Landschaft hinreichend gestaltet zu haben, dreht er sich langsam und nachdenklich um, macht ein paar Schritte auf das Pult zu (so, als ob er kurz in eine Hütte geht), nimmt ein Blatt Papier in seine Hände, und liest. In dieser ruhigen hin-und-her-Bewegung, die sich ständig wiederholt, wirkt die Tatsache kräftig mit, dass sein Körper groß & tragend & rund ist. Irgendwie scheint er das Bild seines Körpers auf eine unsichtbare-aber-spürbare Ebene zu übertragen. Als Zuhörer fühlt man sich in dieser Körperlichkeit aufgehoben.

In seiner Sprache ist Henning Köhler erstaunlich genau & konsistent & liebevoll. Er liebt die Gedanken – mehr noch die Sprache. Seine Worte & Wortpaare & Sätze & Redewendungen erscheinen wie sorgfältig geschnittene Objekte, wie in einer Kirche aus dem Mittelalter. (Der Unterschied ist nur dieser: sein Geschnittenes befindet sich nicht in einer Kirche, sondern auf einem weiten Feld.) Und er lebt in der Sprache, wie sein Körper sich im Raum bewegt: sorgfältig & gehalten & irgendwie auch mächtig. Seine Stimme klingt sonor & eindringlich & warm.

Das Schönste ist, wenn er auf einmal etwas sagt, das nicht schon vorher gedacht war, sondern sich unerwartet neu aus dem schon Gesagtem ergibt. Es ist dann, als ob sich ein neuer Raum vor allen Zuhörern spürbar öffnet, erst anfänglich „leer“ im Raum schwebt, und dann mit Worten & Begriffen & Bildern, die von irgendwo tief unten hergeholt werden, gefüllt wird. Für solche Momente kenne ich nur ein Wort: Geburt.

Wie gesagt, Henning Köhler lebt in Gedanken & gestaltet Gedanken zu einer genauen und liebevollen Sprache. Durch & zwischen & mit den Gedanken fliesen aber immer tastende Gefühle, die sich zwischen Nähe und Distanz hin und her bewegen. Auf einmal aber können sich diese Gefühle in greifende & eingreifende & angreifende Emotionen verwandeln. Auf einmal ist dann Unruhe da. Ich meine beobachtet zu haben, dass diese Verwandlung immer dann stattfindet, wenn er irgendwie meint, dass der Freiheitsbegriff in Gefahr ist. Ein Zorn steigt auf, der zeigt, dass er nicht nur ein warmer Philosoph der Kindheit, sondern auch ein Kämpfer ist.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

11.03.2008

Vortrag Essen. Über Macht und Freundschaft

Ich verstehe die Anthroposophie auch als einen Raum von Begriffen und Bildern, immer wieder neuen Begriffen und neuen Bildern, in denen sich unterschiedliche Willensrichtungen treffen und verständigen können. Um es mit einem Bild zu sagen: die Anthroposophie ist auch ein Saal mit klaren Spiegeln, die so aufgestellt sind, dass man sich selber und die anderen von allen Seiten sehen kann. Anthroposophie kann zu einem Verstehen führen, dass aus einem sich „rundum-bewegen“ gewonnen wird.

In meinem Vortrag heute Abend (12.03.2008) möchte ich versuchen, mich mit drei Gestalten in diesen Raum hinein zu begeben. Einer von diesen dreien hat sich auch Anthroposoph genannt, nämlich Bernard Lievegoed. Er hat mich bekannt gemacht mit dem Begriff der „Kultur des Herzens“. Die zwei anderen sind französische Philosophen, die im zwanzigsten Jahrhundert als Zeitgenossen in Paris gelebt und einander als Philosophen nicht besonders geschätzt haben: Emmanuel Lévinas und Michel Foucault.

Bernard Lievegoed war Arzt, Erzieher, Organisationsberater und Professor für Soziale Betriebswissenschaft. Im Rahmen meines Vortrages heute Abend könnte gesagt werden, dass einer seiner zentralen Anliegen das Folgende war: die Spannung zwischen der funktionellen Ebene und der allgemein menschlichen Ebene in der Zusammenarbeit zu beleuchten und zu bewegen. Lievegoed meinte, dass in der Zusammenarbeit nur dann spirituelle Ziele erreicht werden können, wenn die Menschen versuchen sich gegenseitig die Herzen zu öffnen.

Emmanuel Lévinas war der Philosoph der Begegnung. In seinem Buch „Zwischen uns“ spricht er von der „Perspektive der Heiligkeit“ in dem „Außer-sich-und-Für-den-Anderen“-sein. Er meinte, vereinfacht gesagt, dass das Leben erst dann an Bedeutung gewinnt, auch in religiösem Sinne, wenn wir uns durch den Anderen bewegen, verändern, bestimmen lassen. Das sogenannte „Ich“ des Menschen entsteht erst im Antlitz des oder der Anderen.

Michel Foucault war der Philosoph der Machtstrukturen. Er hat sich immer wieder die Frage gestellt, wie Menschen im doppelten Sinne zum Subjekt werden können: „subjektiviert“ in einer Unterworfenheit (als Sklave, als Angestellter, als Frau, als Bürger) oder gerade umgekehrt: als freies und kreatives Subjekt, als Person die ihre „Biographie wie ein Kunstwerk“ gestaltet. Sein ganzes Leben hat er versucht, sich von dem alten Begriff der Macht als einer düsteren Kraft-von-außen, zu befreien.

Francisco Ortega[i] fasst die Schlussfolgerung von Foucault folgendermaßen zusammen: „Foucault zufolge leben wir in einer Welt, in der die sozialen Institutionen dazu beigetragen haben, die Zahl der möglichen Beziehungen zu begrenzen. Der Grund dieser Beschränkung liegt darin, dass eine Gesellschaft, welche die Zunahme der möglichen Beziehungen zuließe, schwieriger zu verwalten und zu kontrollieren wäre“.

Am Ende seines Lebens (Foucault starb 1984) taucht in seiner Arbeit der Begriff Freundschaft auf. Er meint, dass die Freundschaft zu verstehen ist als eine Möglichkeit, der immer wirksamen Kraft der Macht aus Freiheit eine positive Bedeutung zu geben. Freundschaft wird damit auf einmal eine brisante soziale Einheit – ein Ort des Widerstandes und der Erneuerung. „Freundschaften zu knüpfen, heißt, Minoritäten entstehen zu lassen, die der Macht Widerstand leisten".

An dieser Stelle wird auf einmal die Arbeit von Lévinas relevant, weil er sich intensiv mit den Fragen der Beziehung beschäftigt hat. Wie ist eine Freundschaft zu leben, zu pflegen und vor allem zu gestalten? Was ist „zwischen uns“? Wie kann man von Angesicht zu Angesicht „sein“? Und: wenn man die Achse zwischen zwei Menschen als das Urphänomen des sozialen Lebens versteht, welche Bedeutung hat dann der dritte und vierte Mensch in der Beziehung? (Lévinas: So bald ein Dritter in der Beziehung auftaucht, braucht man Ethik.)

In einer Kultur des Herzens werden diese Themen aus der Sphäre der Selbstverständlichkeit geholt. Spannend ist dabei vor allem die Frage, welche Bedeutung die Freundschaft in institutionellen Zusammenhängen haben kann. In der Kneipe, mit einem Glas Bier, ist die Freundschaft relativ einfach zu handhaben – als Kollegen, beispielsweise in einem Lehrerkollegium, taucht sofort Widersprüchliches auf. In einer Kultur des Herzens geht es erst mal nicht darum, diese Widersprüche sofort aufzuheben. Die Aufgabe ist eher, an diesen Widersprüchen zu wachsen.

[i] Francisco Ortega, Michel Foucault, Rekonstruktion der Freundschaft, 1997, Wilhelm Fink Verlag, S.242

Mit dank an Sophie Pannitschka

02.03.2008

Esteecee heute. Von Musik getragen

Inwieweit hat der erwachsene Mensch etwas mit seiner Jugend zu tun? Und stimmt es, dass jeder Mensch in seiner Erinnerung die Stätten seiner Jugend in eine goldene Aura hüllt? Weil man dort noch immer den Glanz des Lebens vor der Geburt erlebt? Weil man noch an der Wirklichkeit teil hat, voller Vertrauen und sicher? Weil man die Einsamkeit noch nicht kennen gelernt hat und sich der Bruch mit den Dingen um einen herum noch nicht vollzogen hat?

Sind alle Menschen im Besitz eines solch harmonischen Weltbildes, das offensichtlich in der Jugend entsteht und das auf dem Boden der Seele weiterschlummert wie ein Verlangen, mit dem man nichts anzufangen weiß? Ist dies auch denjenigen Menschen vertraut, die in den Slums von Bombay oder Lima aufwachsen? Und auch solchen die zuerst vom Heroin entwöhnt werden müssen, weil ihre Mutter süchtig war? Und denjenigen, die, vom Vater getragen, auf die Flucht gehen mussten, weil Krieg kam?

Kannte Gloria diese Erfahrung? Ja, trotz allem. Denn dies musste sie gemeint haben, als sie damals an jenem warmen Sommernachmittag im Vondelpark auf einmal über ihre Schulferien zu erzählen begann. Dass nach dem letzten Schultag eine einzige große Freiheit vor ihr lag, eine goldene Ära ohne Ende, in der es nach Tannenduft riechen würde und ihr Vater abends auf die Querflöte spielen würde. Und in der sie nicht in dem großen Haus mit all diesen dunklen Zimmern sein würde.

Sie hatte erzählt, dass am letzten Schultag, wenn es endlich vier Uhr geworden war und die Tore der Schule zum letzten Mal geöffnet wurden, ihr der lange Weg nach Hause auf einmal wie ein sonnenüberströmter Weg der Freiheit erschienen war. Sie lief nicht, sondern es kam ihr vor, als ob sie nach Hause schwebte von den Klänge eines Musikstückes getragen, das gerade begonnen hatte.

Bei Gloria ging es letztendlich immer um Musik. Ihr tiefstes Weltbild bestand aus Klängen un nicht aus Bilder, wie bei mir. Ich sehe die Dinge immer vor meinem geistigen Auge wie ein Film oder ein Gemälde. Erst wenn ich etwas vor mir sehen kann, bekomme ich eine Verbindung damit. Gloria aber schien manchmal gar nichts zu sehen, als ob sie keine Augen hätte. Man brauchte sie nicht zu fragen, welche Kleider jemand am Tag hervor getragen hatte, denn sie würde es nicht wissen.

Ich bezweifle, ob sie irgendwann gesehen hat, dass meine Augen braun sind.