29.04.2012

Liebe Ruthild, liebe Roswitha, lieber Henning, mein Beitrag...

…in der vorletzten Woche über „Anthroposophie als Hebel in der Geschichte“ hat in den Kommentaren eine Auseinandersetzung ausgelöst, die es so auf meinem Weblog noch nie gegeben hat. Einerseits wundert mich das im Nachhinein nicht, denn mein Text war sicherlich einseitig, unvollständig, vielleicht eben „zu schön“, wie der Kommentator „Henning“ es formulierte. Es stimmt durchaus, dass ich manchmal den Dichter-in-mir (Friedrich Schiller: „Alle Menschen werden Brüder“! Stimmt das eigentlich? Und: Wie lange wird das bitte noch dauern?) in den Vordergrund schiebe. Einfach gesagt: Ich fühle mich wohl, wenn der Dichter-in-mir spricht...

Es gab also gute Gründe, mich auf die Einseitigkeiten meines Textes hinzuweisen. Auch mich beschäftigt immer wieder die Neigung zu einer Beliebigkeit, die bereits ein paar Jahrzehnte lang versucht, die spirituelle Landschaft quasi aufzuheitern. Und ich bin mit „Henning“ einverstanden, dass man sich immer wieder – nicht nur gedanklich, sondern vor allem auch willentlich – abgrenzen muss. Harte Beispiele machen das deutlich, Stichwort Holocaust... Und ja, manchmal werden in der Waldorfbewegung pädagogische Sichtweisen vertreten, die auch meiner Meinung nach weit von ihrem Wesen entfernt sind.

Andererseits hat mich die Auseinandersetzung jedoch verdutzt, verdattert, ja, aus dem Lot gebracht. Es kostet mich Mühe, die Schönheit in der Debatte zu sehen, sie zu schätzen, aufrecht zu erhalten, nicht weil es eine Debatte ist (der Dichter-in-mir liebt Streitgespräche – und kennt nichts Schöneres als die göttlich-geilen Beschimpfungen in der Edda!), sondern weil in den Kommentaren an zwei Stellen von „Abschied“ gesprochen wird. „Henning“ schreibt: „Ich weiß gar nicht so recht, in welches Wespennest ich da gestochen habe und halte jetzt mal sicherheitshalber den Mund an diesem Ort zu diesem Thema. Streit sollte man vermeiden, wo er nicht unbedingt nötig ist. Hier ist er komplett unnötig. Ich hatte auf eine nachdenkliche Diskussion gehofft“.

Und „Roswitha“: „nun habe ich den (buchstaben-)salat, (…) also werde ich wie zuvor den laptop nur als schreibmaschine und informanten nutzen und lasse euch wieder unter euch...“ Für den Dichter-in-mir („Alle Menschen werden Schwestern!“) sind das harte Worte, die weh tun. Das Innehalten von „Henning“ kann ich halbwegs hinnehmen, der Abschied von „Roswitha“ macht mich traurig, gibt mir das Gefühl, versagt zu haben. Auf meinem Weblog, so sagt eine naive Stimme in mir, sollte man sich gerade nicht verabschieden wollen!

Was macht das Wespennest aus? Ich verstehe die Auseinandersetzung in den Kommentaren so, dass zwei Wahrheiten aufeinander prallen; die erste besagt, dass Beliebigkeit bequem ist, die zweite, dass festgelegte Urteile genau so bequem sind. „Henning“ findet meinen Text „zu schön“, weil ich die Schattenseite der Toleranz nicht erwähne, „Roswitha“ und „Ruthild“ folgen der zweiten Spur. „Roswitha“ formuliert das so: „bequem??? was ist bequem daran, wenn alles gleiche gültigkeit hat? und man sich darum nicht nur um das, was geschieht, sondern auch um das, was nicht geschieht, scheren muss?“

Eigentlich müsste es nicht schwierig sein, die beiden Sichtweisen als berechtigt anzuerkennen. Warum aber dann doch die Unruhe im Karton? Ich bin mit „Roswitha“ nicht einverstanden, dass die Verärgerung dadurch entsteht, dass wir nicht von Angesicht zu Angesicht argumentieren, sondern in der virtuellen Welt des Internets, also ohne die physische (und seelische?) Nähe. Die gleiche Szenerie kann sich auch an einem Tisch abspielen.

Ich kann in die Seelen der Beteiligten nicht schauen, höchstens die Frage stellen: An welcher wunden Stelle bin ich berührt worden? Die Reaktion des Kommentators „Henning“ hat mich verunsichert, weil auf einmal der Dichter-in-mir nackt und hilflos im Raum stand, ich fühlte mich wieder mal naiv, schwärmerisch, allzu hoffnungsvoll... Meine Wunde, so stellte ich direkt nach dem Lesen des Kommentars fest, liegt in dem Umstand, dass ich zwar unverschämt Liebeserklärungen abgeben kann, manchmal dabei aber ein bisschen „unrealistisch“ werde. Meine Stärke, so erzählte ich mir, liegt nicht im differenzierten Argumentieren, sondern darin, die tragischen Schönheiten des Lebens sichtbar zu machen.

Zu schön... Können Texte auch „zu wahr“ sein, oder eben „zu gut“? (Heidegger sprach ja von den „großen Drei“: dem Wahren, dem Schönen, dem Guten...). Ich glaube, das Texte erst dann Texte sind, wenn sie gelesen und verinnerlicht werden, und wenn sie dann wieder nach außen treten, wenn auf die Texte reagiert wird – in welcher Form auch immer. Manchmal tut so etwas dem Autor weh, die Schönheit des Vorgangs liegt jedoch gerade darin, dass er seine Texte abgeben kann. Mein Text wird Dein Text, Dein Text wird unserer Text.

Die Rezeption eines Textes gehört zum Text. Texte haben eine Biographie, die von den Lesern mitgestaltet wird. („Der Zauberberg“ von Thomas Mann ist längst nicht mehr „Der Zauberberg“, den er 1924 veröffentlicht hat, und ich bin sicher, dass das der Autor auch klar erkannt hat.) Die Schönheit einer Biographie geht immer mit kleinen oder großen Schmerzen einher. Und davon sollte man sich, so meine ich, nicht verabschieden.

22.04.2012

Unterwegs, jedoch irgendwie bereits eingetroffen

Das Kinderzimmer ist fertig, Wiege und Kommode stehen bereit, die ersten Klamotten sind gekauft, die Stoffwindeln ebenso. Irgendwann in den nächsten Wochen wird sie kommen, unsere Tochter, die bereits einen Namen hat, den wir allerdings noch nicht verraten wollen. Meine Lebensgefährtin Vanda und ich sind im Warten, sehr im Warten, das Warten macht im Moment die Hauptsache unseres Lebens aus. Sie ist natürlich bereits da, unsere Tochter, sie ist im runden Bauch ihrer Mutter, der nicht nur rund, sondern auch schwer geworden ist. Vanda wackelt wie ein Schwan über den Flur, sitzt verträumt auf dem Hocker in der Küche, umfasst sanft seufzend mit ihren Händen den gespannten Innenraum, der längst unübersehbarer Außenraum geworden ist. Manchmal meldet unsere Tochter sich. Was sie dann genau macht, ist nicht immer klar. Sie bewegt sich, kreiert von Innen aus zum Beispiel einen kleinen Buckel an der Bauchwand, wir versuchen dann festzustellen, ob sie gerade ihren Po dreht oder mit einem Fuß spielt. Und ja, wir haben deutlich bemerkt, dass sie nicht nur etwas macht, sondern auch mitmacht, sie reagiert auf unsere vorsichtigen Annäherungen, Martin Buber würde an dieser Stelle sagen: Sie ist bereits „dialogisch“ eingestellt. Sie ist also da, allerdings irgendwie doch noch im Kommen, ich meine: Sie ist noch nicht „irdisch“ da, zwischen ihrer Präsenz in mir – in meinen Gefühlen und Vorstellungen ist sie sehr prominent anwesend – und ihrer handfesten Körperlichkeit, etwa drei Kilo schwer, befindet sich eine glatte Wand, die sie schützt, bedeckt, noch verborgen hält. Sie lässt sich nicht sehen, nicht riechen, kaum hören, nur indirekt betasten. Ich habe in der letzten Zeit immer wieder versucht, in mir ein Empfinden dafür zu erwecken, was es heißt, in einem Mutterbauch zu sein. Wir alle waren einmal dort, nur die Aller-Aller-Allerwenigsten können sich an den Zustand erinnern, ich würde sagen: Das Leben hat es gerade so eingerichtet, dass wir uns daran nicht erinnern sollen. Das Sein im Mutterbauch ist alles, deswegen völlig unbewusst. „Alles“ ist uns grundsätzlich zu viel (bis wir sterben: Der Tod bringt „alles“ wieder zurück). Als wir in der letzten Woche das Gestell der hängenden Wiege zusammen schraubten (danke Martin, Du hast es vor mehr als dreißig Jahren für deine Kinder gebaut!) und die süßen Klamotten in die Schubladen legten, wurde mir auf einmal klar: Unsere anreisende Tochter hat bereits die Regie ihres Lebens in die Hand genommen. Nein, sie wollte die Wiege nicht parallel an der Wand stehen haben, sondern quer zwischen Fenster und Wand. „Warum quer?“, fragte ich. „Weil ich das so will“, meinte sie. Ja richtig, das Gestell passt genau zwischen Fenster und Wand, genauer könnte es nicht sein... Ich war in meinem Leben noch nie so intensiv auf bekannt Unbekanntes orientiert, vielleicht weil ich bereits 61 Jahre alt bin, vielleicht weil ich mich oft wie eine reife Melone fühle, vielleicht weil mir der Tod mittlerweile ein bisschen vertrauter ist – an dieser Schwelle fängt das Leben ja erst recht an. Ich war noch nie so subtil-fragil dialogisch eingerichtet, so offen für kleine Sachen, die groß sind, so bereit auf die kleinen Risse in der Haut meiner Seele zu schauen, dort, wo das vertiefte und unsichtbare Leben süß-sauer duftet, wo die unsichtbaren Farben nicht für die Augen sichtbar, sondern für die innere Ohren hörbar werden, wo Eigennamen nicht gesprochen, sondern gesungen werden. Sie ist bereits da, jedoch noch unterwegs, und bringt das große Leben mit, das es bereits gibt. Ich warte und warte nicht. Und immer wieder gehe ich in ihr Zimmer, schaue auf die Wiege und staune darüber, dass die quere Position gerade zwischen Fenster und Wand passt. „Warum quer?“ Sie wird diese Frage, so bin ich sicher, mit ihrem Leben beantworten.