31.07.2008

José „Pepe“ Perez Gomiz. Über Krankheit und Betroffenheit

Vor etwa zwei Wochen fand die erste Operation statt. Ort: ein Krankenhaus in Gandia bei Valencia in Spanien. Zusätzlich zu den Krebsgeschwüren wurde auch seine Prostata, seine Blase und seinen Blinddarm aus seinem Körper entfernt. Als er nach etwa fünf Stunden auf die Intensivstation gebracht wurde, sah er erschöpft aus. Er war aber auch froh, weil die Operation offensichtlich gut verlaufen war. Und neben ihm, am Bettrand, hing ein Plastikbeutel – seine nagelneue Blase.

Fünf Tage später wurde eine zweite Operation durchgeführt. Weil er seinen Husten nicht unterdrücken konnte, war der Druck auf die Wunde zu groß geworden. Er musste nochmals zugenäht werden. Als er nach drei Stunden wieder zu sich kam, sah er nicht nur erschöpft, sondern auch stark verunsichert aus. Es war ihm anzusehen, dass er dachte: was geschieht, wenn ich wieder husten muss?

Noch eine Woche später wurde er nach Hause geschickt. Ich kenne durchaus die euphorische Freude, die hochkommt, wenn man nach einem Aufenthalt in einem Krankenhaus wieder nach Hause darf. Etwas Besseres & Schöneres & Heiteres gibt es gar nicht. Seine Frau erzählte später, dass er sich am gleichen Abend Tangomusik angehört hat. Warum das? Ich glaube, weil Tango unmittelbar das ausdrückt, was aus seiner Sicht das Leben ausmacht.

Am nächsten Morgen lief etwas in seinem Kopf „schief“. Ein kleines Blutgerinnsel stand auf einmal dem freien Strömen des Blutes im Weg. Was dann geschieht, nennt man einen Schlaganfall. Als er kurz darauf wieder ins Krankenhaus gebracht wurde, waren Arm und Bein der linken Seite seines Körpers gelähmt. Und er konnte nur noch schwer sprechen. Er war erschöpft, verunsichert und verzweifelt. Über die Sprache war er schwer zu erreichen.

Er heißt José Perez Gomiz, wird aber meistens einfach Pepe genannt. Er ist achtundsechzig Jahre alt. Die längste Zeit seines Lebens hat er in Argentinien verbracht, in Buenos Aires – in der Stadt, von der er immer wieder redet. Dort wurde er immer der gallego (der Spanier) genannt. Jetzt lebt er in Gandia, wo es im Sommer so richtig heiß ist; und wo die Menschen – wenn es richtig heiß ist – wie Puppen auf der Strasse gehen, angeblich ohne umwerfende Ziele. Hier ist er el argentino.

Pepe ist großzügig. Pepe mag Wein & Fleisch & Paella & Tapas & Espresso. Aber nur dann, wenn der Wein & das Fleich & die Paella & die Tapas & der Espresso so richtig gut sind. Er besucht gerne Orte wie Bilbao, San Sebastian, Toledo und Sevilla. Aber nie allein. Das Schönste ist in seinen Augen, anderen Menschen das Schönste zu zeigen. Und jedes Mal wenn wir (dass heißt: ich und meine Lebensgefährtin Vanda, die seine Tochter ist) in Spanien sind, bereitet er uns eine asado – tja, wie ist eine asado zu beschreiben? Dafür bräuchte ich einen ganzen Blog. Aber kurz gesagt: auf einem enorm großen Grill wird richtig gutes Rindfleisch stundenlang zelebriert.

Pepe ist Unternehmer. Er hat in seinem Leben – so lautet die aktuelle Einschätzung – bestimmt mehr als vierzig Läden aufgemacht. Und aus irgendeinem Grund hat er alle mehr als vierzig Läden wieder zugemacht. Noch eine Woche bevor er im Krankenhaus landete, hat er einen neuen negocio geöffnet, direkt am Strand von Gandia. Man kann da alles kaufen, was man dringend am Mittelmeer braucht: Sonnenbrillen, Handtücher, Schmuck, Kleider, Badehosen...

Pepe ist ein Weltmensch. Seine Beine (die er vielleicht nie mehr benutzen kann) stehen klar in Spanien, sein Herz klopft in Süd-Amerika und sein Kopf ist überall. Ihm ist aus eigener wirtschaftlicher Erfahrung bekannt, was Globalisierung bedeutet. Die Chinesen und Inder sind seine allzu mächtigen Konkurrenten. Und er weiß, dass er arbeiten muss. Weil aus Argentinien und Spanien – wo er ein Immigrant ist – kann er nicht viel Sozialhilfe erwarten.

Und jetzt ist er krank. Richtig krank. Die Frage, ob er nach einer intensiven Therapie wieder gehen kann, ist heute noch nicht zu beantworten. Die Ärzte haben aber bereits mitgeteilt, dass es nie mehr so sein wird, wie es war. So viel ist klar. Die Zukunft sieht also dunkel aus, gerade auch deswegen, weil Pepe ein richtiger „Gehmensch“ ist. Er ist immer unterwegs. Es fällt mir schwer, mir Pepe in einem Rollstuhl vorzustellen.

Darf man die Frage stellen, warum so etwas in einer Biographie geschieht? Gibt es an dieser Stelle überhaupt ein WOZU? Letztendlich sind die Geschehnisse, die Pepe passiert sind, ganz normal. Auf diese Art und Weise werden Menschen tagtäglich krank. Es ist mit einer Krankheit aber wie mit dem Tod: wenn er erscheint, stellt sich sofort die Frage nach dem Sinn. Das Zuleben auf den Tod (Heidegger) bringt Ereignisse, die die Biographie dramatisch „gestalten“. Oder kann hier nicht von Gestaltung gesprochen werden, sondern nur von „Demontierung“? Wird Pepe demontiert?

Was mich in den letzten Tagen am meisten beschäftigt, ist die Frage, was wohl in seiner Innenwelt vorgeht. Was denkt & fühlt & will er? Wohin wandern seine Gedanken? Und worauf beziehen sich seine Wünsche & Sehnsüchte & Hoffnungen? Auf welche Menschen & Orte & Momente richtet sich sein Wille jetzt, nachdem er körperlich so eingeschränkt ist?

Nein, ich kann ihm diese Fragen nicht stellen. Über solche Dinge redet Pepe einfach nicht. Höchstens wäre es möglich mit ihm zusammen Tangomusik zu hören, oder ihn noch mal von Buenos Aires erzählen zu lassen, oder von der Art und Weise wie die asado „richtig“ gemacht wird. Über die Musik & die Worte & die Gebärde hinaus, wird es bestimmt möglich sein, gemeinsam eine Innenwelt zu betreten, wo die Betroffenheiten spürbar werden.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

23.07.2008

Ökomed in Köln. Meditieren im Querilla-Still

„Ökomed ist Meditieren im Guerilla-Still.“ So schreibt Sebastian Gronbach. Und: „Ökomed ist die öffentliche und kollektive Meditation.“ Und: „Ökomed erobert gemeinsam den öffentlichen Raum und transformiert ihn zu einem Tor der Innerlichkeit und Stille“. Und: „Ökomed demonstriert: Weltrevolution beginnt mit innerer Revolution“.

Der erste Ökomed-Event hat schon stattgefunden. Letzten Sonntag. Um 15.00 Uhr. In Köln. Am Dom. Direkt unter dem neuen Fenster von Richter. Über das Fenster habe ich am 23.09.07 geschrieben: „Die Abertausend kleinen farbigen Quadrate holen den großen Außenraum-da-draußen in den Innenraum des Doms hinein“. Und so etwas ist auch mit Ökomed der Fall – aber umgekehrt. Im großen Raum der Öffentlichkeit wird die Tür zur Innerlichkeit dargestellt.

Ich konnte in Köln leider nicht dabei sein. Letzten Sonntag war ich noch in Valencia. Dort war es richtig heiß – und wie es ist, wenn es so richtig heiß ist in Spanien: die Menschen auf den Strassen und Plätzen sehen aus wie träge Puppen. Sie schleppen sich mühsam durch die feuchte Wärme. Ihre Ziele scheinen irgendwie grundsätzlich unerreichbar zu sein.

Als ich abends in Köln eintraf, war der Event am Dom schon längst vorbei. Er war, wie man das so nennt: Geschichte geworden. In einer SMS schrieb Sebastian Gronbach: „Es war ein Event. Der Dom hat uns angenommen“.

Am gleichen Abend noch konnte ich mir auf http://oekomed.blogspot.com ein paar Bilder und ein kleines Video von Ökomed anschauen. Ich sah eine Handvoll Leute in Meditationsposition: still, schweigend, die Hände gefaltet, ohne Kommentar. Nein, wie Mönche sahen die Leute ganz und gar nicht aus, eher wie Arbeiter. (Das Logo von Ökomed wirkt so als ob es sagen möchte: Passt auf, Baustelle!) Was & warum & wie die Arbeiter meditieren, wird nicht klar. Deutlich aber wird, DASS sie meditieren. Und dass sie das Meditieren für wichtig halten.

Kollektiv meditieren? In der Öffentlichkeit? Wozu? Um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Meditieren Sinn macht? Antwort: ja. Um den Weg in der Stille zu zeigen? Antwort: ja. Um die uneigentliche Trennung zwischen privat=innerlich und öffentlich=aüßerlich zu durchbrechen? Antwort: ja. Um darauf hinzuweisen, dass es auch in der inneren Welt eine Menge von Baustellen gibt, wo gearbeitet werden kann? Antwort: ja. Um letztendlich den Gott-in-uns zur Erscheinung zu bringen? Antwort: ja.

Aber da ist noch mehr. Sebastian Gronbach meint: „Der Dom hat uns angenommen“. Er macht sein Urteil über den Event also (auch) am Dom fest. Er traut dem Dom ein Urteil zu. Und er traut sich selber die Fähigkeit-des-Hörens zu: ihn erreicht das Urteil des Doms. Oder anders gesagt: der Dom und die Domplatte waren nicht nur „Bühne für eine Show“, sondern auch „Partner in einem Event“ – Partner, die ernst genommen werden wollen.

Was ist meditieren? Es scheint mir nur eine halbe Wahrheit zu sein, dass Meditieren heißt, innerlich an sich selber zu arbeiten. So lange diese halbe Wahrheit für die ganze Wahrheit gehalten wird, ist sie ganz unwahr. Meditieren heißt nämlich auch: in der Welt tätig zu sein. Meditieren heißt auch: kräftig eingreifen auf einer unsichtbaren Ebene (wurde mal die „geistige“ Ebene genannt) – eine Ebene, wo Gebäude & Straßen & Plätze & Ereignisse keine reinen Umstände mehr sind, wie Teppiche an der Wand, sondern lebendige Orte & Zeitpunkte, die uns brauchen.

Dieser Einsicht macht Ökomed revolutionair. Ich hoffe, dass bald ganz Europa von Ökomed spricht.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

18.07.2008

Was soll ich mit meinem Traum anfangen?

Ich habe geträumt. In dem Traum hatte ich ein riesengroßes Haus mitten in einer Stadt. Rund um das Haus verlief ein Garten. Die Außenseite des Hauses war in einer melancholischen dunkelrot-braunen Farbe gestrichen, die Innenseite war voller dämmriger Zimmer, Flure und Treppen. Und vor allem: das ganze Haus war angefüllt mit Büchern & Bildern & bedeutungsvollen Objekten.

Die Stadt hatte zwar die Stimmung von Amsterdam (für Kenner: die Gegend rund um den Vondelpark), war aber weit vom Meer entfernt; und die Landschaft um die Stadt herum ähnelte eher der Puszta, so wie ich sie in Ungarn kennen gelernt habe. Und ganz eigenartig: im Garten gab es rostige Bahngleise, die gerade an der Hintertür des Hauses endeten.

Zwei mir gut bekannte Menschen besuchten mich in meinem Traum. Der eine war ein richtiger Freund – er lebt im realen Leben tatsächlich in Amsterdam, ist älter als ich und ich habe ihn in früheren Jahren als eine Art spirituellen Begleiter verstanden. Der andere war ein guter Bekannter, lebt in der Nähe von Utrecht und beschäftigt sich mit Organisationsberatung. Für beide gilt, dass ich sie sehr respektiere. Es sind beides Menschen, denen ich richtig etwas abnehme.

Mein Freund sagte zu mir: „Jelle, du sollst dein Haus leer räumen. Bald kommt ein Güterzug – er wird all deine Sachen holen und in die Welt verstreuen. Du brauchst das alles nicht mehr." Und wie das in Träumen möglich ist: sofort war der Zug in meinem Garten da und all meine Sachen wurden in den Wagen gepackt.

Als das geschehen war, änderte sich das Haus. Es verwandelte sich auf einmal in meine heutige Wohnung in Köln. (Nebenbemerkung: direkt neben meinem Garten in Köln laufen die Bahngleise zwischen Köln-West und Köln-Süd.) Mein zweiter Besucher sagte zu mir: „Jelle, die Bücher & Bilder & Objekte in deiner Wohnung werden die Lebensbücher & Lebensbilder & Lebensobjekte der Menschen sein. Deine Wohnung wird sich allmählich in den Zeitstrom der Gegenwart verwandeln. Bücher & Bilder & Objekte von gestern wird es nicht mehr geben. Du sollst dich in deinem weiteren Leben nur noch mit konkreten Fragen von konkreten Menschen beschäftigen. Alles andere sollst du lassen."

Und wie das in Träumen möglich ist: sofort waren in den Zimmern auf einmal eine Menge Leute da, die ruhig & intensiv & froh & entschlossen mit einander sprachen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Wohnung eine Art Treffpunkt geworden war. Und ich hatte das Gefühl, in mir unendlich viel Energie & Raum & Lust für das neue Unternehmen zu spüren. Und auch hatte ich das Gefühl, die benötigten Fähigkeiten & Erkenntnisse & Erfahrungen zu haben. Mir schien meine Rolle ganz einfach zu sein: ich sollte den Menschen helfen ihre Lebensfragen zu formulieren – die Antworten würden dann einfach kommen.

Als ich aufwachte, war ich begeistert. So sollte es in meinem Leben weiter gehen! Als ich dann wieder einschlief – es war sehr früh morgens – und zwei Stunden später nochmals aufwachte, hatte meine Stimmung sich geändert. Die Traumbilder waren noch immer da, standen aber außerhalb von mir – wie die Bilder in meinem ersten Haus. Und ich dachte: was soll ich mit dem Traum anfangen? Der Traum wird sich nicht von alleine verwirklichen.

Ja, was soll ich mit dem Traum anfangen? Auch jetzt, wenn ich drei Tage später diese Sätze schreibe, spüre ich, dass der Traum wichtig ist. Profan gesagt: es ist etwas dran. Es sind vor allem zwei Aspekte, die mich beschäftigen. Erstens der Satz: „Du sollst dich in deinem weiteren Leben nur noch mit konkreten Fragen von konkreten Menschen beschäftigen." Und zweitens: „Alles andere sollst du lassen."

Welche Fragen sind gemeint?

Und was soll ich alles lassen?

In seinem Buch Politik der Freundschaft schreibt Jacques Derrida, dass Freundschaft in der Sphäre-des-Vielleichts zu Hause ist. Mit „vielleicht" meint er „perhaps" – „via Fortune, via Schicksal" (Proto-germanisch "hap" = geschehenes Schicksal: „happening")... Oder auf holländisch so wunderschön: „misschien" (etwa: etwas mag möglicherweise irgendwann wie die Sonne scheinen)... Wer aber widmet sich der Sphäre-des-Vielleichts? Was heißt es zu denken, dass es „vielleicht" die Mühe wert ist, sich um die offenen Fragen-des-Vielleichts zu kümmern?

Und was soll ich lassen? Irgendwann sagte Krishnamurti sinngemäß: „Die wichtigste Frage ist nicht, was wir tun sollen, sondern was wir besser lassen sollen".

10.07.2008

Über das Gespür für Nähe und die Freundschaft

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, stelle ich fest, dass ich seit dem Tod von Rogier (Blog 04.06.2008) ein Gespür für Nähe habe. Ich war damals neun Jahre alt. Den Begriff der Nähe kannte ich damals aber noch nicht – ich vermute, dass ich eine erste Vorstellung davon bekam, als ich siebzehnjährig versuchte, die Gedichte der englischen Romantiker Coleridge, Wordsworth, Shelley und Keats zu lesen und zu verstehen.

In diesen Gedichten wurde etwas thematisiert, was ich jetzt „Nähe zur Welt“ nennen würde. Bäume, Blumen, Landschaften, Städte, Scheunen, Brücken, Wolken und auch Menschen wurden so beschrieben, als ob es sich dabei nicht nur um objektive Gegenstände handelte, die sich irgendwie & irgendwann & irgendwo ausserhalb von uns befanden, sondern die Gegenstände erzeugten in den Dichtern offensichtlich eine „gespürte Innigkeit“, die sich über die Sprache in uns als Leser fortsetzte. Die eigentlichen Themen der Gedichte waren gerade diese Innigkeiten.

Percy Bysshe Shelley schrieb: „So now my summer task is ended, Mary,/ and I return to thee, mine own heart´s home; (…)”. Einen anderen Menschen ernsthaft als “das Haus meines Herzens” zu beschreiben (leider scheint es uns nach beinah zweihundert Jahren ein Klischee zu sein) kann nur als ein Versuch angesehen werden, auf eine gespürte Nähe hinzuweisen, auf Innigkeit also. Mehr als ein Hinweis ist es aber nicht; Shelley war durchaus klar, dass seine Beschreibungen unzulänglich und zugleich göttlich waren. In einem Gedicht an den älteren Samuel Taylor Coleridge spricht er von „the voice of inexplicable things“, das heißt: „die Stimme der Dinge, die unfassbar sind".

Ein Gespür für Nähe ist nicht in konkrete Worte transportierbar. Und wenn etwas unfassbar ist, reden wir nicht darüber. Und weil wir nicht darüber reden, machen wir keine „Kultur“ daraus. Anders gesagt: obwohl das Gespür für Nähe, oder gerade die Abwesenheit davon (man nennt das: Einsamkeit) in unserem Alltag durchaus eine große und eben entscheidende Rolle spielt, schauen wir nicht darauf. Wir meinen, dass man Nähe nicht verstehen & lernen & entwicklen & ermöglichen & kultivieren kann. Und vielleicht stimmt das auch zur Hälfte – Nähe ist bestimmt nicht zu steuern & zu organisieren & zu erzwingen. Einer der wichtigsten Aspekte einer Kultur des Herzens ist aber der Versuch, sich der Nähe bewusst anzunähern.

Auf mein Leben zurückblickend stelle ich auch fest, dass ich das Gespür für Nähe spontan damit in Verbindung gebracht habe, was ich erst später Freundschaft genannt habe. Das Gespür für Nähe und Freundschaft scheinen mir miteinander verschränkt zu sein. Lange habe ich gemeint, dass diese spontane Verknüpfung selbstverständlich ist – dass alle Menschen das Gespür für Nähe als einen wesentlichen Bestandteil einer Freundschaft sehen würden. Mittlerweile ist mir aber deutlich, dass das nicht der Fall ist.

Und noch viel mehr ist mir klar geworden: in wichtigen Texten über Freundschaft, von Aristoteles über Montaigne und Nietzsche bis Jacques Derrida, wird das Gespür für Nähe überhaupt nicht erwähnt. Das Phänomen des Gespürs für Nähe spielt in philosophischen Betrachtungen über die Freundschaft überhaupt keine Rolle. Mich interessiert zum Bespiel brennend die Frage, ob Aristoteles in seiner Beziehung zu Alexander dem Großen – ich denke schon, dass die beiden sich als Freunde verstanden – etwas wie Nähe gespürt hat; und auch: wie er als Philosoph die gespürte Nähe zwischen ihm und seinem jüngeren Freund begriffen und bewertet hat.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

05.07.2008

Mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf

Ich erinnere mich noch an meinen Lehrer Pietersen – einen großen Mann, der sich geschmeidig bewegte, immer in einem braunen Anzug vor der Klasse stand und offensichtlich problemlos von Gott, Afrika, Willem van Oranje, amerikanischen Soldaten und vor allem Grammatik sprach. Ich saß ganz hinten im Klassenraum und meine Aufmerksamkeit war ganz auf ihn gerichtet.

Ich war neun Jahre alt. Der Lehrer Pietersen stand da vorne und sprach. Er schien irgendwie auf den Inhalten, von denen er erzählte, zu treiben, wie ein Stück Holz auf sanft fließendem Wasser. Es waren die Inhalte, die ihn bewegten: er kam, so schien es mir, nie davon los, um zum Beispiel einen Blick auf mich zu werfen. Ich hatte das Gefühl, in seiner Welt nicht zu existieren. Seine Aufmerksamkeit betraf ganz und gar nicht mich, und ich meinte, dass er auch die anderen Kinder nicht wirklich wahrnahm. Ja, als ein Klassenkamerad zu laut war, nahm er das schon war. „Mattheus, bald ist Pause“, sagte er dann geschmeidig und ohne Ärger, „dann kannst du in aller Ruhe mit Hans reden“. Mattheus muss aber das Gefühl gehabt haben, dass nicht er gemeint war, sondern sein zu lautes Sprechen.

Der Lehrer Pietersen war unerreichbar. Seine Aufmerksamkeit und meine Aufmerksamkeit – oft läuft das ja über Blicke – haben einander nie gekreuzt, berührt, getroffen. Es gab nur ein einziges Mal eine Ausnahme – ein Ereignis, dass in meinem weiteren Leben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Es betraf eine Situation, vor der ich damals wie heute eine richtige Angst hatte und habe. Die Tatsache, dass gerade in dieser Situation das Gespür der Nähe auf einmal da war, hat mich als Erwachsenen sehr beschäftigt.

Ich war ein braves Schulkind. Aus irgendeinem Grund – ich weiss nicht mehr, was geschehen war – hatte der Lehrer Pietersen mich aber einmal in ein kleines Zimmer ganz oben unter dem Dach des Schulgebäudes eingesperrt. Es wird etwa drei Uhr nachmittags gewesen sein. Er war sofort wieder runter gegangen und ich wartete. Weil die Schulzeit gewöhnlich um vier Uhr zu Ende war, meinte ich, dass ich noch etwa eine Stunde da oben zu bleiben hätte. Es wurde aber vier, es wurde fünf, es wurde halb sechs... Und mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf.

Ich war verzweifelt. Ins Leere hinein zu warten, kann ich noch immer nicht. Warten ist okay – aber nur dann, wenn ich weiss, wie lange ich ungefähr zu warten habe. Die Tatsache aber, dass ich nicht wusste ob der Lehrer mich einfach vergessen hatte oder mich bewußt warten ließ, gab mir richtig zu schaffen. Ich saß da im Dachzimmer auf einem Stuhl und hatte Angst. Vor mir gab es nur eine leere & unbestimmte & dunkle Zeit.

Um sechs kam er. Ich hörte ihn mit schnellen Schritten die Treppe hoch kommen. Er öffnete mit dem Schlüssel die Tür, kam auf mich zu, kniete vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und schaute mir in die Augen. „Es tut mir leid“, sagte er, „ich habe dich komplett vergessen. Du Armer...“ Später stellte sich heraus, dass mein Vater ihn zu Hause mit der Frage angerufen hatte, wo ich denn blieb. (Denn ich war ja ein braves Kind, und immer pünklich um halb fünf wieder zu Hause.)

„Du Armer...“. In seiner Stimme, seinen Händen, seinen Augen war auf einmal eine Aufmerksamkeit zu spüren, die mich völlig umgab, vereinnahmte, trug und innerlich wieder auf die Beine stellte... Und ich war dankbar, eigentlich nur dankbar. Ich war dankbar, weil ich auf einmal in seiner Welt existierte und offensichtlich genau so wichtig war wie Willem van Oranje oder amerikanische Soldaten. Und obwohl in den nächsten Tagen nichts mehr von der Nähe zu merken war, ist sie lange als eine Aura geblieben.

Bis heute weiss ich noch, wie mein Lehrer Pietersen gerochen hat, als er vor mir kniete.