10.07.2008

Über das Gespür für Nähe und die Freundschaft

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, stelle ich fest, dass ich seit dem Tod von Rogier (Blog 04.06.2008) ein Gespür für Nähe habe. Ich war damals neun Jahre alt. Den Begriff der Nähe kannte ich damals aber noch nicht – ich vermute, dass ich eine erste Vorstellung davon bekam, als ich siebzehnjährig versuchte, die Gedichte der englischen Romantiker Coleridge, Wordsworth, Shelley und Keats zu lesen und zu verstehen.

In diesen Gedichten wurde etwas thematisiert, was ich jetzt „Nähe zur Welt“ nennen würde. Bäume, Blumen, Landschaften, Städte, Scheunen, Brücken, Wolken und auch Menschen wurden so beschrieben, als ob es sich dabei nicht nur um objektive Gegenstände handelte, die sich irgendwie & irgendwann & irgendwo ausserhalb von uns befanden, sondern die Gegenstände erzeugten in den Dichtern offensichtlich eine „gespürte Innigkeit“, die sich über die Sprache in uns als Leser fortsetzte. Die eigentlichen Themen der Gedichte waren gerade diese Innigkeiten.

Percy Bysshe Shelley schrieb: „So now my summer task is ended, Mary,/ and I return to thee, mine own heart´s home; (…)”. Einen anderen Menschen ernsthaft als “das Haus meines Herzens” zu beschreiben (leider scheint es uns nach beinah zweihundert Jahren ein Klischee zu sein) kann nur als ein Versuch angesehen werden, auf eine gespürte Nähe hinzuweisen, auf Innigkeit also. Mehr als ein Hinweis ist es aber nicht; Shelley war durchaus klar, dass seine Beschreibungen unzulänglich und zugleich göttlich waren. In einem Gedicht an den älteren Samuel Taylor Coleridge spricht er von „the voice of inexplicable things“, das heißt: „die Stimme der Dinge, die unfassbar sind".

Ein Gespür für Nähe ist nicht in konkrete Worte transportierbar. Und wenn etwas unfassbar ist, reden wir nicht darüber. Und weil wir nicht darüber reden, machen wir keine „Kultur“ daraus. Anders gesagt: obwohl das Gespür für Nähe, oder gerade die Abwesenheit davon (man nennt das: Einsamkeit) in unserem Alltag durchaus eine große und eben entscheidende Rolle spielt, schauen wir nicht darauf. Wir meinen, dass man Nähe nicht verstehen & lernen & entwicklen & ermöglichen & kultivieren kann. Und vielleicht stimmt das auch zur Hälfte – Nähe ist bestimmt nicht zu steuern & zu organisieren & zu erzwingen. Einer der wichtigsten Aspekte einer Kultur des Herzens ist aber der Versuch, sich der Nähe bewusst anzunähern.

Auf mein Leben zurückblickend stelle ich auch fest, dass ich das Gespür für Nähe spontan damit in Verbindung gebracht habe, was ich erst später Freundschaft genannt habe. Das Gespür für Nähe und Freundschaft scheinen mir miteinander verschränkt zu sein. Lange habe ich gemeint, dass diese spontane Verknüpfung selbstverständlich ist – dass alle Menschen das Gespür für Nähe als einen wesentlichen Bestandteil einer Freundschaft sehen würden. Mittlerweile ist mir aber deutlich, dass das nicht der Fall ist.

Und noch viel mehr ist mir klar geworden: in wichtigen Texten über Freundschaft, von Aristoteles über Montaigne und Nietzsche bis Jacques Derrida, wird das Gespür für Nähe überhaupt nicht erwähnt. Das Phänomen des Gespürs für Nähe spielt in philosophischen Betrachtungen über die Freundschaft überhaupt keine Rolle. Mich interessiert zum Bespiel brennend die Frage, ob Aristoteles in seiner Beziehung zu Alexander dem Großen – ich denke schon, dass die beiden sich als Freunde verstanden – etwas wie Nähe gespürt hat; und auch: wie er als Philosoph die gespürte Nähe zwischen ihm und seinem jüngeren Freund begriffen und bewertet hat.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Toten sind die "unverlierbaren" - schreibt Hilde Domin in einem Gedicht (ich glaube in "Schwere Wege") - und die Lebenden die "verlierbaren".
Zu den Toten kann die Nähe bleiben. Wie verhält sich das zu den Lebenden,
gibt es auch da eine unverlierbare "Nähe"?
Oder gehört die "Ferne" auch zur Freundschaft?

Anonym hat gesagt…

Ich erlebe diese unverlierbare Nähe auch zu einem lebenden Menschen. Auch in der Ferne ist die Nähe vorhanden. Aber was es besonders schwer macht, diese Nähe zu den Lebenden zu erhalten, das sind meine Erwartungen.

realshowtimecharlotte hat gesagt…

nun schaue und schweige ich lesend ueber monate und halte die ruhe, aber.."sich der naehe annaehern?"das halte ich schlecht aus ohne eine annaeherung!danke fuer dies schoene!!
charlotte