Ikonen kann man nicht berühren. Über Gegenstände
In seinen Duineser Elegien schreibt Rainer Maria Rilke: “Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar/ in uns erstehn – Ist es dein Traum nicht, / einmal unsichtbar zu sein? – Erde! Unsichtbar!/ Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?“ Diese Sätze beinhalten meines Erachtens eine der stärksten Imaginationen aus der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts.
Ich verstehe Imaginationen als Bilder, die eine Wirkung erzeugen, die über das rationale Verstehen hinaus gehen. In Imaginationen wird eine umfassende Wahrheit verspürt, die in ihren Einzelheiten noch nicht durchschaut werden kann. Bevor unsere Köpfe mitmachen, werden unseren Herzen durch Imaginationen erfasst.
Das Bild von Rilke in seinen Elegien ist groß & weit & tief. Gesprochen wird von einer Erde, die etwas will, nämlich “unsichtbar in uns erstehn”. Die Erde scheint auf die Menschen zu warten, bis sie ihre Aufgabe verstanden haben – der Dichter hat aber offensichtlich schon begriffen, was von ihm verlangt wird: “Erde, du liebe, ich will” schreibt er noch, und: “Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen”.
Der Dichter der Elegien versteht sich als Geliebter der Erde. Er geht eine Beziehung an, die von der Erde gesucht wird. Er akzeptiert ein stilles-aber-leidenschaftliches Angebot. Anders gesagt: die Erde braucht “uns” um ihren “drängenden Auftrag” zu erfüllen – ohne die Herzen der Menschen ist für sie keine Verwandlung möglich. Und der Dichter stellt sein Herz zur Verfügung.
Was mich in dieser Imagination immer wieder trifft, ist die Tatsache, dass die Erde und die Menschen getrennt sind. Die Menschen sind nicht Erde. Groß & weit & tief ist die Vorstellung, dass die Menschen zwar auf der Erde verweilen, allerdings nicht zu ihr gehören. Die Menschen haben etwas, was die Erde nicht hat. Und gerade weil dies so ist, bekommt die Beziehung eine umwerfende Bedeutung.
Die Erde will also „unsichtbar“ werden. Was kann damit gemeint sein? Unsichtbar kann nur werden, was sichtbar ist. Rilke spricht also von einer Welt die wir mit unseren Augen wahrnehmen, das sind: Bäume & Tiere & Städte & Fahrräder & Skulpturen & Landschaften & Ikonen & Steine & Gesichter... Er meint, dass in diesen sichtbaren Gegenständen ein Drang lebt oder wirkt oder schlummert „unsichtbar“ zu werden.
Wenn unsichtbar „nicht sichtbar“ heißt – bedeutet dies zwei Dinge: erstens, dass die Gegenstände auf der sichtbaren Ebene aufhören zu „sein“. Man könnte an dieser Stelle auch sagen: die Dinge müssen sterben. Ich kenne nur eine Sichtweise, die besagt, dass die Erde tatsächlich einmal sterben wird, nämlich die esoterische.
Zweitens bedeutet es, dass die Gegenstände in einer unsichtbaren Form weiter existieren. Auch diese Vorstellung findet man in esoterischen Betrachtungen. In esoterischen Fachbegriffen formuliert: die heutige Erde wird vergehen & in einer neuen „ätherischen“ Gestalt wieder neu geboren werden. In der esoterischen Literatur wird diese neue Erde „Jupiter“ genannt.
Nun ist die Vorstellung, dass die gegenständliche Erde sich im Verschwinden befindet, vielleicht verrückt – tatsächlich aber ansatzweise öfters durch ernst zu nehmende Philosophen gedacht. Martin Heidegger zum Beispiel kommt in seinen Texten manchmal fast dazu zu sagen: Gegenstände existieren eigentlich nicht.
Er meint damit, dass es das Bewusstsein der Menschen ist, das bestimmt ob etwas als ein Gegenstand „anerkannt“ wird oder nicht. Dazu kommt noch, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Vorstellungen von einem konkreten Gegenstand haben. Eben einfache Gegenstände wie Messer & Löffel & Gabeln schwimmen in den unterschiedlichsten Vorstellungen der Menschen.
Und da fängt die Unsichtbarkeit schon an. Die Handgreiflichkeit der Dinge ist nicht identisch mit der Gegenständlichkeit der Dinge. Ob ein Ding ein Gegenstand ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ich das Ding berühren kann oder nicht. Stärker noch: gerade die Unberührbarkeit der Dinge macht oft ihre Bedeutung aus. Auch wenn man mit seinem Finger die Farbe betastet, kann man nicht behaupten: ich habe eine Ikone berührt.
Mit Dank an Sophie Pannitschka