17.09.2011

Kognitionswissenschaft. Über selbstbildende Ereignisse

Die souveräne Existenz des Selbst (oder des Ich) des Menschen lässt sich nicht einwandfrei positiv „beweisen“ oder negativ „verneinen“. In der Kognitionswissenschaft wird gerade das Letztere versucht. Daniel C. Dennet zum Beispiel meint in seinem Buch Philosophie des menschlichen Bewusstseins klar belegen zu können, dass das Selbstbewusstsein nichts Souveränes innehat, sondern eher als eine wilde Ansammlung von willkürlichen „Erzählungen“, die der Mensch sich selbst „erzählt“, um in dem biologisch-evolutionären Prozess zu überleben, zu verstehen wäre.

Und der Gehirnforscher John R. Searle kommt in seinem Buch Geist. Eine Einführung zu der Schlussfolgerung: „Zusätzlich zu einer Abfolge von Erlebnissen und dem Körper, in dem diese Erlebnisse stattfinden, gibt es nicht noch so etwas wie das Selbst. Wenn ich versuche, meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten und eine Entität zu beobachten, die mich wesentlich ausmacht, dann finde ich [...] nur einzelne Erlebnisse. Da ist kein Selbst zusätzlich zu diesen Erlebnissen“. Dass wir trotzdem so etwas wie eine kontinuierliche Identität erleben, beruht laut Searle auf dem Umstand, dass wir uns an Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnern können.

Es ist in diesem Text nicht meine Aufgabe, die philosophischen und wissenschaftlichen Überlegungen gegen die Existenz des Selbst zu widerlegen – ich wäre damit auch heillos überfordert. Ich kann aber ein Denkangebot machen, das zwar von Argumenten unterstützt wird, im Grunde genommen aber auf Erfahrungen beruht, auf Erlebnissen also, die, anders als Searle meint, nicht als „zusätzlich“ zu verstehen sind. Die Begegnung mit meiner Hoheit und mit den Hoheiten der anderen Menschen ist aus meiner Sicht ein Ereignis, das als Ereignis keine Begründung braucht, genau wie ein Kuss, ein Krieg, eine Geburt, ein Sterben, ein Blitz vom Himmel oder eine Begegnung mit einem anderen Menschen dies auch nicht braucht, um das zu sein was sie alle sind: Ereignisse.

Wie kämen Dennet und Searle übrigens ohne Ereignisse aus? Auch sie begründen ihre Sichtweisen auf Erlebnisse, die allerdings in einem bestimmten Rahmen angenommen oder eben gerade abgewiesen, beziehungsweise dekonstruiert werden, nicht weil sie aus irgendeinem Grund als Ereignis nicht überzeugen, sondern weil sie Unbehagen erzeugen.

Anders gesagt: Die Erfahrung des Selbst lässt sich in der Tat schwer denken und einordnen, das heißt, es lässt sich nicht mit anerkannten Mitteln der Wissenschaft in das theoretische Gebäude der Wissenschaft integrieren. Eigentlich würde es schon reichen von der Idee (nicht einmal der Existenz) des Selbst zu sprechen: Sie sprengt alle Rahmen. Sich allerdings von dieser Idee zu verabschieden, würde einfach heißen, dass auch das Buch von Dennet nur „Erzählungen“, die er sich selber zum Überleben erzählt, beinhaltet.

Sein stolzes Buch, mit dem stolzen Titel und dem stolzen Eigennamen würde lediglich die Illusion bieten, die er gerade versucht zu demontieren. Sein Buch als Ereignis beruht auf einem Widerspruch, einfach deshalb, weil auch Dennet nicht ohne selbstbildende Ereignisse auskommt.

10.09.2011

Götz Aly. "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"

In seiner vor Kurzem erschienenen Publikation „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ versucht der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly den Holocaust als eine Beziehungsfrage zu verstehen. Er geht der Thematik nach, was etwa ab 1800 zwischen den Deutschen und den Juden geschehen ist und beschreibt die Spannungen, die dazu geführt haben, dass im Dritten Reich sechs Millionen Juden umgebracht wurden.

Die Kraft des Buches liegt in seiner Einfachheit. Götz Aly begibt sich kaum in philosophische oder zeitgeschichtliche Überlegungen, verzichtet fast komplett auf „grundlegende“ Fragen über das Gute und das Böse, spekuliert nicht über weltanschauliche Hintergründe, sondern lässt einfach Tatsachen sprechen. Der Leser begegnet einem sauberen Historiker mit trockenen Fingern, der sich durch Hunderte von schriftlichen Quellen gearbeitet hat. Viel mehr als zitieren, macht Götz Aly im Grunde genommen nicht.

Ein paar Tatsachen reichen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Buch beinhaltet. „In Preußen“, stellt Aly beispielsweise fest, „lag der Anteil jüdischer Studenten (an den Universitäten. JvdM) 1886/87 bei knapp zehn Prozent, der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bei knapp einem Prozent“. Und: „In der Regel begannen Juden das Studium erheblich früher und studierten schneller als die christliche Kommilitonen“. Ein preußischer Statistiker bemerkt in diesen Jahren: „Die jüdischen Studierenden scheinen danach durchschnittlich mehr Befähigung zu besitzen und mehr Fleiß zu entwickeln als die Christen“.

Und in einem Inspektionsbericht des großherzoglichen badischen Bezirksamts über die Geschicke des südbadischen Gailingen: „Noch vor 40 bis 50 Jahren hatte die große Mehrzahl der Israeliten dem ärmeren Teil der Einwohnerschaft angehört“. Jetzt übertrafen sie die christlichen Bürger „bedeutend an Vermögen.“ Der Inspektor stellt fest: „Fast alle größeren Häuser sind im Besitz von Israeliten“. Die Handelskammer der Stadt Köln beschrieb bereits Anfang 1800 die jüdischen Bürger als „üppiges Schlingkraut".

Die Deutschen dagegen zeigten sich als langsam, konservativ, träge. Sie kamen mit den rasanten Entwicklungen in der Gesellschaft nicht mit. Sie waren „die Dümmeren“, die an einem „sich über sich selbst unklaren Gefühl“ litten (Ludwig Bamberger, 1880). Der Zionist Heinrich York-Steiner schreibt 1932: „Das deutsche Selbstempfinden ist das unsicherste aller großen Nationen Europas“. Die Deutschen bleiben in den traditionellen und ländlichen Verhältnissen hängen, die Juden steigen aktiv ins moderne und städtische Leben ein.

Das Ergebnis war Neid, der sich über Jahrzehnte in vielen Deutschen einnistete. Der Neid wurde – wie ein Hund – ein fester Bestandteil des deutschen Haushalts, wurde eigentlich nicht beachtet, auch nicht wenn er gelegentlich laut gebellt hat. Langsam wurde der Jude zur Karikatur: er ist nicht schlau, sondern listig, nicht fleißig, sondern gierig, nicht wach, sondern herrschend...

In meinen Worten: Der Neid machte die jüdischen Bürger zu Doppelgängern. Sie wurden nur noch als bedrohende Unwesen wahrgenommen, ohne Seele, ohne Biographie, ohne Berechtigung. Sie sind die Schatten der Deutschen geworden. Ich brauche an dieser Stelle nicht auszuführen, wie in den dreißiger Jahren die Nationalsozialisten das über Jahrzehnte entstandene Schattenreich instrumentalisiert haben.

In der Einleitung seines – sehr überzeugenden – Buches spricht Götz Aly von „der Frage aller Fragen“: „Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren?“ Übrig bleibt die Frage: Hat Aly nun mit seinem Buch diese schwerwiegende Frage beantwortet? Ich würde sagen: mehr als halbwegs, allerdings nicht vollständig.

Im Kern seiner Betrachtungen steht der Neid. Um individuell oder kollektiv mit den verheerenden Wirkungen des Neides umgehen zu können, werden erstens Selbsterkenntnis und zweitens Ideen und Begriffe gebraucht. Nicht der Neid alleine war das Problem, sondern auch die Tatsache, dass eine kleinliche weltanschauliche Gesinnung herrschte. In seinen Betrachtungen wird klar, dass im damaligen Deutschland eine sehr beschränkte Auffassung von - zum Beispiel - Freiheit herrschte. Die Deutschen trauten sich eine innere souveräne Freiheit nicht zu.

Wie ist zu verstehen, dass gerade in Deutschland, dem Land der idealistischen Dichter und Philosophen, der großen Ideen und Begriffe, diese Wirkung weitgehend verloren ging? Was hatte dazu geführt, dass dem Neid nicht eine klare Stirn geboten wurde? Mir scheint diese Frage noch immer frei im Raum zu schweben. Und vermutlich ist es so, dass wir gerade auf der gedanklichen Ebene, heute nicht viel weiter sind als damals. Götz Aly hat deswegen auch völlig recht, wenn er am Ende seines Buches schreibt: „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen".

04.09.2011

Der ferne Freund

Er kommt vorbei, der ferne
Freund, Meister der Hauses,
stündlich immer wieder,
sein Rhythmus ist ein Takt
ohne Ende. Ich höre
seine Stimme nicht, er schweigt;
ich höre die Schlüssel,
die ihn begleiten, die Tür,
die er öffnet. Er geht
stündlich über den Hof,
wie ein Mönch, trägt
seine großen Wahrheiten
in seinem Gang, er hört
einen Gesang in seinen Ohren,
er ist sprachlos von Wahrheit.
Er geht an den Tonnen
vorbei, den Gelben, Grauen
und Blauen, hält inne, flüstert,
versteckt den Schlüsselbund
in seiner schweren Jacke,
hebt den blauen lachenden Deckel,
drückt den Karton nach unten
und murmelt: Klappe halten...

27.08.2011

Die Mülltonnen im Hof

Die Mülltonnen warten und
warten, die entschlossenen Deckel
sprechen leise blau und grau
und gelb, und eine lächelt,
sie wird von nassem Karton
ein bisschen aufgehüpft, sie
ist bereits unterwegs. Sechs
Tonnen warten und warten
im Hof, ihre Tage kommen
erst langsam: Dienstag und
Mittwoch und Donnerstag, grau
einmal in der Woche, gelb und blau
zweimal im Monat, der Rhythmus
ist Takt ohne Ende. Sie schweigen,
die Tonnen, sie müssen verbergen,
verhüllen, lügen, sie verteilen
was übrig bleibt in Plastik, Papier
und Restmüll, die Braune stinkt,
die Gelbe bleibt leicht, die Blaue
lächelt sich nach vorne. Ich denke:
sie stehen nicht im Hof, ich habe sie
in meiner Seele aufgestellt.

20.08.2011

Immer Regen im Sommer

Du, belebtes Dunkel,
Schatten im August,
du gleitest wie Wasser
in meine Wohnung,
bringst runde Fische
und schweigende Frösche,
du sprichst verhalten
über Hoffnung und lässt
die gelben und grauen
und blauen Mülltonnen
vertieft warten im Hof.
Ich lasse dich an mich
heran, deinen nassen Atem
auf meine Haut, und ich
suche deine Worte. Du sagst:
sei von deiner Zukunft
umgeben und getragen,
vom wartenden Fließen
deines Flusses, vom Wollen
der Liebe im Schatten.

13.08.2011

Samuel ist unterwegs (7). Ein naiver Schmetterling

Die Liebesfähigkeiten des Gottes meines Vaters waren beschränkt. Er war ein kleiner Gott, der auf der trockenen Ecke seines Universums ins Exil geraten war und deswegen meinte, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Seine großen Taten lagen in der Vergangenheit: Die Schöpfung (hatte Er in sechs Tagen hingekriegt), die sprachliche Nachschöpfung namens Bibel (dafür hatte Er allerdings Generationen von Menschen gebraucht, die nicht verstanden, was Er geschrieben haben wollte), letztendlich der Tod am Kreuz, die Höllenfahrt und die Auferstehung im Grab (geschah in drei Tagen).

Der Gott meines Vaters war immer damit beschäftigt, den Menschen seine Vergangenheit zu erklären. Als Kind bin ich Ihm nie begegnet, ich vermutete damals, dass er einfach zu viel Zeit benötigte, um seine Archive ständig anzupassen. Und als ich meinen Vater fragte, warum unser Gott so viele Namen hätte – Gott, Herr, Messias, Jesus, Christus – meinte er: „Um solche Fragen zu beantworten, muss man Pfarrer werden. Möchtest du das?“

Ich mochte das nicht. (Es ist wohl wahr, hätte ich diesen Wunsch gehabt und wäre ihm nachgegangen: mein Leben wäre glänzend verlaufen. Ich hätte jegliche mögliche und unmögliche Unterstützung seitens meines Vaters gekriegt, er wäre mit mir gestorben, in die Hölle gefahren, strahlend auferstanden. Als deutlich wurde, ich war heftig dreizehn, dass ich mit meinem Leben eigentlich gar nichts anfangen wollte, höchstens Gedichte schreiben und Jazzgitarre spielen, wendete mein Vater sich von mir ab. „Gott kann dich nicht gebrauchen“, sagte er. Und Jahre später meinte er: „Du bist leider ein Künstler.)

Die Welt meines Vaters war bis in die kleinsten Details bekannt, überschaubar, bestimmt... Seine Geliebte, die meine Mutter war, flatterte wie ein naiver Schmetterling über alle Zäune hinweg, sie meinte nicht einmal, dass es die Beschränkungen nicht gäbe, sondern sie flatterte einfach ohne irgendetwas zu bemerken umher. Sie wurde jedoch hundert Mal, tausend Mal, zehntausend Mal eingefangen, und am Ende waren ihre dünnhäutigen Flügel kaputt. Sie saß in ihrem Wintergarten, neben ihrem blühenden Oleander, trank Tee und fragte: „Sammy, warum bin ich so müde?“ Und ich sagte: „Weil Du neun Kinder zur Welt gebracht hast“.

Meine Mutter... Ja, meine Mutter... In Arnhem war sie noch ein Schmetterling, ein duftig-farbig-unschuldiger Du-willst-mich-haben-kannst-mich-nicht-haben. Wenn ich abends stundenlang auf der Treppe saß und auf sie wartete – ich sehnte mich immer wieder nach Versöhnung – kam sie meistens nicht, und ich wusste: „Sie ist längst nicht mehr bei uns, sie hat sich in einen Nachtschmetterling verwandelt, ist in Mondlandschaften unterwegs, die ich nicht kennen darf, die mir verschlossen sind.“

Meine Mutter... Wir waren in Dieren, einer Kleinstadt bei Arnhem, und warteten am Bahnhof auf den Bus. Sie war wohl wieder schwanger. Sie stand neben mir, sagte: „Sammy, ich bin wieder so müde“, und sank zur Boden, ihre Flügel konnten sie nicht mehr tragen. Dort lag sie ausgestreckt, bewegungslos, wie tot – ich meinte tatsächlich, sie wäre tot – und mit meinem Adlerblick schaute ich auf ihren Körper weit da unten und stellte fest: „Irgendwie gehört sie nicht zu mir, weil sie immer wieder auf einmal verschwindet“.

Es war nicht schwierig meine fremde Mutter zu lieben. Es war auch gar nicht schwierig, ihr zu verzeihen. Irgendwie war sie bereits von Anfang an meine Tochter, ich meine: Die Verantwortung lag bei mir, nicht weil sie das von mir verlangte, sondern weil ich es so wollte. Sie konnte nichts dafür, dass sie ohne je gefragt worden zu sein, in einer Verschwörung eingebunden war, die eher meine Verschwörung war. Schmetterlinge und Verschwörungen gehören nicht zusammen. (Schmetterlinge wollen keine Geschichte schreiben.)

Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Genau am Tag ihrer Beerdigung (in Utrecht) fing mein Herz an, sich zu wehren. Es konnte, wollte, durfte nicht mehr. Die medizinische Sprache sagt es so: Ein Herzinfarkt bahnte sich an, der Dichter in mir meint: Ich trauerte dem Schmetterling nach, trauerte allem nach, was nicht anders geht, als sich vergeblich wie ein Schmetterling zu verhalten.

06.08.2011

Samuel ist unterwegs (6). Wir wollten nicht warten

Ja, die Zeit war reif. Warten war nicht mehr möglich. Worauf sollte ich warten? Wenn man bereits unten angekommen ist, wo Wendung und Entscheidung nicht länger transparent sind und der Zug des Lebens, der Verwandlung, der Geschichte spürbar ist, kann man ohne Orientierung nicht mehr warten. Die Wahl zur zweiten Wahl ist keine Wahl.

Die Menschen, die meine unmittelbaren Menschen waren, hatten eine Spur ostwärts und am Ende dieser Spur ein Loch bis ins Innere der Erde hinterlassen, das mich anzog. Als ich auf die dunkle Stelle schaute, drohte ich mich zu verlieren, als ob etwas mich dahin verführen, mich dahin verschwinden lassen wollte – wäre ich dahin gegangen, hätte ich mich aufgeben müssen. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, mich in meinen Sehnsüchten, Vorsätzen und Entscheidungen aufrecht zu erhalten.

Ich wendete meinen Blick ab. Nein, ich spreche heute nicht von der Trauer, die bei mir einzog, nicht von diesem Schatten, die mich seitdem begleitet, von dieser zum Nachsterben geneigten Gestalt neben mit, dieser braun-gelb-roten Herbstfigur, die den Dichter in mir weckte. Mit dem Abwenden meines Blickes – war dies ein Verrat? – rettete ich mich, traf ich eine Wahl, die mich betraf, mich bestimmte, mich neu erzeugte. In meinen Augenwinkeln ist das Loch allerdings noch immer da, muss meinen Kopf nur ein wenig wenden, um es zu sehen.

Mit Elegien und Requien bin ich vertraut. Nein, ich möchte heute nicht von der Trauer sprechen, weil sie mir viel bedeutet – ohne sie, so meine ich manchmal, gibt es überhaupt keine Bedeutungen, keine Wahrzeichen, keinen Sinn. Die Trauer in mir ist wie eine alte Landschaft, in der mir die Pfade, Quellen, Kapellen, Hügel und Kreuzungen bekannt sind. Nur die Gesamtheit der Landschaft ist mir eine Frage, die Einzelheiten sind mir fraglos nahe. Gilt es heute nicht, mich von dieser Landschaft zu verabschieden?

Damals wendete ich meinen Blick ab und sah den Fluss. Und über dem Fluss schien es Träume zu geben, Wolken-voller-Bilder, Wolken-voller-Beziehungen, Wolken-voller-Vorhaben, die sich in einem Gegenstrom über die breiten und ruhigen Wellen Richtung Südwesten hin bewegten, wie schwer beladene Schiffe, die andocken wollen. Die Ufer des Flusses waren jedoch leer und verlassen, ohne Ohren und Augen, hier und da standen großen Gebäude und Brücken, die kaputt waren, Häuser ohne spiegelnde Fenster. Und mir war klar: Die Träume gehörten zu einer ganzen Generation von Menschen, die nicht warten wollten.

Wir wollten nicht warten. In den Wolken-voller-Bilder war von rechts nach links ein Ereignis eingeschrieben, das stattgefunden hatte, als wir nicht mehr so ganz oben waren, als wir die Nähe des Lebens in Raum und Zeit bereits spürten. Eine leuchtende Gestalt, die sich in der Mitte des bewegenden und webenden Zusammenseins zahlreicher Wesen aufhielt, wurde auf einmal verdunkelt, ich empfand es so, als ob eine Sonne verdeckt wurde. Irgendwie spürten alle Wesen, dass mit der Verdunkelung ein Opfer verbunden war, ein Verzicht der leuchtenden Gestalt gerade auf seine strahlende Kraft und seine tragende Macht. Was Kern und Mitte war, wurde aufgegeben, wurde abgegeben, wurde zersplittert.

Und an der Stelle der Sonne erschien ein schwarzes Kreuz, das neue Koordinaten kreierte, neue Richtungen öffnete, sich bin ins Unendliche ausdehnte, und sich in allen Erscheinungen zu wiederholen schien, alles zum Kreuz machte. In dieser Räumlichkeit des Kreuzes – ich kann es nicht beschreiben: ein Kreuz als Raum – wurde alles auf einmal in größere oder kleinere Kreuze verwandelt, nicht übersichtlich geordnet (wie auf den militärischen Friedhöfen in der Normandie), sondern wirr mäandernd durcheinander (wie in einem Tanz).

Das große Kreuz ging in die Diaspora. Es setzte nicht mehr auf Kern und Mitte, sondern auf Umkreis und Peripherie. Es war bereit sich zu verlieren, um Einzelheiten und Nebensachen groß zu machen, um Tod und Auferstehung in allen Ecken des Lebens wirken zu lassen, um Wink und Wendung in jedem Detail zu ermöglichen. Und wir alle wussten irgendwie: Die Verwandlung konnte nur da unten vollendet werden, konnte nur in Raum und Zeit gelingen, nur dort, wo der Abgrund sich öffnet, und das große Schweben gelernt werden muss.

Und als ich auf das kleine Kreuz schaute, das sich in mir aufgerichtet hatte, traf ich meine zweite Wahl. Ich schaute wieder nach unten und sah einen Soldaten in Indonesien, der für seine Geliebte in Holland verzweifelte Tagebücher schrieb. Er war, ohne es zu wissen, unterwegs zu mir. Und seine Geliebte wurde dann meine Mutter.

30.07.2011

Was ist am Menschen gemeinnützig? Über selbstlose Förderung

„Gemeinnützigkeit“, so besagt Wikipedia, „ist ein rein steuerrechtlicher Tatbestand“. Ich lese diesen Satz so, als hätte der Begriff der Gemeinnützigkeit nur im Rahmen des Steuerrechts eine Bedeutung. Laut deutschem Gesetz sind „Körperschaften“ gemeinnützig, „wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“.

Nur „Körperschaften“ können gemeinnützig sein – sie werden definiert als „mitgliedschaftlich verfasste und unabhängig vom Wechsel der Mitglieder bestehende Organisationen, die ihre Rechtssubjektivität nicht der Privatautonomie, sondern einem Hoheitsakt verdankt. Ihre Verfassung ist öffentliches Recht“.

Wenn eine „Körperschaft“ im Sinne des Gesetzes selbstlos arbeitet, braucht sie keine Steuern zu zahlen und darf Spendenbescheinigungen, die vom Finanzamt anerkannt werden, ausstellen. Wenn ich also einer Körperschaft hundert Euro spende, darf ich den Betrag von der Gesamtsumme der Einnahmen in meiner Steuererklärung abziehen. (Meine Schenkung bringt mir also einen Vorteil, der übrigens wesentlich geringer ist als der Betrag, von dem ich mich verabschiede.)

Mit „selbstlos“ ist gemeint, dass die betreffende Körperschaft keine (finanziellen) Gewinne nach sich zieht. Dass der Begriff „Selbstlosigkeit“ in moralphilosophischem Sinne weit über die finanzielle Ebene hinausgeht, spielt für das Steuerrecht keine Rolle. (Und weil das geschriebene Recht zurzeit das Denken in der Gesellschaft weitgehend beherrscht, hat der Begriff in der Öffentlichkeit kaum eine Wirkung.)

In einer Sitzung der Stiftung Soziale Zukunft (Treuhandstelle GLS) stellte mein Gesinnungsgenosse Johannes Stüttgen vor ein paar Wochen eine interessante Frage. Weil die Stiftung dringend Nachschub braucht – in manchen anthroposophischen und anthroposophisch angehauchten Kreisen scheint es nicht einfach zu sein, junge Menschen zu finden, die die Arbeit fortführen wollen. Ein Thema für sich... – waren wir gerade dabei, ein Treffen mit „jungen Leuten“ im Oktober vorzubereiten. Als Arbeitsthema für das Treffen schlug Johannes die Frage vor: „Was ist am Menschen gemeinnützig?“

Laut Steuerrecht kann es diese Frage gar nicht geben, weil sich Gemeinnützigkeit nur auf „Körperschaften“ bezieht, das heißt: Mit individuellen Personen kann und darf und soll sie gar nichts zu tun haben. In der öffentlichen Gesellschaft gilt allgemein, dass die „selbstlose“ Förderung von Personen den jeweiligen Familien, Freunden und Bekanntschaften überlassen wird. Um es präzise zu sagen: Als Bürger (als Subjekt des öffentlichen Rechts) kann ich eine Person nicht „selbstlos“ finanziell fördern, ich kann es nur als souveränes „Selbst“ (Laut Michel Foucault: eine Einheit, die nicht „subjektiviert“ ist).

Für die genannte Stiftung ist die Frage von Johannes Stüttgen allerdings wesentlich, weil sie gerade das Ungewöhnliche will: Mit finanziellen Schenkungen freie Personen fördern. Und wenn man das will, stellt sich die Frage: Was ist am Menschen gemeinnützig? Oder anders gefragt: Was am Menschen soll fürs Wohl der ganzen Gemeinschaft frei gefördert werden? Oder noch anders gefragt: Wenn mir nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen (die Mittel sind immer beschränkt, auch wenn man Bill Gates heißt), wie komme ich dann dazu, den einen Menschen zu fördern, den anderen aber nicht?

Um meine Launen, meine Sympathien und meine religiösen oder ideologischen Präferenzen kann es dabei nicht gehen. Auch kann Nützlichkeit, das heißt, der konkrete Vorteil einer bestimmten Förderung für die Gesellschaft, kein Thema sein. Ich muss in den betreffenden Menschen „etwas“ wahrnehmen, dessen Bedeutung über Lust, Ideologie und Nützlichkeit hinausgeht. Was könnte das sein?

Ich würde sagen, dass selbstlose Förderung nicht das „Subjekt“, sondern das „Selbst“ eines Menschen betrifft. (Über den Unterschied siehe meine Blogs über „Selbst und Subjekt“). Je stärker eine Person aus ihrem Selbst lebt und ihre Subjekte (den Bürger, die Mutter, die Lehrerin, den Künstler) von ihrem Selbst aus in Freiheit eine Richtung gibt, umso deutlicher tritt die Einmaligkeit eines Menschen ans Tageslicht. Foucault sprach an dieser Stelle davon, dass auf diese Art und Weise aus der Biographie ein Kunstwerk gemacht werden könne.

In einer Kultur des Herzens geht es um die Aktivierung des Selbst, vor allem auch im öffentlichen Bereich. Die selbstlose Förderung unseres Selbst ist nicht eine rein private Sache.

22.07.2011

Samuel ist unterwegs (5). Eine Spur bis zum Ende der Welt

Ich habe damals, als ich noch nicht geboren war, die Errichtung des Hauses, in dem ich meine Kindheit und Jugend in Arnhem verbringen würde, nicht bemerkt. Ich war auf einen anderen Ort orientiert, am gleichen Fluss auf eine andere Stadt, die in den Annalen wohl Colonia genannt wurde, auf einen Namen, der da oben nicht zur Sprache kam, weil es dort keine Wörter gab, und der nur Farbe war: grün und gelb und ein bisschen blau. Ich schaute ins Grün-Gelb-Blaue hinunter, suchte und suchte, fand aber kein Haus und keine Menschen, die meine Menschen waren, ich fand zwischen den Farben nur schwarze Löcher.

Die Menschen, die meine Menschen waren, gab es nicht mehr. Sie waren weggezogen. Vage meinte ich eine Spur ostwärts wahrnehmen zu können, eine Bewegung, die ich viel später – ich war bereits fünfzig – als einen Zug verstand, eine eiserne Schlange, die in einer dunklen Nacht Richtung Polen kroch, über Gleise und Weichen, die in verlässlicheren Zeiten festgeschraubt waren. Es ist noch nicht so lange her, dass ich den Ort fand, wo die Menschen, die meine Menschen waren, zusammen mit vielen anderen Menschen in den Zug getrieben worden waren, dort, an einem Ort, der heute Messe genannt wird. Die Uniformen der Verbrecher kenne ich nur von Bildern, nichtsdestotrotz gehören sie zu meinem Leben. Ich weiß, wie die Nazis gerochen haben.

Und irgendwo verlief sich die Spur auf einmal, als ob die Welt dort aufhörte, die Gleise und Weichen tragen konnte und meine Menschen noch haben wollte, eine Welt, die sich in ihr Gegenteil verwandelt hatte und zum Abgrund geworden war, zu einem Nichts – ich konnte da oben nicht einmal ein Flimmern oder ein Flüstern erahnen, das verraten hätte, wohin meine Menschen verschwunden waren, und was mit ihnen geschehen war. Meine Menschen waren sauber ausgelöscht worden, vom Tisch geschoben, in der Säure der Geschichte aufgelöst.

Das Haus meiner Jugend, in dem ich gelandet war, war nicht für mich gemeint. Es war eine zweite Wahl. Mein Leben fing mit einer Ausweisung an, die allerdings nicht dokumentiert war und ein unbeachtetes Ergebnis einer kalt durchgeführten Verschwörung bedeutete, eine Absage an mich und meine Menschen. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, warum mich bereits als kleines Kind das Schicksal der „Juden“ – alleine der Name dieses Volkes wirkte wie ein warnendes Signal an der Wand meiner Seele – immer wieder zur brennenden Frage wurde.

Meine Eltern konnten nichts dafür, dass sie die zweite Wahl waren; auch sie waren, ohne es zu wissen, in die Verschwörung eingebunden, wie gekrümmte Äste in einer Dornenkrone. Sie waren mir fremd, sie waren stachelig, ich konnte mich auf ihre Geschichte nicht einlassen, die Haut meines Vater war mir zu blass, seine Augen zu blau; und meine Mutter fasste mich nicht an, weil sie spürte, dass ich ein fremdes Küken war. Erst nach tausend Umwegen habe ich es verstanden: Meine Mutter war vom Rätsel ihres ersten Sohnes überfordert. Nicht, dass sie mich nicht geliebt hätte, sie konnte ihre Liebe nur nicht einordnen, weil sie immer mit einer ungreifbaren und schmerzvollen Frage einherging. Sie war jung, so jung, und nicht vorbereitet auf düstere Fragen. Ja, irgendwann in der Biographie muss es passieren: Deine Eltern werden deine eigenen Kinder.

Und mein Vater? Als er jung, so jung war, hat der Niederländische Staat ihn zu einem Soldaten gemacht und ihn nach Indonesien geschickt, ihn eingebunden in eine andere Verschwörung, die in meiner Jugend nie thematisiert werden durfte, weil die Lügen und Verbrechen offenbar waren. Soldat ist er immer geblieben, seine Treue hat nie nachgelassen; sein Gott durfte sich nie auf die Feinde ausweiten, liebevoll und großzügig sein, wie es doch unmissverständlich die Heilige Schrift vorschrieb. Mein Vater hatte sein Herz in Indonesien verloren. Und als er zurückkam und ich geboren wurde, hat er es sofort gespürt: Meine Loyalität galt nicht ihm, nicht seinem Gott, nicht seiner Geschichte, nur seinen Schriften. Ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um ihn lieben zu lernen.

16.07.2011

Samuel ist unterwegs (4). In einer Wunde des Krieges

Arnhem – Utrecht – Amsterdam: Horizontale Trinität in meinem Leben, eine Bewegung von einem sich öffnenden Anfang über eine geschlossene Mitte bis zu einem sinkenden Ziel. Ich sage es heute: Amsterdam ist dabei zu versinken, entfaltet seine letzten Kräfte im Geschehen eines langsamen Verschwindens, versucht jedoch definitiv Schiff zu werden, sich von innen aus beständig zu machen, um irgendwann mal als Gesamtheit auszufahren, dorthin, wo ihre Gründer, die Wikinger, stolz auf festen Felsen lebten. Der Versuch dürfte allerdings scheitern, weil die Stadt – hat Rembrandt es uns nicht gezeigt? – ihr Gold nur im Versinken findet.

In Arnhem bin ich aufgewachsen. Der Name bedeutet: Ort wo die Adler zu Hause sind. Und so ist es auch: eine Jugend in dieser Stadt führt dazu, dass man sich über die klaren Bäche, die sanften Hügel, die sandigen Pfade und die Lichtungen im Wald erhebt, einen in die Höhe gefestigten Blick entwickelt, der auf Überblick und Zusammenhang ausgerichtet ist. Nur der Adler ist in Arnhem wirklich zu Hause, alle anderen Tiere sind Gäste.

Die Adler sind jedoch längst verschwunden – aber wohin? – und haben den Menschen das Adlerbewusstsein überlassen, dieses In-Kreisen-Schweben, diesen Weitblick zu haben, um das Eine und Einmalige irgendwann einmal greifen zu können. Was es noch gibt, sind die Hügel und die Bäche, die Pfade und die Lichtungen, und auch die Geister, die ihr Verbleiben tief in der Veluwe haben, sich manchmal in die nördlichen Gegenden der Stadt wagen, und in den Menschen vage Sehnsüchte wecken, stille Gefühle, die mit den geräuschlosen Trolleybussen übereinstimmen.

Die Straße, in der ich lebte, ist etwa einen knappen Kilometer lang und läuft gerade von den sich im Stillstand bewegenden Hügeln im Norden bis zu der flachen und sich in der Weite verlierenden Rheinebene im Süden. In diesem Übergang tritt das Wasser ans Tageslicht, in Bächen, Teichen und Quellen, verlässt die verbergende Sauberkeit den Sand und bietet sich den Forellen, Karpfen und Schwänen an, den Millionen Stichlingen auch, die mühelos Generation auf Generation hervorbringen und irgendwie wissen: Für die Nachkommen müssen wir verlässlich da sein.

Sauberes Wasser, das aus einem dunklen Untergrund an die Oberfläche sprudelt, um von einer hohen Warte heraus bemerkt zu werden: Hat Arnhem nicht dieses Grundbild in meine Seele eingeschrieben? Bin ich nicht immer noch dabei staunend und begierig auf das Klare zu schauen, das aus einer Tiefe himmelwärts hoch sickert, um letztendlich von dem großen Fluss, dem allmächtigen Strom mitgenommen zu werden, bis zum Ozean, wo alles Wasser wieder in sich kehrt, und sich in einer Unendlichkeit verliert?

Arnhem vollzieht sich noch immer in mir. Und das gilt auch für die Schlacht, die sechs Jahre vor meiner Geburt in der Stadt wütete, als die Alliierten mit Fallschirmen kamen und – noch schwebend zwischen Himmel und Erde – von den deutschen Soldaten wie Rebhühner abgeschossen wurden. Die verzweifelten jungen Männer, die Jagenden und die Gejagten, tobten noch immer herum. Ich bin ihnen als Kind begegnet, gerade auch dort wo die Wohnung war, in der ich mit meinen Eltern und Geschwistern lebte. Gerade an dieser Stelle explodierte eine kräftige Bombe, und in diese Wunde wurde kurz vor meiner Geburt das Haus meiner Jugend gebaut.

08.07.2011

Nochmals über das Selbstbewusstsein. Der Übermensch von Nietzsche

Unser Selbstbewusstsein scheint uns aus einem dunklen Untergrund hervor gegangen zu sein, den wir „Körper“ nennen könnten, oder „Materie“ oder „göttlichen Urgrund“ oder eben (wie Nietzsche gelegentlich meinte) „eine Krankheit“, oder einfach „Welt“.

Das Selbstbewusstsein scheint einerseits in komplexe Vorgänge eingebettet zu sein, die wie ein ständiger Geburtsgrund zu verstehen sind, vollzieht aber andererseits sofort nach seiner Geburt eine negative Emanzipierung: Es dreht sich quasi hundertachtzig Grad um, schaut wie Orpheus in die Unterwelt, die er gerade hinter sich gelassen hat, und versucht sich davon adäquate Vorstellungen zu machen.

Was das Selbstbewusstsein dann allerdings zu sehen bekommt, sieht aus wie ein sich zurückziehendes Gespenst: seine Geliebte Eurydike, die im Nebelhaften verschwindet. Gerade das, was ihm vertraut ist, versinkt im Dunkel. Und weil das Selbstbewusstsein in der Welt keinen Halt findet, durch das es hervorgerufen wird, gerät es in einen merkwürdigen Zustand. Es konstruiert ununterbrochen Gedanken, die es, wenn es ehrlich ist, ständig wieder dekonstruieren muss.

Den EINEN Gedanken, der ihm seinen Platz in der Welt erklärt, findet er nicht.

Positiv formuliert könnte man allerdings über den Menschen am Abgrund sagen: Er ist uns ein Rätsel. Dank Friedrich Nietzsche ist dieses Rätsel schon von Anfang an grundsätzlich von psychologischen Spekulationen und moralischen Ansprüchen frei, und damit paradoxerweise unantastbar.

Bemerkenswert ist, dass Nietzsche in seinen Texten immer zwischen den beiden Positionen, der negativen und der positiven, hin und her schwankt. Er scheint zu wissen, dass es sinnlos ist, dem Leben einen gegebenen Sinn abzuverlangen, scheint aber zu wollen, dass er irgendwann einmal vom Gegenteil überzeugt wird.

Und stärker noch wagt er zu denken: Wenn das Leben bis zum heutigen Tag angeblich sinnlos war, können wir ihm vielleicht noch heute dadurch einen Sinn verleihen, dass wir ihm von uns aus die Bedeutung zuschreiben, die wir ihm zuschreiben wollen.

Der Mensch, der dementsprechend tut was er will, heißt bei Nietzsche bekanntlich „der Übermensch“. Der Versuch – Kern des postmodernen Denkens – die Frage der Bedeutung des Lebens in den Bereich des menschlichen Wollens zu verlagern, prägt das wollende Denken oder das denkende Wollen Nietzsches.

02.07.2011

Quantensprung des Bewusstseins. Nicht reflektieren, sondern initiieren

Die direkte und unumgängliche Erfahrung, dass am Menschen so etwas wie Bewusstsein haftet, hat zu der weit verbreiteten Vorstellung des Unbewussten geführt. Unbewusst ist alles das, was nicht bewusst ist. Und bei fast allen modernen und postmodernen Philosophen herrscht der Gedanke, dass das Unbewusste den Grund für das Bewusstsein ausmacht: Erst gab es das Unbewusste, dann kam das Bewusste hinzu.

Gerade dasjenige, was wir nicht direkt erfahren, wird also als Geburtsgrund unseres Bewusstseins verstanden. Dieser Umstand lässt sich mit dem Wasser eines Baches vergleichen. Wir wissen, dass der Bach eine Quelle hat, die irgendwo unter der Erde verborgen sein mag. Wenn wir wollen, können wir uns aufmachen, um sie ausfindig zu machen, und irgendwo, zum Beispiel in den Bergen, werden wir die Stelle finden, wo das Wasser ins Tageslicht dringt. Und wir sagen dann: „Hier fängt der Bach an!“

Von der entdeckten Quelle des Baches als dessen Anfang zu sprechen, ist allerdings nur sehr beschränkt richtig. Es ist gar nicht festzustellen, woher das Wasser letztendlich kommt: Von unten als Quellwasser oder von oben als Regenwasser? Von links oder von rechts? Ist zum Beispiel der Ozean letztendlich als Anfangsreservoir oder als finales Sammelbecken zu betrachten? Das Wasser hält sich überall auf, hat keinen Anfang und kein Ende, strömt manchmal mächtig, verliert sich manchmal hilflos im Sande, sprudelt hier, ruht dort, fließt oder hält inne, schmeckt süß oder salzig.

Mit dem Bewusstsein ist es nicht anders. Der hartnäckige Gedanke, dass das Bewusstsein aus den ungeheuerlichen (Nietzsche) Untergründen des Lebens hervorgeht, ist eine reine Annahme, eine Vorstellung des Bewusstseins, das offenbar meint, sich in seinem unvermeidlichen Zustand des Schwebens selbst nicht handhaben zu können. Der moderne Mensch ist deswegen als eine paradoxe Erscheinung zu beschreiben: Er traut sich nicht zu eine Verankerung darin zu finden, was ihn bestimmt, nämlich in seinem Selbstbewusstsein.

Das moderne Selbstbewusstsein ist als eine offene Wunde zu verstehen. Was allerdings weh tut, ist nicht das Bewusstsein selber, sondern der Schatten – der Rand der Wunde – der durch das Licht des Bewusstseins sichtbar und spürbar wird. Das rätselhafte Anecken an das Dunkle, das Fremde, ja, das Ungeheuerliche-der-Welt, an alles das, was „Ich“ offenbar nicht bin, was irgendwie in meinem spontanen Akt der Selbstfindung ausgeklammert werden muss, erzeugt einen tiefen Schmerz (der übrigens, wenn wir ihm in uns nachgehen, sowohl salzig als auch süß schmeckt).

Zurzeit wird in spirituellen Kreisen davon gesprochen, dass die Menschheit in Bezug auf das Selbstbewusstsein vor einer Art „Quantensprung“ steht. Ich glaube, dass das stimmt. In unterschiedlichen Diskursen gibt es diesbezüglich unterschiedliche Sprachregelungen, die ich hier nicht diskutieren kann und will. In meiner Sprache sieht dieser Sprung jedoch wie die Heilung einer Wunde aus, die den Menschen zu einem freien Weltbürger gemacht hat.

Der Sprung ereignet sich nicht dadurch, dass das Bewusstsein vom Ungeheuerlichen wegspringt, sich sozusagen umdreht und „in die Höhe“ weg katapultiert, sondern dadurch, dass es mit sich selber verschmilzt, sich mit seinem Zustand des Schwebens quasi „versöhnt“. Der Sprung scheint mir darin zu liegen, dass das Bewusstsein sich als eine frei schwebende Verankerung versteht, gleichzeitig als Nullpunkt und als Umkreis, als eine Erscheinung, MEINE Erscheinung, die wie das Wasser tausend Gesichter hat. Das neue Bewusstsein erlebt: Mit mir fängt die Welt an, egal wo ich mich befinde, egal wie ich mich verhalte, egal was ich „denke“.

Das Bewusstsein springt in sich selbst, und somit in die ganze Welt, oder besser gesagt: springt in alles. Für das menschliche Bewusstsein wird die Erfahrung entscheidend, dass nichts „existiert“, ohne dass es „dabei“ ist. Eine Blume, eine Landschaft, eine Begegnung oder ein Geschehen wird erst dann als Blume, Landschaft, Begegnung oder Geschehen vollständig, wenn das Bewusstsein des Menschen sich dafür aufschließt.

Nicht das Unbewusste hat das Bewusste hervorgezaubert, das Bewusste hat das Unbewusste kreiert. Das neue Bewusstsein wird sich als eine Kraft verstehen, die stiftend in der Welt wirksam ist. Nicht nur, dass das Unbewusste aus seinem Schlaf erweckt wird, es wird darüber hinaus zu einer Bestimmung geführt, die noch nicht vorhanden war. Das menschliche Bewusstsein wird bestimmen, was Blumen, Landschaften, Begegnungen und Geschehnisse ausmachen.

Es spiegelt oder repräsentiert nicht nur, sondern es gestaltet. In diesem Sinne ist auf Martin Heidegger zurückzugreifen, der vom Denken-als-Ereignis sprach. Das neue Bewusstsein verlegt sich von den geschlossenen Köpfen in die offenen und beteiligten Herzen der Menschen, was ja bedeutet, dass es sich als souveräner Erzeuger von Ereignissen ernst nimmt. Statt zu reflektieren macht ein Initiieren seine wesentliche Tätigkeit aus.

25.06.2011

Samuel ist unterwegs (3). Was Lehm war, wird Sand

Hinter Utrecht wird alles anders. Was Lehm war, wird Sand, der vor unvorstellbaren Ewigkeiten von Eismassen dorthin gedrängt wurde, wo ich mich gerade befinde. Von der damaligen Präsenz des Eises ist nicht einmal eine Erinnerung übriggeblieben, keine Legende, kein Name, nur eine Landschaft als Negativ, das sich durchgehend ins Positive bewegt. Der Sand ist wie eine offene Schale, in der altes-frisches Licht aus Vorzeiten hervorgezaubert wird. Die Hoheit des hohen Nordens hat die Landschaft nie verlassen.

Die Region heißt Veluwe, was „gelbe Aue“ bedeutet. Aus Sicht der Achse zwischen Amsterdam und Köln liegt sie links im Abseits, mehr als ein freilassender Hinweis auf Uraltes will sie nicht sein. In meinem Leben allerdings ist sie eine Hauptsache, geistige Gebärmutter, der Traum, aus dem ich aufgewacht bin. Sie war in meiner Jugend der Ort-der-echten-Dinge, die Bühne meiner wahren Empfindungen. Irgendwie ist aus ihr eine Gestalt hervorgekommen, die mir zum Gefährten geworden ist, und mir immer wieder hilft, mir eine Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die ich nicht einmal denken kann.

Holland ist sichtbar dunkel und spürbar jung, kämpft um seine Existenz, jeden Tag wieder. Die gelbe Aue ist unsichtbar hell und unfassbar alt, braucht sich nicht zu beweisen, wartet einfach im Abseits, bis sie von erwachten Menschen als Hauptsache anerkannt wird. Ihre Sprache mag langsam sein, ihre Sanddünen schwer zu begehen, ihre Wasserquellen tief, ihre Götter in dunklen Wäldern versteckt, ihre Bewohner verschlossen, ihr Warten ist jedoch groß und unbeirrbar, wie das Warten des Nordens überhaupt. Mit der Veluwe fängt Hibernia an.

Was ich damals als Kind gefunden habe – die grünen Steine, die Heideblumen, die toten Eidechsen, die Häute der Schlangen – das liegt alles noch immer in meiner Hand. Und die Gerüche sind noch in meiner Nase, reichen tief und stiftend im mich hinein, wecken mich zu etwas Unbestimmtem, erzeugen undenkbare Gedanken, eröffnen Felder der Sehnsüchte, machen alles groß und unbeirrbar. Und vor allem: Was unvorstellbare Vergangenheit ist, verschmilzt mit unvorstellbarer Zukunft.

Als der Zug an der Kleinstadt Ede vorbei rast, sitze ich wieder in dem Wohnwagen. Ich bin dreizehn Jahre in der Zeit zurückversetzt, es ist Herbst, das Leben scheint an einem Nullpunkt angekommen zu sein, mein Herz ist schwer, mein Körper erschöpft, meine Arbeit kommt mir sinnlos vor, das Warten ist unerträglich geworden. Und ich weiß im Nachhinein, während der Zug nicht mehr als eine halbe Minute braucht, um den Ort hinter sich zu lassen: Damals hat der Text, den ich gerade schreibe, angefangen.

Das, was von rechts nach links läuft, was also im Kommen ist, wird von einer Sprache getragen, die langsam und gewaltig ist. Wahre Texte sind keine Nachrichten, auch keine Erzählungen oder Protokolle, sondern Ereignisse. Und Nullpunkte sind keine biographischen Krisen, sondern Durchgänge, geheime Passagen, Öffnungen außerhalb allem Vorstellbarem, Lichtungen jenseits bereits Bekanntem. Der kleine Wohnwagen in Ede, etwa vierzehn Quadratmeter Grabzimmer, ist in mir noch immer da. Es ist jedoch leer.

18.06.2011

Berufswege. Ein Film von Caroline Schwarz und Joshua Conens

Ich mag Filme. Seit ich die wunderbaren Geheimnisse der sich bewegenden Bilder bei Cineasten wie Fellini, Antonioni, Kubrick und Tarkovski kennengelernt habe, hat meine Faszination für den Zauber des Filmes nicht mehr aufgehört. Die Art und Weise wie Fellini in seinem „Roma“ die Kamera nicht verbirgt, sondern in den Verlauf der Bilder mit einbezieht, hat mich gefesselt; und die erste Szene von Tarkovskis „The Sacrifice“ – die Kamera läuft etwa neun Minuten ohne Schnitt – hat mir den Atem genommen.

In der Filmkunst steigert sich das Spiel zwischen Illusionen und Wirklichkeiten bis ins Unmögliche. In guten Filmen – davon gibt es nicht ganz so viele – ist alles gleichzeitig grundsätzlich falsch und grundsätzlich wahr. Schein und Wesen werden auf eine unerträgliche Art und Weise aufeinander bezogen; sie werden in eine Spannung versetzt, die eine „ästhetische“ Erfahrung erweckt. Ohne unwahre Repräsentationen ist eine Annäherung an die Präsenz nicht möglich. Das Wesen des Schönen (und Hässlichen – Hässlichkeit gehört zur Schönheit) zeigt sich in der Lüge des Zaubers, oder anders gesagt: Die Göttin Maya wird nicht ausgeschlossen, sondern gerade liebevoll eingeladen. Ihr Wille zum Schein wird vom Willen zum Wesen umfasst.

In dem Film „Berufswege“ von Caroline Schwarz und Joshua Conens liegt eine Kameraführung verborgen, die allerdings ständig sichtbar ist, weil sie in ganz bestimmten Händen liegt. Durch die Bewegungen dieser „Hände“ wird sichtbar, dass etwas ganz Bestimmtes gewollt wird. Rein äußerlich ist der Film, wie die beiden Filmemacher schreiben, „ein Filmporträt von drei Menschen mit individuellen Berufen und Berufswegen. Im Mittelpunkt steht für sie, etwas zu tun, was ihnen wirklich wichtig ist – dafür haben sie neue und ungewöhnliche Wege gefunden. Was sie verbindet, ist die Suche nach Selbstbestimmung“.

Sobald man sich von den Bildern mitnehmen lässt und den Schritten der drei „Menschen“ folgt – sie gehen zum Beispiel in Räumlichkeiten hinein, locker oder entschieden – kommt man in eine Art des Wahrnehmens, die filmisch nicht besonders stilisiert ist; es sieht manchmal einfach und selbstverständlich aus, der Blickwinkel der Kamera ist weder klug ausgedacht noch folgt sie einem ästhetischen Konzept. Die ruhigen Bewegungen der verborgenen Hände, das An- und wieder Aus-Zoomen und die rhythmischen Schnitte erzeugen die Illusion einer Nähe aus der Distanz, die eine Sehnsucht nach Nähe erzeugt.

Was gezeigt wird, ist schlicht und einfach liebenswert. Und stärker noch: Durch die Illusion der Nähe werden nicht nur drei Menschen „geliebt“, sondern auch die Zuschauer, die im Grunde genommen keine Zuschauer sind, sondern Beteiligte. Ich fühle mich als Wahrnehmender auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen, und dadurch, dass ich wahrgenommen werde, fange ich an, auf eine bestimmte Art und Weise wahrzunehmen. Die wunderbare Illusion kann nicht größer sein: Ich empfinde mich als verborgener Gegenstand des Filmes. Der Film ist gleichzeitig für mich gemacht und er handelt über mich.

Schlicht und einfach ist nie schlicht und einfach. Schlicht und einfach ist immer das Ergebnis eines intuitiven Handelns, das nicht von schlauen Überlegungen gehindert wird, sondern ein direkter Ausdruck einer Liebesaufgabe ist. Am Anfang des Filmes wird ein Zitat von Goethe gebracht, ein Satz, der eigentlich nie im Hier und Jetzt ausgesprochen wird, weil er eine große Wahrheit beinhaltet. Von mir aus hätte der Film allerdings auch ohne die Aussage auskommen können, er braucht das Zitat nicht als Bestätigung.

Das Zitat lautet: „In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt habe könnte. Was immer du kannst, beginne es. Kühnheit trägt Genius, Macht und Magie. Beginne jetzt“.

Klar, ich hätte das Zitat auch gebracht. Es ist zu schön, um einfach im Bücherschrank zu verblassen. Es ist vielleicht die beste Umschreibung einer Kultur des Herzens, die ich je gelesen habe, weil es auf etwas setzt, was im Kommen ist. Der Film handelt nicht nur über drei Menschen, die sich endgültig einer Liebesaufgabe verschrieben haben, sondern auch von sich selber als Aufgabe, als Statement, als Ereignis. Und er handelt von allen Menschen, die sich auf die Aufgabe von Caroline Schwarz und Joshua Conens einlassen wollen, dass heißt: Vom Wahrnehmenden zum Beteiligten gemacht werden zu wollen.

Gute Filme entzünden, stiften, öffnen, verbinden, verknoten, verschränken, berühren, verführen, spielen das Spiel der wesentlichen Illusion... Ich würde sagen: Bestellt bitte den Film! Schaut mal bei: www.berufswege.com

12.06.2011

Samuel ist unterwegs (2). Unter dem Wasserspiegel von Utrecht

Die Landschaften warten bereits in mir. Sie sind von Ost nach West in mir aufgezeichnet, der Bewegung meines Lebens entsprechend. Ich reise allerdings von West nach Ost, gegen den Strom der Zeit, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart läuft. Ich gehe also auf meine Vergangenheit zu, die bereits in mir vorhanden ist. Ich buchstabiere heute – kann es leider nicht anders – von links nach rechts, begebe mich jedoch in eine Bewegung, die mich an Altes erinnert: an ein Schreiben von rechts nach links.

Reisen bedeutet: Altes in neuen Zusammenhängen wiederzufinden. Der Bahnhof von Utrecht ist als leere Mitte des Landes und meines Lebens gemeint, als Ort des notwendigen Aussteigens und des sofortigen Einsteigens. Dort verbleibt man eine kurze Weile, weil man gerade dort nicht bleiben will. In diesem Loch kauft man sich Zigaretten, englische Romane, Brötchen und Coffee-to-go – man nimmt sich, was man unterwegs zum Überleben braucht. Es gibt wenige Orte, wo ich so oft, so hastig und so dumpf war, so schläfrig im Vorübergehen, früh morgens, spät abends, umgeben von lebendigen Gespenstern der Leere, die Gespenster sind, weil sie nicht bemerkt werden.

Diesmal brauche ich nicht umzusteigen. Ich schaue aus dem Fenster, sehe meine fröhlichen Landsmänner und -frauen auf die Rolltreppen gehen, die Gratiszeitungen locker unter den Arm geklemmt. Und wieder kommt die Frage hoch: Was haben die Niederländer, was die Deutschen nicht haben? Sie scheinen im Gehen ein ganz kleines bisschen weniger Widerstand überwinden zu müssen, werden getragen von einem Hauch Luft, oder ist es Wasser-in-Luft? Bestehen ein paar Prozent des gehenden Bemühens nicht eigentlich aus einem Fliegen oder Schwimmen? Das Leben flattert ein bisschen vor sich hin, eine Grundlage scheint es nicht wirklich zu brauchen.

(Die Zeitungen in Deutschland sind nie gratis und dazu immer schwer mit Wahrheiten beladen; sie werden eher fest in Taschen gesteckt, am liebsten solide und unsichtbar eingebaut in Taschenfundamente.)

Utrecht. Ich habe etwa zehn Jahre in dieser Stadt gelebt. Sie ist in mein Inneres wie eine Mauerarbeit aus alten und nassen Backsteinen eingebaut, die gerade noch nicht auseinander fällt. Die Stadt hat mich als Jugendlichen und als jungen Erwachsenen erlebt, umgekehrt war sie für mich immer ein älterer Herr, der hauptsächlich damit beschäftigt war, nicht in seiner Vergangenheit zu ertrinken. Alles was an Utrecht fremd ist und mir vertraut, habe ich in dieser Stadt kennengelernt: die englischen romantischen Dichter, die deutschen Philosophen, den französischen Käse... Ich habe damals meine Seele wie einen Koffer mit auch mir unbekannten Geheimnissen in der Innenstadt herum geschleppt. Der ältere Herr wollte meine Grundlagen nicht erkennen, bot mir allerdings in seiner verzweifelten Unachtsamkeit die dunklen Keller direkt am spiegelnden Wasser an, wo ich den Schlüssel fand: Blues.

Utrecht, es ist wahr: in deinen unsichtbaren Untergründen, in dem, was unter deinem Wasserspiegel wartete, lag unbemerkt meine Zukunft. Ich brauche nur die Kellertür zu öffnen, um die Poesie wieder zu hören, das leicht-schwermütige Singen des freien Wollens, des rhythmischen Schreibens von rechts nach links, den lockeren Aufbruch aus der Dunkelheit ins kommende Leben. Du bist mir fremd geblieben, hast mich jedoch in Ruhe gelassen und mir den Weg zu mir erlaubt. Und jetzt, wenn der Zug noch ein wenig wartet, nehme ich mir zum ersten Mal in meinem Leben die Freiheit, dir zu danken.

04.06.2011

Ein Vertikal

Ein Vertikal
gebiert
die Welt,

wenn Vertikal
den Leib
fixiert;

wenn Vertikal
sich denkt
und lenkt;

wenn Vertikal
rechts links
ergreift;

wenn Vertikal
vibriert
und brennt;

wenn Vertikal
den Raum
nicht braucht;

wenn Vertikal
die Zeit
aufhebt;

wenn Vertikal
streng steht
wie Ich;

wenn Vertikal
auch mich
beschränkt;

wenn Vertikal
sich breit
verneint;

wenn Vertikal
kein Wort
versteht;

wenn Vertikal
erscheint
als Gott,

gebiert
die Welt
ein Vertikal.

27.05.2011

Samuel ist unterwegs. (1) Und radiert ein Selbstporträt

Der Zug macht sich frei von der Stadt. Langsam gleitet er über die Gleise, schüttelnd und manchmal eben singend, bedachtsam auch, als ginge es um seine letzte Fahrt, bei der er die Kurven durch die alten Viertel noch einmal in sich aufnehmen will. Als kurz darauf links und rechts die großen Bürotürme und Einkaufshallen am Stadtrand erscheinen, lässt er sich auf die Geradlinigkeit ein, gewinnt an Geschwindigkeit und akzeptiert was er ist: ein Eilzug. Ich spüre, wie mein Rücken gegen den Sitz gepresst wird, als ob der Zug mir sagt: Ich weiß, dass du da bist, ich befördere dich.

Ich schaue aus dem Fenster. Die Landschaft ist mir durch und durch bekannt, umschlingt nicht nur den Zug und meinen Körper, sondern auch mein Inneres, irgendwie eben mein ganzes Leben, das in meinen Erinnerungen aufbewahrt wird, ein grünes Leben in Wasser eingetaucht, von Kopfweiden und Holzbrücken und Fischreihern bevölkert. Und ich danke heute noch einmal dem großen Meister Rembrandt van Rijn, der mir den Blick geöffnet hat, für das, was im Sterben ist. Was das niedere Land einmal war, ist schon längst entschieden zur Seite geschoben worden, spricht allerdings noch in mir; und was da draußen spärlich übrig geblieben ist vom Alten, weckt die Sehnsucht zum Mitsterben.

Ich bin unterwegs. In etwa drei Stunden werde ich in Köln eintreffen, der soliden Stadt meiner Zukunft, in der Stadt mit der noch immer heilenden Haut, der Stadt der biegsamen Geschmeidigkeit... Für die Dauer der Reise werde ich allerdings dort sein, wo ich tatsächlich bin, am Fenster im Zug, bei den Orten und Landschaften also, die an mir vorüber ziehen. Ich will sie befragen. Sie gehören zu mir, zu meinem Leben, zu diesem merkwürdigen Vorgang des Daseins, des Werdens, vor allem auch des Gewordenen, dieser Kette von Ereignissen die hinter mir liegen und im Nachhinein immer wieder anders aussehen, und deswegen noch immer vor mir liegen. Irgendetwas aus der Zukunft scheint sich in meine Vergangenheit einzumischen, jeden Tag wieder, wie ein manipulierendes Gegenüber, das sich hinter den Tausend kleinen Dingen des Alltags verbirgt. Es macht alles zur Frage, auch die Orte und Landschaften, die zu mir gehören und gerade auf mich warten.

Ich heiße Samuel und mag es sehr, an einem Fenster zu sitzen. Ich bin ein Fenstermensch. Die Öffnungen für Licht und Luft sind in Vertrautes und Inneres eingebaut, gehen aus schützenden Wänden hervor, und bewirken etwas Doppeltes: Sie erlauben, dass ich bei und mit und in mir bleibe, dass ich ungestört bei mir nachfragen kann, mit mir selbst unterwegs, und wenn ich will, in mir versinken kann; und sie bieten Ausschau auf Fremdes, auf Leute und Straßen und Lastwägen und Wiesen und Esel (falls es welche gibt). Fenster ermöglichen eine sanfte Art des Tanzes, die zu mir passt, ein leises Schwenken von mir zu den Kopfweiden, Holzbrücken und Fischreihern. Der große Meister hat verstanden, was Fenster sind: Seine Radierungen sind gerade passende Ausschnitte, die ein Gleichgewicht zwischen Innerem und Äußerem herstellen.

Vielleicht werde ich heute noch öfters von Rembrandt erzählen. Sein Blick ist mein Blick geworden. Ein paar Kilometer außerhalb von Amsterdam, direkt am Fluss, steht eine alte Windmühle, eingeklemmt zwischen Ufer und Landstraße, an sonnigen Tagen wird ihrer Eigenheit laut durch gelbe Rennräder und rote Kinderwägen und orangen Hubschraubern widersprochen, allerdings noch immer angetrieben vom alten Westwind. Dass die Mühle nicht verloren geht, verdanken wir dem Blick des alten Meisters, der es auch im Nachhinein schafft, das Wesentliche im Erscheinenden hervorzuheben. Sein Blick ist mein Blick geworden, vielleicht aber noch nicht ganz: Werde ich je im Stande sein, so auf mich zu schauen, wie er gnadenlos auf sich geschaut hat?

(Fortsetzung folgt)

20.05.2011

Semai

Ich sah Dich sitzen,
plötzlich,
eingesunken,
vornübergebeugt
und weinend.

Du warst ausgehöhlt.

Das Gras war grün
und Pferde schnaubten
überall. Der Mann,
den Du nicht kanntest,
hatte um Deinen Hals
ein Seil gelegt.

Manchmal blickte er auf,
zu Dir,
sah aber nichts,
denn Deine Augen
waren von einem Vlies aus Schmerz
verdeckt.

Ich nenne Dich Semai,
so sagt es der Zug,
der sich langsam und singend
von der Stadt löst.
Ich höre die Stimme
Deines Vaters, sie spricht:
Du Traumkopf Semai,
singe das Lied über das Land,
das weit hinter den Dünen
im Nebel verschwand.

Und Du sangst. Und Dein Körper
bewegte sich schaukelnd
auf der Holzbank, hin
und her, sanft wie ein Schiff,
das ausgeladen wird. Hör!
Ein goldenes Segel erscheint
aus dem Nebel über dem Meer.
Und ein rauer Westwind
bringt alte Worte
von damals, als ein Gott
– er strahlte wie ein Mensch –
in dem kleinen Hafen eintraf,
die hohe Düne erklomm
aufs Meer zurückblickte,
schleppend, weinend sang und
weiter in den Osten zog, dorthin,
wo die leeren Orte warteten.
Und Dein Vater weiß es
wieder. Mit seinen Händen
knotet er die schweren Netze,
sieht die Schiffe wieder,
die nicht versinken konnten.
Sein Hafen ist wieder groß.

Das Gras war grün
und Pferde schnaubten
überall. Der Mann
hatte Dich gekauft.
Was wusste er vom Gold?
Was wusste er vom Hafen
und den schweren Netzen? Das Weinen
des Meeres kannte er nicht,
und sein Seil war grausam.
Er kannte nur die Hügel,
die nie schaukeln, das Gras
das nie singt, das Messer
das Brüder tötet.

Er kannte die Dämonen,
grün und groß und schnaufend,
die auf einmal erschienen,
flüchtend vor dem Glanz,
den er nicht sehen konnte.
Er schmiedete Amulette,
halbe, eiserne Monde,
die er mit seinen Stiefeln
im Boden zertrat.
Mit seinen Brüdern sprach er nicht
und seinem Pferd gab er
nur noch bittere Befehle.
Seine Angst war groß
vor den Dämonen, aber größer noch
die vor dem unsichtbaren Glanz,
dem Goldglanz aus dem Westen.

Manchmal blickte er auf,
zu Dir,
und sah auf Deinem Haar
einen Glanz, den er berühren
wollte, er tat es nie,
weil er sich nicht getraute.

Köln kommt näher und
ich habe es erfasst:
mich trägt der Boden
des Goldes, das Meer,
das einst die Schiffe brachte.

Semai: Goldkind. Küstenkind,
Beute. In der Einsamkeit
wurde Deine Seele tief. Hör
doch die Stimme Deines Vaters!
Er ruft Dich bei deinem Namen.

14.05.2011

Eine Kraftquelle in Köln. Über den umgekehrten Blues des Herzens

Zwei Jahre habe ich mit meiner Freundin in einem Penthouse in der Altstadt von Köln gelebt, direkt am Rhein. Ich habe mich in den Gassen dort sehr wohl gefühlt, immer gab es in irgendeiner Ecke Musik aus Südamerika, Jazz oder Blues aus Amerika, Chansons aus Frankreich. Vor allem in den Nächten, wenn ich bei geöffnetem Fenster an meinem Buch „Herzwerk“ geschrieben habe, genoss ich die Geigen der Zigeuner, die mich von tief unten erreichten.

Was mich vor allem immer wieder berührte, war das Wissen, dass die ganze Altstadt, nach den verheerenden Bombardements des Zweiten Weltkrieges, von den Kölnern peinlich genau wieder aufgebaut wurde. Das heutige Viertel ist ein Scheingebilde: Kein Stein liegt an der Stelle, an der er vor dem Krieg gelegen hat, nichtsdestotrotz wirkt das Ganze mehr oder weniger authentisch. Nur wenn man gut hinschaut, sieht man, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt.

Eine falsche Schönheit also, die gerade schön ist, weil sie so liebevoll falsch ist. Die Altstadt von Köln ist in einer Wunde wieder aufgebaut worden, und in den noch immer brennenden Narben werden Lieder gesungen, Gläser leer getrunken, Bücher geschrieben, Kinder geboren und kosmische Visionen ergriffen.

Ohne Wunde keine Kraft. In seinem Buch „Wege der Erdheilung“ beschreibt Marko Pogacnik, dass sich nach seinem Empfinden in der Altstadt von Köln das Epizentrum eines sich neu bildenden Erd-Herz-Chakras befindet. Die genaue Stelle heißt „An Farina“ und liegt dem alten Rathaus gegenüber, etwa vierhundert Meter von meiner alten Wohnung entfernt. Die Erde „öffnet“ dort ein neues Kraftzentrum, das in der Zukunft einen Strahlungsumkreis von etwa 800 Kilometern haben wird.

An Farina ist ein stiller Innenhof, unter dem sich ein Parkhaus befindet. Ich kann bestätigen, dass dort etwas los ist. Immer wieder, wenn ich dort bin, mich hinsetzte und mich in die Stille hinein begebe, kommt es mir vor, als ob ich von einer goldenen Flut aufgenommen und getragen und geführt werde. Die Flut ist gleichzeitig leicht und kräftig, vergleichbar mit dem Gelb, das über einer Frühlingswiese schwebt. Sie zwingt zu nichts, ist allerdings sehr präsent.

In der heiter-ernsten Flut erscheine ich mir als ein Mensch, der – nur wenn er das will – mit seinen kantigen Widersprüchen ganz sachte in ein rhythmisches Fließen gebracht wird. Es ist nicht so, dass meine Widersprüche dort aufgehoben würden, nein, gerade nicht, sie werden sogar eher bestätigt, allerdings in Farben gehüllt, die sanft und freundlich sind. Ein inneres sanft-weiß-gelbes Licht beleuchtet die dunklen Ecken meiner Seele, und befreit dort Tausend leise fröhlich-traurige Melodien.

Die Flut wirkt wie ein Paradox. Einerseits ist sie groß und tief und mächtig, andererseits schüchtern und fein und heiter. Und wenn Du die Frühlingsflut einmal in Dir zugelassen hast, bleibt sie bei Dir, begleitet sie Dich, wohin Du auch gehst. Du brauchst nur die Stille in Dir aufzusuchen, um sie zu finden.

Durch die Flut wird eine Wunde geheilt, oder vielleicht besser gesagt: In ihr wird ein unbewusstes Weinen befreit und in eine leichte Musik verwandelt, die sich wie ein umgekehrter Blues verhält: Die Melodien tragen die tiefen Bässe. Die Melodien sind unerschöpflich, meine Aufmerksamkeit für sie ist noch im Kommen. Jedes Mal, wenn es mir gelingt, eine Melodie wirklich zu hören, dröhnen quasi von oben die Bässe, die die Instrumente der kosmischen Mächte sind.

Ich möchte an dieser Stelle Marko Pogacnik danken, dass er mich auf das Herz von Köln aufmerksam gemacht hat. Im Nachhinein verstehe ich, warum ich damals das Leben in der Altstadt gerade brauchte, um in einer Penthouse-Wohnung mein Buch „Herzwerk“ zu schreiben. Und meinen Lesern würde ich empfehlen: Geht mal an An Farina vorbei... Und stellt euch dann nebenbei auch noch die Frage, warum gerade dort die wunderschöne Statue „Frauen von Köln“ aufgestellt wurde.

06.05.2011

Brennende Reisepässe. Über die Aufgabe Deutschlands in veränderten Zeiten

Letzte Woche sagte mir ein Freund: „Innerlich habe ich meinen deutschen Reisepass schon längst verbrannt. Vom staatlichen Gebilde der deutschen Republik erwarte ich nichts mehr. Ich bin überzeugt, dass Deutschland als Nation seine Aufgabe verpasst hat.“ Als ich nachfragte, machte mein Freund einen Unterschied zwischen dem Staat und dem Kulturkreis Deutschlands. „Wenn es zum Beispiel um den deutschen Idealismus geht“, so meinte er, „bin ich noch immer voll dabei.“

Wie kam mein Freund zu dieser heftigen Aussage? Ich hatte von der historischen Entwicklung Europas gesprochen, und dabei vor allem auf die Süd-Nord-Achse hingewiesen: Im Süden gab es die alten Griechen, die die philosophische Reflexion, die zu den tragenden Ideen Europas führte, gebracht hatten. Diese Bewegung vom Süden aus, gipfelte in der Renaissance und der Aufklärung. Manchmal wird das moderne Europa als ein Ergebnis dieser historischen Entwicklung verstanden.

Es gab allerdings auch eine Bewegung, die vom Norden ausging. Sie drückte sich zum Beispiel in der schwindelerregenden Wirkung der Wikinger aus, die – anders als die Griechen – nie eine große Philosophie hervor zauberten. Die alten nordischen Mysterien, die übrigens relativ spät ihre Götterdämmerung erlebten, waren komplett anders gepolt. Dort ging es vor allen um die Verwandlung von Wut in Zorn, und um ein dementsprechendes Handeln. Ohne die Wikinger, so sagte ich, wäre das heutige Europa nicht entstanden.

Und so kam ich auf Deutschland zu sprechen, das zum Herzen Europas gehört. In der Spannung zwischen dem Norden und dem Süden hat aus meiner Sicht, der deutsche Kulturkreis eine ausgleichende Aufgabe, die im Grunde genommen beide Pole vereinigt. Und ich denke, dass diese Aufgabe bis heute aktuell ist: Nur augenscheinlich liegt die Spannung zwischen Nord und Süd in einer historischen Vergangenheit. Unter der Decke der Geschichte ist sie aber noch immer wirksam.

Ich sagte in dem Gespräch, dass Deutschland und die Deutschen in Bezug auf die ausgleichende Aufgabe vor allem seit dem Holocaust stark verunsichert sind. Mit dieser Verunsicherung geht allerdings eine Stimmung einher, „a mood of the country“, die ich – gerade weil ich Holländer bin? – immer wieder spüre, und die für mein Empfinden auch eine Hoffnung in sich birgt.

Ich würde diese Stimmung als ernsthaft, betroffen und nachdenklich beschreiben. Was die ganze Welt im Moment als „German Angst“ wahrnimmt, bedeutet nicht nur Lähmung, sondern auch ein positives Innehalten, eine Art innere Neuorientierung, die sich allerdings in den tieferen Schichten des Bewusstseins vollzieht.

Das postmoderne Europa ringt zurzeit mit großen Fragen, die direkt mit „aufgeklärten“ Kernideen zusammenhängen, die gerade nicht geklärt sind. Das ideelle Gefüge von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (mein Freund sprach von „Geschwisterlichkeit“) droht auseinander zu fallen, weil die widersprüchlichen Lügen mittlerweile unerträglich geworden sind.

Ich behaupte, dass von allen Ländern in Europa gerade Deutschland sich weigert, ich müsste natürlich schreiben: noch verweigert, sich dem Populismus zuzuwenden. Um ein Wort zu benützen, das Nietzsche so gerne mochte: „vielleicht“ findet Deutschland in seinem Innehalten eine Tür ins Innere und Offene... Die Flammen der Reisepässe würden dann die Überschreitung einer neuen Schwelle ermöglichen. Es ist spannend in Deutschland zu leben.

30.04.2011

Versuch zu einer adamitischen Sprache. Über eine Freundin

Sie ist eine Freundin. Ihre ganze Art ist fest und gleichzeitig weich. Ihre Natur ist von einer Qualität geprägt, die Joseph Beuys dem Fett zuschreibt: Sie bewahrt, ruht in sich selber, ist nicht so sehr an einer Form interessiert, sondern an Masse und Tiefe.

Die Dauer der Zeit liegt ihr offen in ihrer Langsamkeit. Für Gespräche nimmt sie sich Zeit, viel Zeit, die sie auch hat. Sie sitzt dann fast unbeweglich auf einem Sofa, hört mit großen Ohren zu, spricht eine Sprache ohne Hast und Druck, ist bei jedem Wort, bei jedem Gedanken voll dabei, bewegt sich innerlich wie der große Saturn in weiten Kreisen, alles umfassend, alles tragend, alles in eine Breite und eine Tiefe ziehend.

Stille Momente, auch wenn sie länger dauern, sind ihr nicht unangenehm, ganz im Gegenteil: Sie meint, dass es so etwas wie eine sinnlose Leere nicht gibt oder eben überhaupt nicht geben könnte.

Ihr Wohnzimmer ist ein Ort-zum-Sein. Alle Gegenstände stehen an der richtigen Stelle, kommen einander nicht zu nah, stören nicht, sprechen nicht zu laut, sind nicht zum Schweigen verdammt. Für die Blumenvasen (die es immer reichlich gibt), die Kerzenständer, die sanften Kissen und eben die Bücher, die sie gerade liest – sie liest immer etwas, ist immer in ein Thema versunken – findet sie die richtige Stelle, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sie mag Fragen, weil sie Antworten mag. Um die Frage zu stellen, mit der sie gerade lebt, nimmt sie sich viel Zeit. Sie führt aus, bezieht sich auf die Vergangenheit, erwähnt vielleicht relevante Autoren, ohne sie zu zitieren, weil sie immer in umfassenden Zusammenhängen denkt, bewegt sich tastend vorwärts, bis die Frage-als-Frage einwandfrei im Raum erscheint.

Eigentlich stellt sie die Frage nicht, sie kreiert eine stimmige Umgebung, die EINE stimmige Umgebung. Sie nimmt sich die Zeit, um die Frage im Hier und Jetzt entstehen zu lassen. Auch wenn sie dazu Sachen erzählen muss, die schon längst bekannt sind, wiederholt sie in aller Ruhe die Details, als ob sie noch nicht bekannt gewesen wären.

Und wenn die Frage letztendlich erscheint, sieht sie wie ein weißer Schwan aus. (Ist der lange Hals des Schwans nicht reine Frage?) Und interessant: Wenn umgekehrt ihr jemand eine Frage stellt, hält sie inne, schaut auf die Regungen, die spiegelnd in ihrem Innersten erscheinen, wartet und wartet, bestimmt also das Tempo der Zeit, und versucht dann langsam die Frage in ihren Worten zu formulieren.

Sie will eine Meisterin der tragenden Tiefe sein. Nicht, dass sie keine Wut kennt. Ein aufkommender Ärger wird allerdings in ihrer Welt „verbuttert“, sie breitet sich verhalten in der inneren Masse aus, wirkt deswegen immer indirekt und wird gemäßigt aus allen Poren ihrer Seele fast anonym und atmosphärisch ausgeatmet.

Es wäre ein Fehler zu denken, dass dadurch ihr Ärger und ihre Wut weniger massiv wirken würden, ganz im Gegenteil, die mächtige Verhaltenheit erzeugt einen Schatten von einem enormen Kaliber. Selber merkt sie allerdings nicht, dass sie von dieser machtvollen Gestalt begleitet wird, die auf ihre Vertrauten und Kollegen manchmal erschreckend wirkt. Alle wissen: An dieser Stelle muss man bei ihr ein bisschen aufpassen.

22.04.2011

Ostern erleben. Über: Wie das Herz denkt

Solange wir bewusst oder unbewusst das alltägliche Denken als Vorbild für die übersinnliche Art des Erkennens nehmen, bleiben wir – vom Tagesbewusstsein aus gesehen – vor einer Schwelle stehen. Was wir „verstehen“ nennen, heißt für unsere Köpfe etwa: Aus einer Distanz eine Gegebenheit in größere Zusammenhänge einordnen zu können.

Wir meinen zum Beispiel zu verstehen, warum ein Jugendlicher sich so oder so verhält, sagen wir: „aggressiv“, wenn wir mitkriegen, dass seine Eltern sich trennen wollen, seine Klassenkameraden ihn mobben, und dazu noch die Schule kein Verständnis dafür hat, dass er sich im Moment nicht auf Mathematik konzentrieren kann.

Wir holen also in unserem Denken naheliegende Erkenntnisse herbei, die das Verhalten des Jugendlichen „erklären“. Das Ergebnis des Kopfdenkens ist ein Urteil, das in medizinischen und immer mehr auch in (heil)pädagogischen Zusammenhängen „Diagnose“ genannt wird.

Das Denken des Herzens geht ganz anders vor. Weil es mit Gefühlen arbeitet, und Gefühle immer etwas über Beziehungen aussagen, stellt das Herz erst die Frage der Verbindung. Was lebt zwischen mir und dem Jugendlichen? Welche Berührungen und Schnittpunkte sind dort vorhanden, welche Quelle öffnet sich „zwischen uns“?

Das Herz kreiert eben gerade keine Distanz, um zu einem Urteil zu gelangen, sondern kreiert eine Nähe, um die heilsamen Potenziale in der konkret vorhandenen Beziehung zu finden und zu aktivieren. Das Herz versteht sich also nicht als ein Beobachter, sondern als ein Beteiligter. Es spürt die gestaltenden Möglichkeiten in der Beziehung und bringt sich als Mitspieler ein.

Das Herz kennt eigentlich keine menschlichen Verbindungen, die rein funktional zu definieren wären. Das geöffnete Herz nimmt keine Rollen wahr, schaut zunächst nicht auf Beruf, Geschlecht und Herkunft, erlebt hingegen in jedem Menschen ein „Wesen“, das mit heiligen und geheimen und manchmal ungewöhnlichen Vorhaben in der Welt erscheint.

In der Bestrebung, heiligen und geheimen und manchmal ungewöhnlichen Sehnsüchten zu folgen, sind die Herzen miteinander verwandt. Sie brauchen einander, weil sich Sehnsüchte nie isoliert, etwa wie aufzudeckende Schätze, in einer einzelnen Seele befinden. Sie laufen wie Metalladern durch die seelische Landschaft, gehen von meiner Seele in deine Seele über.

Für das geöffnete Herz liegt das Urbild der sozialen Verbindung in der Liebesbeziehung. Es sucht die Fortsetzung meines verborgenen Vorhabens in deinem verborgenen Vorhaben, kennt sich bewusst oder unbewusst in einer Welt aus, in der sich die fließenden Gegebenheiten über einzelne Menschen verteilen. Das Denken des Herzens versteht das Fremde als zu sich gehörig.

Fremd ist nur dasjenige, worauf ich mich noch nicht eingelassen habe. Neu geboren wird man nur im Fremden. Das offene Herz sucht ständig das individuelle Sterben, um sich in anderen Menschen wiederzufinden. Tod und Auferstehung sind in diesem Sinne vor allem als soziale Vorgänge zu verstehen.

15.04.2011

Behinderung als Schicksal (4). Über: einfach herum brüllen

Er setzt sich entschieden neben mir auf. „Sie haben einen guten Vortrag gehalten“, schickt er direkt vorweg. Dann schweigt er. Mir ist klar, dass er keine unnötigen Missverständnisse wecken und mir nicht zu nahe treten will. Von der Seite her schaut er mich verstohlen an. Und ich denke: Er will mir etwas sagen, ist sich allerdings nicht sicher, ob ich bereit oder reif bin, mir seine Sicht auf die Sache anzuhören.

Er ist groß und lang. Auch im Sitzen ragt er weit über mich hinaus. Seine langen Arme liegen auf seinen langen Beinen, die eigentlich nicht fürs Sitzen gemeint sind. Auch wenn er sitzt, scheint er zu stehen und zu gehen, und auch wenn er schweigt, scheint er zu sprechen. Seine Augen schicken einen brennend-fragenden Blick in die Welt. Die von ihm getroffenen und betroffenen Dinge bewegen sich. Er bewegt mich. Und ich denke: „Er verhält sich wie ein Wikinger“.

„Wie heißt du?“, frage ich verunsichert. „Michael“, antwortet er. „Ich heiße Jelle“, sage ich. „Das weiß ich schon“, teilt er mir mit. Ich zünde mir eine Zigarette an und schweige. Dann sagt er stockend: „Das große Problem ist, dass die Menschen einfach herum brüllen. Sie brüllen einfach herum. Und sie verstehen nicht, dass das nicht geht, einfach herum zu brüllen.“ Während seines Sprechens bewegt er seinen Körper kräftig nach vorne und wieder zurück, so, als ob er die Worte mit Kraft aus sich heraus schieben muss.

„Sie brüllen und brüllen und brüllen“, wiederholt er. Seine Worte scheinen mir wie Brocken trockenen Tons auf den Boden zu fallen. Er scheint auf diesen Brocken gehen zu wollen. „Was meinst du“, frage ich, „gibt es bei dir in der Gruppe Leute, die ständig brüllen?“ Er bewegt sich einmal nach vorne, eine Art des bestätigenden Nickens, die ich noch nicht kannte. „Alle Menschen brüllen!“, meint er dann. Mit „alle“ meint er offenbar „alle“, nicht nur ein paar Leute in seiner Gruppe.

„Die Menschen sollen nicht brüllen“, fährt er fort, „sie sollen zuhören, einfach die Klappe halten und zuhören. Anders wird es nichts. Anders kommt nichts Gutes dabei heraus. Herum gehen und brüllen, bringt gar nichts“. Mir scheint es, als ob Michael bald platzen wird, als ob die trockenen Brocken warnende Vorboten einer Explosion sind. Dann hebt er auf einmal seinen Kopf, steht energisch auf und verschwindet, ohne sich zu verabschieden. Aus irgendeinem Grund scheint er sein Vorhaben, keine Missverständnisse wecken zu wollen, nicht handhaben zu können.

Erst Stunden später, auf dem Bahnsteig in Fulda, während des Wartens auf den Zug nach Frankfurt, gelingt es mir, die Begegnung mit Michael zumindest halbwegs einzuordnen. Die Veranstaltung der letzten zwei Tage in der Gemeinschaft Altenschlirf liegt hinter mir; ich sehe die etwa vierhundert Leute noch vor mir: Menschen „mit Hilfebedarf“, ihre Eltern und Angehörigen, die Betreuer und Mitarbeiter der Einrichtung. Meine Aufgabe in Altenschlirf war es, die Beteiligten miteinander ins Gespräch zu bringen.

Deutlich wurde, dass das soziale Dreieck zwischen Behinderten, Eltern und (professionellen) Betreuern unter Spannung steht. Ganz große Fragen standen dabei im Raum. Die Eltern rangen mit ihren Gefühlen, die manchmal von Schuld und Sorge geprägt sind. Und auch wenn ihre behinderten Kinder schon längst erwachsen sind, können die Eltern sich verständlicherweise von der Sorge nicht immer frei machen. Wie eine Mutter mir in der Pause sagte: „Mich bedrängt, dass die Betreuer mir öfters sagen, dass meine Beziehung zu meinem Sohn symbiotisch sei. Ich fühle mich als Mutter manchmal nicht ernst genommen“.

Auch die Betreuer fühlen sich bedrängt. „Wir leben tagtäglich mit den Menschen mit Hilfebedarf“, sagte einer, „wir haben allerdings immer wieder das Empfinden, dass die Schatten der Eltern ständig präsent sind“. Zwischen Eltern und Betreuern ragt also ein Fragezeichen, das sich auf ein gegenseitiges Vertrauen bezieht. Die Tatsache der „Behinderung“ führt offenbar zu schmerzvollen Erfahrungen, die im sozialen Miteinander nicht so einfach anzusprechen sind. Und gegenseitige Verletzungen liegen ständig auf der Lauer.

Und die sogenannten „Behinderten“? Sie sind manchmal sprachlos. Sie schweigen einfach, oder reden stockend vor sich hin, wie der Wikinger Michael. Er hat es mir allerdings klipp und klar gesagt: „Das große Problem ist, dass die Menschen einfach herum brüllen“. In gewissem Sinne hat er natürlich nicht Recht, denn keiner der vierhundert Menschen im Saal hat wirklich gebrüllt. Ein Brüllen war einfach nicht dabei.

Auf einer anderen Ebene stimmt es allerdings vielleicht doch, was er sagte. Innerlich haben wir alle ein bisschen gebrüllt, oder vielleicht nicht nur ein bisschen... Wir alle haben eine Not gespürt, die uns Schmerzen bereitet, und die uns wie verwundete Löwen innerlich brüllen lässt. In der Stille gab es vielleicht hier und da doch ein Brüllen – und was, wenn Michael gerade dort zu Hause ist: in der Stille unseres Brüllens?

08.04.2011

Bernard Lievegoed College. Über soziale Trampolins und mutige Sprünge

Letzte Woche hatte ich in Driebergen in den Niederlanden ein Gespräch mit Mitarbeitern des Bernard Lievegoed College for liberal Arts. Die Unterhaltung fiel mit der Tatsache zusammen, dass, wie Clarine van Lookeren Campagne es ausdrückte, der Todestag Lievegoeds (12. Dezember 1992) im Laufe des Jahres 2011, „seinen ersten Mondknoten erreichen wird“. Und weil Mondknoten immer Umschlags- und Wendepunkte sind, bewegte uns die Frage: Wie steht es heute mit den Impulsen Lievegoeds?

Nun kann man sich auf zwei Arten und Weisen mit dieser Frage beschäftigen. Erstens kann man auf die vielen Initiativen schauen, die Bernard Lievegoed ergriffen und initiiert hat. Wo stehen im Moment die Lievegoed'schen Institute, wie Zonnehuizen (eine heilpädagogische Einrichtung), das NPI (ein Büro für Organisationsentwicklung) und die Vrije Hogeschool (heute Bernard Lievegoed College for liberal Arts)?

Und zweitens kann man auf die innere Dynamik oder die „immanente“ Entfaltung seines Impulses blicken. Dabei geht es eher um Fragen, die weit über die genannten Institute hinaus gehen und generell die Lage unserer Zeit betreffen. In meiner Zusammenfassung des Gespräches von letzter Woche werde ich diesen zweiten Weg gehen. Es wird sich dann zeigen, dass die Willensrichtung von Bernard Lievegoed erstaunlich aktuell ist.

Lievegoed war ein Mensch, der aus kräftigen Intuitionen heraus arbeitete. Manchmal hatte er Mühe damit, seine Intuitionen rückwirkend über die Inspiration, die Imagination und die (wissenschaftlichen) Begrifflichkeiten so zu benennen, dass sie für das heutige Denken zugänglich und verständlich wurden. Aus diesem Grund war und ist seine Arbeit verletzbar. Manchmal muss man (zum Beispiel in seinen Büchern) durch eine Menge Unterholz kriechen, um die Lichtung im Wald zu entdecken.

Allerdings führt dieser Umstand dazu, dass man gezwungen wird, die eigenen Kräfte zur Aufnahme der Intuitionen zu stärken. Die Hindernisse in den Lievegoed'schen Darstellungen, vorausgesetzt, dass man ihnen souverän entgegen tritt, sind eine Hilfe, die Sphäre der lichtenden Intuitionen zu erreichen. Anders gesagt: Lievegoeds Stärke lag nicht darin, bestimmte Inhalte sprachlich unmittelbar zu vermitteln, sondern darin, auf einen Weg hinzuweisen – er sprach diesbezüglich vom „Saturnweg“ – den jeder Mensch eigenständig gehen kann.

Ich würde sagen, dass seine Impulse von drei großen Intuitionen geprägt worden sind. Die erste ist, dass es in der heutigen Zeit vor allem darum geht, die schlummernden „Missionen“ in den Biographien der Einzelnen frei zu setzen. Ausbildung, Fortbildung, Schulung, ja überhaupt das Leben als solches, müsste darauf gerichtet sein, die Menschen als freie Initiatoren zu erwecken.

Die zweite Intuition bezieht sich auf das soziale Leben. Nur im offenen und wohlwollenden Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen werden die geistigen Quellen des Einzelnen gefunden und geöffnet. „Statt die anderen klein zu machen, können wir lernen, einander größer zu sehen“, meinte Lievegoed in seinem Buch „Über die Rettung der Seele“. An dieser Stelle ist auch eine Notiz von Rudolf Steiner sehr hilfreich: „[...] auch die Furcht darf davon nicht abhalten, dass man in den Abgrund des Individuellen fällt, denn man steigt aus diesem Abgrund im Verein mit vielen Geistern auf und erlebt sich mit ihnen in Verwandtschaft; dadurch wird man aus der geistigen Welt geboren [...]“.

Die dritte Intuition hängt damit zusammen, dass – ich sage es in meinen Worten – das heutige Bestreben soziale Netze zu bilden, erweitert werden könnte durch die Einsicht, dass die Netze sich in Trampolins verwandeln können. Der Sturz in der individuellen Abgrund macht eine Kraft frei, die im Grunde genommen den befreienden Sprung nach oben ermöglicht. Diese Erkenntnis, so meine Lievegoed, müsste allen therapeutischen, pädagogischen, sozialen und sonstigen Bestrebungen eine neue Richtung geben.

Entscheidend ist, wie die „Institutionen“ sich auf diese Bewegung-der-Initiation einstellen. Mir scheint es so zu sein, dass gerade diese Frage im Moment am meisten brennt und lodert. Wie kann sich zum Beispiel ein Kindergarten oder eine Schule diesbezüglich „fähig“ machen? Welche Formen oder „Rituale“ werden gebraucht, um gemeinsam ein soziales Trampolin zu bilden?

Der erste Mondknoten (18 Jahre, 7 Monate und knapp 10 Tage nach der Geburt) hat einen stürmischen Charakter. Er ist geprägt von dem adoleszenten Verlangen, so richtig vorwärts zu gehen und zuzugreifen, auch wenn die nötigen Erkenntnisse noch fehlen. Am Ende des Gespräches in Driebergen wurde deutlich, dass alle einzelnen Mitarbeiter des College, aber auch das Team als Ganzes, diesbezüglich vor einer Schwelle stehen, die nur mit Mut überschritten werden kann.

Das theoretische Wissen, dass am Abgrund die Masken fallen und die Selbstverständlichkeiten nicht mehr tragen, fragt um praktische Sprünge nach oben. Es war berührend zu bemerken, dass die Bereitschaft sich in unsichere Bereiche zu begeben, dorthin wo alles schwebt, stark vorhanden ist. Das Bernard Lievegoed College wird unter der Leitung von Jeroen Lutters seinen Weg finden

03.04.2011

Mein Laptop wurde gestohlen

Da mein Laptop gestohlen wurde, werde ich erst in den nächsten Tagen einen neuen Blogtext veröffentlichen.

Jelle van der Meulen

27.03.2011

Kaufgeld ist langweilig, Schenkgeld ist recht brisant

Wie kommt man ins Kommen? Man öffnet und bewegt sich, lässt sich von Ideen begeistern, von Vorsätzen und Entscheidungen tragen, und vor allem von Begegnungen entzünden. Man kommt ins Kommen wenn man initiiert, stiftet, sich als Subjekt einer Initiation versteht. Ins Kommen kommen bedeutet: Initiation als Zivilisationsprinzip verstehen und handhaben.

Es gibt ein paar Bereiche im Leben, wo es manchen Menschen besonders schwer fällt, ins Kommen zu geraten. Sie denken, dass sie an diesen Stellen von Umständen umschlungen sind, verknotet und gefangen gehalten werden... Sie haben das Gefühl, wie ein Fisch an einem Haken zu hängen, merken allerdings nicht, dass der peinliche Stich ins Fleisch nicht eine äußerliche Gegebenheit, sondern reine Vorstellung ist.

Ein Bereich, in dem Menschen manchmal Schwierigkeiten haben, sich in ein Fließen zu begeben, betrifft das Geld. Gerade in Deutschland sparen die Menschen gerne. Vor ein paar Jahren noch wies der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt darauf hin, dass alle große Aufgaben in Deutschland (zum Beispiel die Bildung betreffend) sofort zu erledigen wären, wenn die Bürger sich aufraffen würden, einen Teil ihrer Ersparnisse aktiv einzusetzen.

Aus Sicht der Zukunft sind Ersparnisse wie kleine oder große gefrorene Seen, die nicht zu bewegen sind. Egal wie fröhlich oder ernsthaft oder begeisternd oder wild der Wind der Zukunft auf uns zu kommt, die gefrorenen Wassermassen bleiben unberührt das, was sie sind: verhärtete und statische Potenzen. Gefrorenes Geld bewegt sich nicht.

Der Grund der Kälte liegt in einer Angst vor dem eigenen Schicksal. Ein guter Freund von mir, ein Steuerberater aus der fröhlichen Pfalz, sagte es einmal so: „Je stärker die Neigung, sein Vermögen fest zu halten, je größer die Angst vor dem Leben“. (Auf ganz Deutschland übertragen, stellt sich die Frage, wovor haben die Bürger eigentlich Angst?)

Und Bernard Lievegoed sagte einmal mit einem ironischen Unterton zu mir: „Wenn du arm bist, trotzdem aber etwas initiieren möchtest, solltest du damit anfangen, die Leute von ihren Ängsten und somit von ihrem Vermögen zu befreien. Ein doppelter Gewinn: die Leute werden frei und du hast das Geld, das du dringend brauchst!“ (Lievegoed war einer der tollsten realistischen Idealisten, denen ich in meinem Leben begegnet bin.)

Ein bisschen sparen ist natürlich immer okay. Und jeder darf selbstverständlich souverän für sich selber ausmachen, wie viel Geld er oder sie auf einem Sparkonto haben möchte. (Die Menschen, die nicht zum Sparen im Stande sind, einfach weil sie monatlich nichts übrig haben, sind die Glückspilze, die von dieser Frage befreit sind.) So bald aber das Sparen über konkrete Ziele hinaus geht und eine Gewohnheit oder eben eine Pflicht geworden ist, stimmt etwas nicht.

In einer Kultur des Herzens ist Geld eine warme Angelegenheit. Erstens gilt dort die Erkenntnis, dass es so etwas wie „mein Geld“ gar nicht gibt. Den hartnäckigen Gedanken, dass man Geld besitzen kann, tut richtig weh, wie der oben genannte Angelhaken. Die Lage ist eher so: für „mein“ Geld habe ich eine Verantwortung, der ich allerdings dadurch aus dem Wege gehe, indem ich sage: das Geld gehört mir, ich muss mich deswegen vor niemandem verantworten. So bald ich das Geld jedoch als ein soziales und darüber hinaus abenteuerliches (Abenteuer – Adventura – das was auf mich zukommt!) Phänomen verstehe, wird es warm.

Zweitens gilt die Tatsache, die Pietro Archiati so schön und einleuchtend in seinem Buch „Geld ist gut, vertrauen ist besser“ vermittelt, nämlich, dass Menschen und ihre Fähigkeiten mehr gelten als Geld. Ohne menschliche Fähigkeiten und Potenzen gibt es gar kein Geld. Angehäuftes Geld freizumachen bedeutet also: Fähigkeiten und Potenzen frei zu setzen. Und darin liegt gerade das Herz einer Kultur des Herzens: den Menschen in ihrer Biographie das Blühen zu ermöglichen.

In der berühmten Dreiheit von Kaufgeld, Leihgeld und Schenkgeld scheint das Schenkgeld eine Art softe Zugabe zu sein, eine schöne und „karitative“ Erscheinung, ein verletzbares und nicht ernst zu nehmendes Kind, das noch nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Wenn das Schenken von Geld jedoch eine richtig persönliche Angelegenheit wird, die nicht auf Sicherheit, sondern auf ein konkret-gelebtes-Vertrauen-zwischen-uns setzt, wird es zu einer gestaltenden Macht in der Gesellschaft.

Kaufgeld ist eigentlich langweilig, Leihgeld schon ein bisschen abenteuerlicher, Schenkgeld von Person zu Person erst recht brisant. Es initiiert freie Beziehungen zwischen Menschen, die souverän tun, was sie wirklich wollen. Oder wie der Experte in herzlichen Angelegenheiten, Lothar Keye, es mir gelegentlich sagte: „Schenken und beschenkt werden bedeutet: unterwegs sein zu sich selbst und zu einer neuen Gesellschaft“. An dieser Stelle brauchen wir allerdings eine Art „Wissenschaft“, die als eine Initiationswissenschaft zu bezeichnen wäre.

20.03.2011

Je stond op...

Je stond op
in het donker,
nat en koud.
Je was stil.
Ik zag je wel,
herkende je niet.
Je bent een bloem
uit de nacht.
Ik heb je lief.

11.03.2011

Fragmentarisches zu einer Kultur des Herzens. Über Gefühle

In einer Kultur des Herzens wird der Ausgangspunkt des Handelns in den Lebensfragen des Einzelnen gesucht. Und wie es so mit unserem Herzen ist: es ist auch das Organ der Sehnsüchte, will deswegen nie alleine sein, das heißt: es will berührt werden. Eine Berührung ist immer eine Berührung zwischen mir und „etwas“, sei es zwischen mir und einer Landschaft, einem Ort, einer Idee, einem Lebewesen, einem Kollegen, einem Freund.

Begegnungen und Beziehungen werden in einer Kultur des Herzens als Quellen, Bausteine und Werkstätten verstanden. Was zwischen Menschen lebt und webt ist nicht einem abstrakten Ziel untergeordnet, einem bereits formulierten Missions-Statement oder einer vernünftigen Strategie, sondern gilt als Ansatz zu einem Vorsatz. Im immer wieder aufs Neue verwirrenden Gewebe der Gegebenheiten des Lebens wird vor allem nach dem Punkt der inneren Berührung gesucht: was spricht das Herz?

Weltanschauungen, Ideologien und Religionen werden in einer Kultur des Herzens mit Vorsicht genossen. Die Frage, ob jemand sich für einen Christen, einen Marxisten, einen Konstruktivisten, eine Feministin, einen Anthroposophen oder einen Muslim hält, ist zweitrangig. Nicht was man meint, was eine Lehre beinhaltet, ist Ausgangspunkt des Handelns: Wahrheiten sind zum Navigieren da, um Bestimmungen zu erkennen und ins Auge zu fassen, nicht um sie festzulegen.

Die Beschäftigung mit der Wahrheit ist in einer Kultur des Herzens eine sensible Angelegenheit, die nicht vorschreibt, was man in seinem Herzen spüren soll, sondern umgekehrt gerade dabei hilft, delikate Gefühle zu verstehen. Wahrheiten „repräsentieren“ etwas, das heißt: sie stellen vor, reflektieren, spiegeln; sie kreieren eine heilsame Distanz zu Gefühlen und ermöglichen deswegen etwas Doppeltes:

Sie befreien bestimmte Gefühle vom Ozean der Emotionen, erkennen sie an und verleihen ihnen das Recht auf Existenz, bekräftigen also, was vorher noch vage und unbestimmt war; und sie garantieren die Freiheit der Wahl, gerade weil sie die Gefühle halbwegs zu einem Gegenüber machen. Mit Hilfe der Wahrheit macht man sich von seinen Gefühlen frei, um sich ihnen dann souverän zu widmen – oder sich von ihnen abzuwenden.

Auch wenn Gefühle in einer Kultur des Herzens die eigentlichen Phänomene der Aufmerksamkeit ausmachen, ist sie nicht romantisch im üblichen Sinne; in einer Kultur des Herzens wird Romantik „erwachsen“, wie es der englische Anthroposoph Owen Barfield in seinem Romanticism comes of age formulierte.

Die Schattenseite der Romantik – schwelgen in subjektiven Empfindungen – wird gerade in einer Kultur des Herzens erfolgreich überwunden, und zwar dadurch, dass Gefühle im Umgang von mir zu mir und in der Begegnung von mir zu Dir nicht nur geprüft, sondern auch „gereinigt“, oder vielleicht besser gesagt: als sauberes Gefühl befreit werden.

Die Nähe von mir zu mir und von mir zu Dir ist die innere Werkstatt einer Kultur des Herzens, dort können sich unsere Emotionen und Gefühle verwandeln. Das Lauschen auf delikate Regungen in unseren Herzen, auf die oft verborgenen Sehnsüchte und Ahnungen, die spontanen Berührungen, die sanft-süß-bitteren Stimmungen, die uns jeden Tag wieder erwischen – all das konstituiert und bestätigt eine Kultur des Herzens. Die inneren Regungen machen immer eine Aussage über meine Beziehung zur Welt, zu den Menschen, zu den Sachen, die zu mir gehören. Im Gefühl und nur im Gefühl wird die Welt zum Ereignis.

06.03.2011

150 Jahre Rudolf Steiner. Was ich ihm verdanke

Als ich die Beiträge in den deutschen Zeitungen über Rudolf Steiner las, stellte ich mir die Frage: Was habe ich dem „großen Geistesforscher“ eigentlich zu verdanken? Und: Wie würde ich meine Beziehung zu ihm beschreiben? Ich werde versuchen, beide Fragen zu beantworten.

Ich habe Rudolf Steiners Arbeit über die Drogen kennen gelernt. Ich war damals zwanzig Jahre alt, rauchte gerne Haschisch und Marihuana, experimentierte bescheiden mit LSD und anderen Halluzinogenen, und war generell an „außerordentlichen“ Erfahrungen interessiert. Mit meiner halluzinogenen Neugier ging eine Liebe vor allem für die englischen romantischen Dichter einher: Blake, Wordsworth, Coleridge, Shelley, Keats... Brennend interessierte mich die Biographie von Samuel Taylor Coleridge, der von Laudanum abhängig geworden war.

Einer meiner damaligen Lehrer sorgte sich um mich und schenkte mir ein Buch von Rudolf Steiner: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“. Die Inhalte des Buches trafen mich tief. Der Autor sprach von geistigen Welten und dementsprechenden Erfahrungen, die ich sofort wiedererkannte. Steiner weckte in mir eine Frage und einen neuen Blickwinkel auf die Welt, die meinen weiteren Lebensweg entscheidend geprägt haben.

Die Frage lautete: Sind die „außerordentlichen“ Erfahrungen, die mich so stark beschäftigten, einfach als ‘durch „komische“ Substanzen hervor gezauberte Illusionen‘ zu betrachten, oder beziehen sie sich auf reale „geistige“ Vorgänge, auch wenn sie diese Vorgänge vielleicht verstellt darstellen? Die Frage ist eine SEHR große Frage, vor allem, wenn man sie von Drogen loslöst. Sie betrifft im Grunde genommen den Status unserer Vorstellungen, Phantasien und Imaginationen. Ich fand in Steiner einen Verwandten von Coleridge, der meinte, dass unsere imaginativen Kräfte eine Fortsetzung der göttlichen Schöpferkräfte auf Erden sind.

In seinem Buch macht Rudolf Steiner deutlich, dass in jedem Menschen die Fähigkeiten schlummern, sich souverän – also ohne Hilfe von außen, zum Beispiel ohne Drogen – in die geistige Welt hinein zu begeben. Diese Behauptung von Steiner hat mir damals die Kraft gegeben, mich von den Halluzinogenen zu verabschieden. Weil meine diesbezüglichen Sehnsüchte damals richtig groß waren, scheint es mir im Nachhinein nicht übertrieben zu sagen: Ich verdanke Rudolf Steiner mein Leben.

Und ich verdanke ihm einen Diskurs, der mich von damals an bis zum heutigen Tag, beschäftigt. Wenn ich auf die Vorstellung verzichte, dass die Bilder, die immer wieder in mir auftauchen, lauter Illusionen sind, stellt sich die Frage: Wie sieht das Leben aus, wenn ich diese Vorstellungen ernst nehme? Man könnte es auch anders sagen: Was bedeutet es eigentlich, Träume und Imaginationen ernst zu nehmen?

Nach vierzig Jahren kann ich sagen: Rudolf Steiner hatte recht, als er schrieb, dass die von ihm genannte „geistige“ Welt, auf einer Art „Ordnung“ beruht – mir fällt im Moment kein besseres Wort ein – die man allmählich kennen lernen kann. Die Ordnung ist so überzeugend, dass der Gedanke, dass sie nur auf Illusionen beruhen könne, seine Kraft verliert. Es ist, als ob man in einem Regenwald umher geht, und immer wieder die gleichen Bäume, Pflanzen, Tiere und Insekten sieht, und dann zu hören bekommt: Der Regenwald existiert gar nicht!

Man kann den Regenwald allerdings nur dann wirklich kennen lernen, wenn man sich in ihn hinein begibt. Die „Systematik“ überzeugt nur, wenn sie zur Erfahrung wird. Ich betrachte dieses „immer wieder suchen“, dieses „immer wieder einen Zugang finden“, dieses „mich immer wieder in der Sprachlosigkeit-des-Geistigen neu zu finden“, als eine entscheidende Bereicherung meines Lebens.

Rudolf Steiner hat auch vieles gesagt und getan, was ich nicht verstehe, manchmal auch nicht nachvollziehen kann. Ich behaupte allerdings, nicht im Stande zu sein, seine Person und seine Arbeit in der Tiefe beurteilen zu können, nehme mir allerdings die Freiheit, mich von ein paar Dingen zu distanzieren. Seine Aussagen über die „gelben“, „roten“ und „schwarzen“ Rassen zum Beispiel, finde ich peinlich daneben. Und ja, auch finde ich, dass diese Äußerungen nicht als nebensächlich abzutun sind.

Rudolf Steiner hat sich mit vollem Verstand und leidenschaftlich als Künstler-Forscher in die Welt des Unsagbaren gewagt, und er hat versucht, Worte für Sachen und Vorgänge zu finden, die sehr viele Menschen spüren, ohne sie greifen zu können. Die Art und Weise, wie er sich dieser Aufgabe gewidmet hat, ist mir ein großartiges Vorbild. Und die Art und Weise, wie er manchmal tragisch missverstanden worden ist, ist mir ein Schmerz, der mich freundschaftlich mit ihm verbindet.

25.02.2011

Umbruch in Arabien. Die Bedeutung einer tiefen Verwandtschaft

Die arabische Welt bewegt sich, und stellt in ihrer Bewegung, in ihrem Vorsatz, sich auf Kommendes zu orientieren, die europäischen Länder vor eine Probe. Was in Europa seit langem stillschweigend als Widerspruch akzeptiert wurde, als Lüge wenn man will, wird durch den Aufbruch auf einmal deutlich ins Licht gehoben, und aus diesem Grund ist die Ratlosigkeit in Europa groß.

Der Widerspruch beherrscht das europäische Handeln in der Welt bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert. Einerseits meinen die „erleuchteten“ Länder etwas in die Welt bringen zu müssen: die humanistisch-christliche Moral, die Freiheit, die Demokratie, die Trennung von Staat und Religion, die Würde des Menschen... Europa hatte und hat diesbezüglich ein eindeutiges Selbstverständnis: es ist weltweit zuständig für alles was „Aufklärung“ heißt.

Andererseits hat Europa sich unverschämt aus der Welt geholt, was es braucht: Sklaven, Gold, Silber, Diamanten, Kaffee, Tee, Pfeffer und zuletzt auch billige Arbeitskräfte und Unmengen an Öl. Nur wenige Europäer wissen zum Beispiel, dass die Industrialisierung in ihren Ländern damals mit dem Gold und dem Silber aus Peru, Kolumbien und Bolivien finanziert worden ist. Und heute ist Europa absolut abhängig von den Öl-Lieferungen aus den arabischen Ländern. (Ein Drittel des Öls, das in Deutschland täglich verbraucht wird, kommt aus Libyen.)

Die Lieferung der Güter wurde und wird durch politische, diplomatische und militärische „Maßnahmen“ abgesichert, die nicht mit den aufgeklärten moralischen Botschaften zu vereinbaren sind. Mit der Botschaft der Freiheit kam gleichzeitig die Realität der Unterdrückung. Bereits 1860 veröffentlichte der Holländer Multatuli sein Buch „Max Havelaar“, in dem er an Hand der damaligen Situation in Indonesien den Widerspruch kristallklar aufdeckte. Und seitdem wissen die Europäer eigentlich auch, dass sie in einer Lüge leben, auch wenn sie dies meistens nicht zugeben.

Die arabisch diktatorischen Herrscher haben den europäischen Belangen bis zum gestrigen oder eben heutigen Tag gedient, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens haben sie die Lieferungen von Öl und anderen Produkten an Europa sicher gestellt, wofür sie (nicht die Völker) reichlich belohnt wurden. Das Geld, das die diktatorischen Clans auf diese Art und Weise gesammelt haben, wird auf Konten von europäischen Banken, vor allem in der Schweiz, aufbewahrt.

Zweitens haben die arabischen Herrscher die Angst der Europäer vor „muslimischem Fundamentalismus“ nicht nur übernommen, sondern in der eigenen Bevölkerung systematisch angestachelt. Eine negative Darstellung des Islams wurde kreiert und immer wieder neu belebt. Vor kurz noch meinte Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi, dass er dafür gesorgt hätte, dass Typen wie Osama bin Laden in ihre Schranken verwiesen wurden. Die tragische Verschränkung der europäischen Ängste mit den Interessen der arabischen Alleinherrscher hat zur Geburt eines Islam- Doppelgängers geführt.

Und nun sind es die arabischen Schwestern und Brüder, die Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit verlangen. Sie erinnern die Europäer nicht nur daran, dass sie ihre Nachbarn sind, sondern auch daran, dass sie eine gemeinsame Geschichte haben, die uralt ist. Die Zeugnisse dieser Geschichte sind zum Beispiel in den Büchern der drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam – zu finden, vor allem allerdings auch in den politischen, kulturellen und sozialen Idealen, die sich auf die Frage der Gemeinschaft beziehen. Was ist Gemeinschaft? Gerade in dieser Frage begegnen sich die Nachbarn.

Die arabischen Schwestern und Brüder stellen die europäischen Nachbarn auf eine Probe. Rein intellektuell, so könnte man sagen, geht es dabei um eine alte „philosophische“ Frage: Wie sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ZUSAMMEN zu denken? Oder anders gesagt: Wie kann der Widerspruch zwischen christlich-humanistischer Moral einerseits und wirtschaftlichem Handeln (in der Gestalt des Kapitalismus) überwunden werden? Die Frage ist allerdings nicht als eine rein intellektuelle Sache zu verstehen, sie ist eine soziale Angelegenheit geworden. Aus europäischer Sicht stellt sich die Frage so: Was ist Europa ohne Arabien? Die Antwort ist schlicht und einfach: nichts.

Arabien ist im Kommen. Es ist ein Missverständnis zu meinen, dass alles, was im Kommen ist, auch unbedingt angenehm ist. Wenn Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein, Jordanien, Palästina und all die anderen arabischen Staaten sich in Richtung Demokratie bewegen, ändern sich die existentiellen Voraussetzungen, nicht nur für Israel im Besonderen, sondern auch für Europa und die USA insgesamt. Die arabischen Völker werden den Schatten der Vergangenheit – sie beruhen auf einem Denken, das aktuell noch immer in Europa herrscht - ohne Ängste thematisieren. Auch das ist nämlich Freiheit: Handeln ohne Angst.

Um Europa zu erhalten, das heißt, um den großen Ideen treu zu bleiben, die den europäischen Diskurs ausmachen, auch wenn sie angeblich paradox sind, ist es notwendig, dass Europa sich an dem arabischen Diskurs, der im Grunde genommen auf den gleichen Idealen beruht, allerdings einen anderen Weg gegangen ist, beteiligt. Was sagt uns dieser andere Weg über die Ideen und Ideale, die beides sind: Ein Startpunkt aus der Vergangenheit und eine Bestimmung für die Zukunft?

Als der große Europäer Friedrich Schiller so locker und selbstverständlich schrieb: „Alle Menschen werden Brüder!“, was schwebte ihm dabei vor Augen? Eine sichere Bestimmung? Oder war er einfach naiv idealistisch? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, inwieweit Europa seine Brüder als Brüder und seine Schwestern als Schwestern annimmt. Ein wunderbarer Aspekt der Umbrüche in den arabischen Ländern liegt darin, dass diesbezüglich ein Angebot gemacht wird. Manche Araber hassen die Europäer und suchen trotzdem Anerkennung auf Grund der tiefen Verwandtschaft.