Nochmals die Waldorferzieherin (3). Über die echte Arbeit
Bei der Beschreibung der Fähigkeiten einer Waldorferzieherin scheint mir ein Grundproblem die herrschende Annahme zu sein, dass sie an erster Stelle eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen hätte. Das Herz ihrer Arbeit, so wird generell angenommen, betrifft die Erziehung der Kinder und der entsprechenden Beziehung zu ihnen, wobei die Art der Beziehung als eine „pädagogische“ verstanden wird.
Zusätzlich, so heißt es, braucht die Waldorferzieherin noch ein paar „soziale“ Fähigkeiten, weil sie eben auch mit Eltern & Kollegen & Vorständen & Beamten zu tun hat. Diese sozialen Fähigkeiten werden zwar immer wichtiger, weil offenbar das Ringen auf der sozialen Ebene zunehmend Aufmerksamkeit verlangt, jedoch als zweitrangig verstanden. Die eigentliche Aufgabe bleibt die Arbeit „am Kind“.
Was macht aber die gesamte Arbeit aus? Das Leben scheint mir das Folgende zu zeigen: Jede Erzieherin handelt durch ihren Beruf aktiv in einem Flechtwerk von Menschen. Die Knotenpunkte in diesem sozialen Gewebe werden Kinder, Väter, Mütter (oder eben Elternteile – grausames Wort!), Opas & Omas, Nachbarn, Leiterinnen, Zweitkräfte, Kolleginnen, Köchinnen, Putzfrauen, Ärzte, Vorstände und Beamte genannt.
Im alltäglichen Leben heißen sie Maria, Eva, Hans, Vanessa, Karsten, Kerstin, John, Astrid, Jasmin oder Dr. Schmitz. Obwohl das Dasein dieses Gewebes indirekt durch die Kinder konstituiert wird – ohne Kinder keine Kindergärten – erscheint es in der Lebenspraxis als eine Gemeinschaft von Individuen, die auf gleicher Augenhöhe stehen. Die Kinder sind genauso „Individuum“, wie die Erzieherinnen & Vorstände & „Elternteile“ auch.
Die Frage, mit der alle Erzieherinnen an erster Stelle ringen, ist diese: wie verstehe ich mich in meiner pädagogischen Aufgabe in diesem sozialen Gewebe? Die Praxis zeigt, dass die pädagogischen Tätigkeiten in eine Wirklichkeit eingebettet sind, man könnte einfach von „Leben“ sprechen, die über die rein erzieherischen Aufgaben hinausgehen. Und damit ist die Beziehung zwischen „sozial“ & „pädagogisch“ ein Thema geworden.
In der öffentlichen Gesellschaft & in der akademischen Welt ist diese komplexe Beziehung als Fragestellung schon längst angekommen. Ich brauche nur auf die Soziologie zu verweisen: dort wird schon seit Jahrzehnten die Frage gestellt, wie das Kind im gesellschaftlichen Rahmen zu verstehen ist. Und auf der philosophischen Ebene ist es vor allem Michel Foucault gewesen, der manche Konzepte, „pädagogische“ (wie auch „therapeutische“ und „kriminologische“), als „sozial-gesellschaftlich“ umdefiniert hat.
Mir scheint, dass die Waldorfbewegung sich noch immer gegen diese Ausweitung der Fragestellung wehrt. Die soziale Komponente muss aus irgendeinem Grund „zusätzlich“ bleiben & Erziehung eine Art Insel, so wie der Künstler sein Atelier vielleicht als einen Schutzraum erlebt. Aber wie gesagt: die Lebenspraxis zeigt, dass das nicht mehr geht. Warum nicht? Einfach, weil das Leben von spezifischen Absonderungen weg will.
Erst kommt das Leben, dann kommt die Pädagogik. Auf zwei Ebenen trifft diese Wahrheit zu: erstens sind es die allgemein-menschlichen Fragen, die das Leben in einem Kindergarten bestimmen. Die Beziehungen zwischen den Kindern, den Kollegen, den Eltern & den Vorständen machen das Klima aus, in dem die Kinder gedeihen, oder eben auch nicht gedeihen können. Offene & würdige & lebendige menschliche Beziehungen sind eine Voraussetzung für die biographische Entwicklung (von Kindern, Erzieherinnen, Vätern & Müttern sowie Vorständen).
Und zweitens: auch die Beziehung der Erzieherin zu dem Kind ist erst an zweiter Stelle eine pädagogische. Wenn auch die Kinder als „Individuum“ verstanden werden, was ja in den Waldorfkindergärten nachdrücklich der Fall ist, geht es darum, bewusst in das wunderbare Spannungsfeld zwischen Ich & Ich (also: Du) einzusteigen. Diese allgemein-menschliche Ebene lässt sich aber grundsätzlich nicht mit pädagogischen & erzieherischen Begriffen beschreiben.
Rudolf Steiner, der Urheber der Waldorfpädagogik, würde an dieser Stelle bestätigen, dass die pädagogische Aufgabe tatsächlich einer allgemein-menschlichen Beziehung untergeordnet ist. Man könnte eben argumentieren, dass diese Sichtweise gerade einer der Ausgangspunkte der Waldorfpädagogik ausmacht. Rudolf Steiner verstand das soziale Leben als einen Raum, in dem persönliche & öffentliche Anliegen miteinander verschränkt sind – ein Raum, in dem sich „Schicksale“ gestalten.
Eine Waldorferzieherin verstehe ich als eine Lebenskünstlerin, die vor allem die Fähigkeit entwickelt, auf die delikaten Bedeutungen der Beziehungen zu schauen & sich dementsprechend taktvoll zu verhalten. Dazu gehört natürlich auch, dass sie auf sich selber schaut. Mir scheint dies allerdings eine „soziale“ Fähigkeit zu sein, die sich aber nur dann entfalten kann, wenn eine bewusste Orientierung auf ein spirituelles Menschenbild vorhanden ist. Um Menschen zu verstehen, braucht man dementsprechende Erkenntnisse.
Damit ist die pädagogische Aufgabe nicht vom Tisch. Wenn Rudolf Steiner vom „pädagogischen Grundgesetz“ sprach (kann ich heute nicht beschreiben – würde den Blograhmen sprengen), hatte er eine spezifische Verhaltensweise vor Augen, die die Beziehung zwischen Ich & Ich nicht ersetzt - gerade nicht! - sondern einen professionell notwendigen „Zusatz“ bedeutet. Die Erzieherin kann diese Verhaltensweise erst dann realisieren, wenn sie im sozialen Gewebe zumindest halbwegs eine innere Ruhe erreicht hat.
Gerade eine Waldorferzieherin versteht die sozialen Beziehungen um das Kind herum – sie selber gehört dazu – nicht als zufällig oder nebenbei oder eben lästig. Sie versteht, dass jedes Kind sich in seinem eigenen „Gefüge“ entfaltet. Dieses Gefüge als schwierig oder belastend zu empfinden, heißt eigentlich, dem Kind sein eigenes Leben nicht zuzutrauen. Eine wesentliche Kompetenz der Waldorferzieherin liegt also darin, das Leben unter allen Umständen positiv zu bewerten. Mir scheint das die echte Arbeit zu sein.