28.10.2009

Nochmals die Waldorferzieherin (3). Über die echte Arbeit

Bei der Beschreibung der Fähigkeiten einer Waldorferzieherin scheint mir ein Grundproblem die herrschende Annahme zu sein, dass sie an erster Stelle eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen hätte. Das Herz ihrer Arbeit, so wird generell angenommen, betrifft die Erziehung der Kinder und der entsprechenden Beziehung zu ihnen, wobei die Art der Beziehung als eine „pädagogische“ verstanden wird.

Zusätzlich, so heißt es, braucht die Waldorferzieherin noch ein paar „soziale“ Fähigkeiten, weil sie eben auch mit Eltern & Kollegen & Vorständen & Beamten zu tun hat. Diese sozialen Fähigkeiten werden zwar immer wichtiger, weil offenbar das Ringen auf der sozialen Ebene zunehmend Aufmerksamkeit verlangt, jedoch als zweitrangig verstanden. Die eigentliche Aufgabe bleibt die Arbeit „am Kind“.

Was macht aber die gesamte Arbeit aus? Das Leben scheint mir das Folgende zu zeigen: Jede Erzieherin handelt durch ihren Beruf aktiv in einem Flechtwerk von Menschen. Die Knotenpunkte in diesem sozialen Gewebe werden Kinder, Väter, Mütter (oder eben Elternteile – grausames Wort!), Opas & Omas, Nachbarn, Leiterinnen, Zweitkräfte, Kolleginnen, Köchinnen, Putzfrauen, Ärzte, Vorstände und Beamte genannt.

Im alltäglichen Leben heißen sie Maria, Eva, Hans, Vanessa, Karsten, Kerstin, John, Astrid, Jasmin oder Dr. Schmitz. Obwohl das Dasein dieses Gewebes indirekt durch die Kinder konstituiert wird – ohne Kinder keine Kindergärten – erscheint es in der Lebenspraxis als eine Gemeinschaft von Individuen, die auf gleicher Augenhöhe stehen. Die Kinder sind genauso „Individuum“, wie die Erzieherinnen & Vorstände & „Elternteile“ auch.

Die Frage, mit der alle Erzieherinnen an erster Stelle ringen, ist diese: wie verstehe ich mich in meiner pädagogischen Aufgabe in diesem sozialen Gewebe? Die Praxis zeigt, dass die pädagogischen Tätigkeiten in eine Wirklichkeit eingebettet sind, man könnte einfach von „Leben“ sprechen, die über die rein erzieherischen Aufgaben hinausgehen. Und damit ist die Beziehung zwischen „sozial“ & „pädagogisch“ ein Thema geworden.

In der öffentlichen Gesellschaft & in der akademischen Welt ist diese komplexe Beziehung als Fragestellung schon längst angekommen. Ich brauche nur auf die Soziologie zu verweisen: dort wird schon seit Jahrzehnten die Frage gestellt, wie das Kind im gesellschaftlichen Rahmen zu verstehen ist. Und auf der philosophischen Ebene ist es vor allem Michel Foucault gewesen, der manche Konzepte, „pädagogische“ (wie auch „therapeutische“ und „kriminologische“), als „sozial-gesellschaftlich“ umdefiniert hat.

Mir scheint, dass die Waldorfbewegung sich noch immer gegen diese Ausweitung der Fragestellung wehrt. Die soziale Komponente muss aus irgendeinem Grund „zusätzlich“ bleiben & Erziehung eine Art Insel, so wie der Künstler sein Atelier vielleicht als einen Schutzraum erlebt. Aber wie gesagt: die Lebenspraxis zeigt, dass das nicht mehr geht. Warum nicht? Einfach, weil das Leben von spezifischen Absonderungen weg will.

Erst kommt das Leben, dann kommt die Pädagogik. Auf zwei Ebenen trifft diese Wahrheit zu: erstens sind es die allgemein-menschlichen Fragen, die das Leben in einem Kindergarten bestimmen. Die Beziehungen zwischen den Kindern, den Kollegen, den Eltern & den Vorständen machen das Klima aus, in dem die Kinder gedeihen, oder eben auch nicht gedeihen können. Offene & würdige & lebendige menschliche Beziehungen sind eine Voraussetzung für die biographische Entwicklung (von Kindern, Erzieherinnen, Vätern & Müttern sowie Vorständen).

Und zweitens: auch die Beziehung der Erzieherin zu dem Kind ist erst an zweiter Stelle eine pädagogische. Wenn auch die Kinder als „Individuum“ verstanden werden, was ja in den Waldorfkindergärten nachdrücklich der Fall ist, geht es darum, bewusst in das wunderbare Spannungsfeld zwischen Ich & Ich (also: Du) einzusteigen. Diese allgemein-menschliche Ebene lässt sich aber grundsätzlich nicht mit pädagogischen & erzieherischen Begriffen beschreiben.

Rudolf Steiner, der Urheber der Waldorfpädagogik, würde an dieser Stelle bestätigen, dass die pädagogische Aufgabe tatsächlich einer allgemein-menschlichen Beziehung untergeordnet ist. Man könnte eben argumentieren, dass diese Sichtweise gerade einer der Ausgangspunkte der Waldorfpädagogik ausmacht. Rudolf Steiner verstand das soziale Leben als einen Raum, in dem persönliche & öffentliche Anliegen miteinander verschränkt sind – ein Raum, in dem sich „Schicksale“ gestalten.

Eine Waldorferzieherin verstehe ich als eine Lebenskünstlerin, die vor allem die Fähigkeit entwickelt, auf die delikaten Bedeutungen der Beziehungen zu schauen & sich dementsprechend taktvoll zu verhalten. Dazu gehört natürlich auch, dass sie auf sich selber schaut. Mir scheint dies allerdings eine „soziale“ Fähigkeit zu sein, die sich aber nur dann entfalten kann, wenn eine bewusste Orientierung auf ein spirituelles Menschenbild vorhanden ist. Um Menschen zu verstehen, braucht man dementsprechende Erkenntnisse.

Damit ist die pädagogische Aufgabe nicht vom Tisch. Wenn Rudolf Steiner vom „pädagogischen Grundgesetz“ sprach (kann ich heute nicht beschreiben – würde den Blograhmen sprengen), hatte er eine spezifische Verhaltensweise vor Augen, die die Beziehung zwischen Ich & Ich nicht ersetzt - gerade nicht! - sondern einen professionell notwendigen „Zusatz“ bedeutet. Die Erzieherin kann diese Verhaltensweise erst dann realisieren, wenn sie im sozialen Gewebe zumindest halbwegs eine innere Ruhe erreicht hat.

Gerade eine Waldorferzieherin versteht die sozialen Beziehungen um das Kind herum – sie selber gehört dazu – nicht als zufällig oder nebenbei oder eben lästig. Sie versteht, dass jedes Kind sich in seinem eigenen „Gefüge“ entfaltet. Dieses Gefüge als schwierig oder belastend zu empfinden, heißt eigentlich, dem Kind sein eigenes Leben nicht zuzutrauen. Eine wesentliche Kompetenz der Waldorferzieherin liegt also darin, das Leben unter allen Umständen positiv zu bewerten. Mir scheint das die echte Arbeit zu sein.

25.10.2009

Sammy und Samuel heute. Über die Musik von Joachim Goerke

Heute fragt Sammy: „Lieber Samuel, wo bist du? Es scheint mir, als ob du verschwunden wärest. Irgendwie scheinst du unterwegs zu sein, ich meine: nicht mehr so ganz bei dir. Hast du dich an einem unbekannten Ort verloren? Steckst du in einer Jazzbar? Sehnst du dich nach John Coltrane? Oder Captain Beefheart? Trinkst du? Rauchst du? Oder hast du dich hinter einer Tarnkappe versteckt? Ringst du mit deinen Texten-im-Kommen?“

(...)

Sammy: „Oder liegt es an mir? Ich räume ein, dass ich in der letzten Zeit nicht mehr so richtig verstehe, wo ich bin. Als ob Coltrane mich mit seinem Saxophon weggeblasen hätte. Ich fühle mich frei schwebend, ohne Ziel, ohne Frage, als ob meine Präsenz keinen Bezug mehr zu den Ereignissen in deinem Leben hat. War das nicht unsere Abmachung, Samuel, dass wir darauf schauen, wie dein Wohlergehen mit meiner Existenz zusammen hängt?“

(...)

Sammy: „Ohne deine Zuwendung komme ich nicht vom Fleck. Unsere Sache ist noch nicht erledigt: ich stehe noch immer im Wohnzimmer meiner Eltern und versuche mich von meinem Schreck zu befreien. Ich vermisse dich. Viel Zeit ist vergangen, obwohl ich schon verstehe, dass meine Einsamkeit mit Monaten und Wochen und Tagen und Stunden nichts zu tun hat.“


Samuel: „Ich höre gerade Klaviermusik.“

Sammy: „Wer spielt?“

Samuel: „Joachim Goerke“.

Sammy: „Wer ist das?“

Samuel: „Ein Meister der Ruhe“.

Sammy: „Jetzt kann ich die Musik hören.“

Samuel: „Wie kann man über diese Musik reden? Der Meister der Ruhe hat seinen Musikstücken Titel gegeben, die vielleicht als ein Hinweis zu verstehen sind. ´Die Stille in deinem Herzen´. ´Heiliger Raum´. ´Mutter, ich komme zu Dir`. ´Das Kind in mir`. Und: ´Danke`. Für mich sind die Titel aber irreführend, weil die Musik mit solchen Wörtern nichts zu tun hat. Nur der letzte Titel, ´Danke´, scheint mir ein bisschen zu stimmen.“

(...)

Samuel: „Einfacher ist zu beschreiben, was seine Musik nicht macht. Sie begeistert nicht. Sie schreit, weint, lacht nicht. Sie verwirrt nicht. Sie geht nicht, zieht nicht, drängt nicht. Sie kommt nicht nicht vom Fleck. Sie geht nicht von rechts nach links, nicht von links nach rechts. Sie ist nicht in einer Mitte, nicht in einer Peripherie. Sie kommt nicht auf mich zu, nimmt mich nicht auf, lässt mich nicht in Ruhe, spricht von nichts.“

(...)

Samuel: „Die Musik des Meisters der Ruhe fällt mit der Stille der Zeit zusammen. Sie scheint mir mit dem Wesen der Zeit befreundet zu sein, sie hält inne, öffnet mit einer bescheidenen Verbeugung die Tür zu einem Raum, in dem keine Uhren ticken und in dem die Monate und Wochen und Tage
und Stunden sein können, was sie sein wollen: vertikale Säulen. Lieber Sammy, sei gegrüßt!“


(Über Joachim Goerke: http://www.sajema.de)

19.10.2009

„Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“. Eine permanente Konferenz

Die Erkenntnis ist gleichzeitig sehr einfach & sehr kompliziert, sehr beruhigend & sehr verwirrend: was alles noch in der Welt geschehen wird, hängt davon ab, was individuelle Menschen heute tun oder lassen. Oder mit Orland Bishop: „I invite you to think that you are just as important to this world, as the sun is“. Und natürlich mit dem jungen deutschen Filmemacher Joshua Conens: „Diesen Satz habe ich verfilmt“!

Nicht die großen gesellschaftlichen Einrichtungen – Banken, politische Parteien, Kirchen, Unternehmen, Universitäten – bestimmen die Zukunft, sondern die Menschen (innerhalb oder außerhalb der Institute) bestimmen die Zukunft der Gesellschaft. Menschen können mächtig viel erreichen, auch wenn es erst einmal nicht so aussieht. Es ist wie mit einem Öltanker: der Steuermann dreht heute ein ganz winzig kleines bisschen am Rad & zehn Tage später erreicht er nicht Sidney, sondern Singapur.

Das Beispiel des Öltankers ist deswegen so hilfreich, weil es nur zur Hälfte stimmt. Was nämlich nicht passt, ist die einfache & komplizierte Tatsache, dass es in der Zukunft so etwas wie Sydney oder Singapur nicht gibt. Die Geographie der Zukunft ist noch berauschend unbekannt, kennt keine Kontinente oder Häfen oder Koordinaten. Singapur & Sydney sind ja noch nicht einmal Gegenwart, sondern Vergangenheit.

Die Zukunft kann man mit Konzepten nicht in den Griff kriegen. Die großen gesellschaftlichen Einrichtungen sind aber gerade ständig damit beschäftigt, die heutigen Ängste bis in die Zukunft hinein zu verlagern & die klugen Maßnahmen von heute dementsprechend zu extrapolieren. Die Zukunft wird als eine mengenmäßige Steigerung der Gegenwart verstanden & deswegen können manch einfache & komplizierte Gedanken nicht gedacht werden (zum Beispiel, dass die Arbeitslosigkeit auch damit zusammenhängt, dass Menschen ANDERS arbeiten wollen).

Offene Räume für Unerwartetes bieten Institute ganz wenig. Die aktuelle Wirklichkeit ist diesbezüglich haargenau umgekehrt: sofern es in den gesellschaftlichen Einrichtungen so etwas Zerbrechliches & Behutsames & Berauschendes wie Freiräume gibt, werden sie von individuellen Menschen immer wieder erobert & erkämpft & behütet. Manchmal sehen die Freiräume wie komische oder unpraktische oder träumerische oder sehnsüchtige „Orte“ aus, weil ja alles was nicht irgendwie in die Vergangenheit passt, lächerlich wirkt.

Sich innerlich frei & mutig & verliebt & existentiell auf die Zukunft einzulassen, sind Merkmale einer Kultur des Herzens. Auf der Website www.projektzeitung.org, wo eine Art Zeitung vorgestellt wird die viermal im Jahr erscheint, wird es so beschrieben: „Wo sind Menschen, die sich jenseits politischer Pragmatik Aufgaben in der Welt stellen – Menschen, die Lebensräume schaffen, die auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen?“

Und: „projekt.zeitung will Initiativen darstellen, Menschen ins Bild bringen und Fragen der Zeit vertiefen. Will anregen und Anknüpfungspunkte aufzeigen, Begegnungen stiften“. Und auch: „Junge Mitarbeiter erarbeiten Themen in offenen Redaktionstreffen. Sie hinterfragen Medien, schleifen Sprache, üben Kritik und Zuspruch. Permanente Konferenz, wo auch immer.“

In der neuesten Ausgabe von projekt.zeitung (Titel: „Menschenbilder“ – bitte sofort auf oben genannter Website bestellen!) werden unter der unpraktisch-sehnsüchtigen Behauptung „Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“ etwa zwanzig junge Leute vorgestellt, die „auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen“. Oder genauso gut gesagt: die tun was sie wollen.

Menschenbilder bietet so richtig Text. So sagt Katharina Ludwig: „Ich laufe, ich bin in Bewegung, aber eigentlich kommt die Zukunft auf mich zu.“ Und Benjamin Kolass: „Jede menschliche Begegnung trägt in sich ein potentielles Projekt, im weitesten Sinne“. Und Florian Lück: „Alles das, was den Menschen vorformen will, soll herausgenommen werden, um Situationen zu schaffen, wo Menschen sich treffen können und etwas Neues entsteht.“

Lisei Caspers: „Die Menschen kann ich nicht verändern, aber ich kann Anlass zur Veränderung geben, ich stehe mit meinem eigenen Leben dafür.“ Und Adrian Wagner: „Mit Mercedes bauen ist es eben noch nicht getan, das reicht nicht. Unsere Sprache, Philosophie und Kultur ist nur so lebendig wie wir sie im Herzen tragen und damit in globalen Austausch treten“. Und Krimoun: „Ich hätte gern ´nen Plan, doch habe keinen. Hätte gerne Sicherheit, aber es gibt keine. Würde gern wissen, was ich tue und weiß überhaupt nichts.“

Und Friedel Reinhardt: „Unsere Zeit fordert, dass das Unsichtbare sichtbar werden kann“. Sie hat recht. Auf der unsichtbaren Ebene sind eine Menge „Projekte“ im Kommen: unsichtbare Schulen & Banken & Kigas & Tempel & Zeitungen & Öltanker, die zwar keine institutionelle Verkörperung suchen, das eben gerade nicht, irgendwie aber doch eine sprachliche – und damit soziale – Verankerung brauchen.

Das große Ringen liegt zurzeit in der Frage: wie können die unsichtbaren Projekte zur Sprache gebracht werden? An dieser Stelle ist der Dichter-in-uns gefragt, auch wenn man Erzieher oder Filmemacher oder Journalist oder Kaufmann ist.

13.10.2009

Eine Zerreißprobe. Oder: wie man cool bleibt.

Letzte Woche fragte mich eine Erzieherin, was man machen könnte, wenn sich ein Kindergarten in einer „Zerreißprobe“ befände. Weil ich die Bedeutung des Wortes nicht wirklich kannte & mir nur halbwegs eine Vorstellung davon machen konnte, fragte ich, was sie genau meine. Sie erklärte mir das Wort so: „Bei einer Zerreißprobe wird geprüft, ob etwas dem Druck standhält.“

Sie erzählte, was in ihrem Kindergarten los sei. „Erstens haben wir gerade mit einer neuen Gruppe, die aus zwanzig Kindern besteht, angefangen. Zweitens hat das Team deswegen einen Sprung von vier auf acht Mitarbeiter gemacht. Drittens gibt es natürlich auch viele neue Eltern, die tausend Fragen haben. Viertens wird bei uns renoviert, was viel zusätzliche Arbeit bedeutet & dazu noch Unordnung auf das Gelände bringt.“

Die Zerreißprobe beschrieb sie so. „Die äußeren Umstände fragen ständig um Aufmerksamkeit. Es ist, als ob wir nur noch damit beschäftigt sind, hundert kleinere & größere Sachen zu erledigen, die gemacht werden müssen. Im Endeffekt machen wir nichts mehr wirklich gut. Ich würde sagen: wir machen nicht mehr das, was wir eigentlich machen wollen. Die zwingenden Tatsachen des Lebens haben die Regie übernommen.“

Mich trifft vor allem, dass die Erzieherin von einer „Probe“ spricht. Sie sagt nicht einfach, dass es in ihrem Kindergarten gerade leider viel zu bewältigen gibt & dass so etwas wie organisatorische Vernunft gefragt wird. Ihre Frage ist überhaupt nicht, wie die Arbeit besser zu organisieren wäre. Nein, mit dem Begriff Probe wird eine andere Dimension angesprochen.

In der spirituellen Literatur wird öfters von Proben gesprochen. So gibt es zum Beispiel die Feuerprobe, die Wasserprobe & die Luftprobe. Bei diesen Proben geht es immer um die Frage, ob man im Stande ist, eine schwierige Situation dadurch zu „meistern“, dass auf der Stelle neue Fähigkeiten ergriffen werden. Es geht also nicht darum, zu beweisen, dass man etwas schon kann – die Sache ist eher so, dass man vor der Frage steht, ob man im Jetzt etwas Neues erreichen oder ergreifen kann. Die Probe selber macht also das Geschehen aus.

Wie wäre in dieser Hinsicht eine Zerreißprobe zu verstehen? Als erstes glaube ich, dass an dieser Stelle oft ein Denkfehler gemacht wird, der daraus besteht, dass man sagt: „Manchmal ist das Leben einfach zu viel!“. Natürlich kann das durchaus stimmen: Es gibt Zeiten, in denen das Leben an allen Ecken juckt. Trotzdem kann man aus spiritueller Sicht eigentlich nie von zu viel (oder zu wenig) sprechen – das Leben bietet immer genau das, was ist. Man kann höchstens sagen, dass man nicht immer auf das Leben vorbereitet ist oder mit ihm umgehen kann.

Ein zweiter Denkfehler scheint mir zu sein, dass wir eigentlich immer geneigt sind, die Lösung eines Problems dort zu suchen, wo es in Erscheinung tritt. Wenn das Problem „zu viel“ heißt, versuchen wir es sofort mit „weniger“ auszugleichen. Für einen Kindergarten könnte das zum Beispiel heißen, dass man versucht effizienter & akkurater & „schlauer“ zu arbeiten. Und wenn der Zustand zu lange dauert, holt man einen Organisationsberater dazu.

Im Grunde genommen steht aber bei Proben etwas anderes an, nämlich eine Umkehrung der Aufmerksamkeit. In spirituellen Proben verschiebt sich das Aufgabenfeld nach innen. Die Zerrissenheit hat nämlich zwei Gesichter: einerseits gibt es die Umstände, die uns zerfetzen; anderseits gibt es aber eine Schwäche-in-uns, die dazu führt, das wir nicht ganz wach bei den Dingen bleiben & so das Leben rund machen können. Die Probe macht uns deutlich, dass uns die Präsenz des Selbst fehlt.

Wie holt man sein Selbst dazu? Dazu gibt es viele Techniken - eine davon nennt man „Meditation“. Über die Verinnerlichung kann man in den Bereich gelangen, in dem die Zerrissenheit als Zerrissenheit erlebt wird, also gerade nicht als einen Zustand, den es nicht geben sollte & den wir zu bekämpfen haben. Cool bleiben in einer Zerreißprobe bedeutet eigentlich: die Zerrissenheit als Lebensvorgang akzeptieren.

04.10.2009

Die Waldorferzieherin (2). Eine sprachliche Evokation

Den heutigen Text verstehe ich als eine sprachliche Übung. Mit Sprache sind hier nicht nur: Wörter & Sätze & Redewendungen & Textkörper & grammatische Regeln gemeint, sondern auch das schillernde Spannungsfeld zwischen Wörtern und Bedeutungen. Ich zitiere hier nochmals den englischen Anglisten & Juristen Owen Barfield: „Wörter sind keine Flaschen“. Er wollte mit diesen vier schlichten Worten darauf hinweisen, dass man Bedeutungen nicht mit Wörtern & Redewendungen fixieren kann.

Owen Barfield schreibt in seinem Buch Poetic Diction in meiner Übersetzung: „Bedeutung kann nie von einem zu einem anderen Menschen transportiert werden; Wörter sind keine Flaschen; jeder Mensch muss die Bedeutung für sich selber intuitiv ergreifen, und die Funktion des Poetischen liegt darin, diese Intuition durch passende Suggestion zu vermitteln“.

Um den Sprung in die Welt der Bedeutungen zu machen, muss man also poetisch werden. Es ist dabei egal, ob man als Wissenschaftler, Journalist, Dichter, Blogger oder Jurist schreibt: die Bedeutungen lassen sich nur „suggerieren“ über eine Sprache, die bildhaft & musikalisch & rhythmisch & vor allem evokativ ist.

Der Gegenstand meiner poetischen Übung ist der Begriff „Waldorferzieherin“. Ich möchte versuchen, der Bedeutung dieses Begriffes einen Schritt näher zu kommen. Und wie ich schon in meinem vorigen Blogbeitrag schrieb: ich habe die Hoffnung, dass auch andere sich bemühen werden, die Berufung einer Waldorferzieherin als „Bestimmung“ sichtbar zu machen.

Weil ich Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Köln bin, kenne ich viele Waldorferzieherinnen. Nach einer zweijährigen Fortbildung heißen diese Frauen – es sind eben fast nur Frauen - auf einmal „Waldorferzieherin“. Was ist in diesen zwei Jahren geschehen, dass sie mit einem Zertifikat der Vereinigung der Waldorfkindergärten mit ihrer Arbeit als Waldorferzieherin weiter machen können?

Mich berührt immer wieder, dass die Frauen in den zwei Jahren in sich selbst eine Art Umstellung bewirken. Wie in einem uralten Ritual sind zwei Kandelaber verschoben worden: was Außen war, ist Innen & was Innen war, ist Außen geworden. Anders gesagt: die Welt um mich herum gehört zu mir & meine inneren Erlebnisse gehören zur Welt. Der abstrakte Abgrund zwischen mir-als-Subjekt & dir-als-Objekt ist konkret & lebendig & begehbar geworden.

Für eine Waldorferzieherin ist jedes Kind eine „Weltmacht“, die auf sie zu kommt; und wie das mit Weltmächten nun einmal so ist: um sie kennen zu lernen, muss man auf die eigenen Gewohnheiten & Gepflogenheiten & Erwartungen verzichten, oder vielleicht besser: man muss sich selber neu kennen lernen wollen. Eine Waldorferzieherin weiß außerdem, dass eine Geschichte nur dann wirklich zu einer Geschichte wird, wenn Ereignisse stattfinden; und Ereignisse-im-Jetzt erlebt man nur, wenn man sich unbefangen am Kind beteiligt & das Kind sich an einem selbst beteiligen lässt.

Jedes Kind ist einzigartig & deswegen versucht eine Waldorferzieherin genau so einzigartig zu werden, weil sie erst dann auf die gleiche Augenhöhe mit dem Kind kommt. Wenn das Einzigartige-in-mir sich auf das Einzigartige-in-dir einlässt, entsteht eine neue Einmaligkeit: die Beziehung zwischen mir und dir; und so versteht die Waldorferzieherin ihre Präsenz in einer prinzipiell verwirrenden Gruppe von Kindern: als einen Ort der beteiligten Aufmerksamkeit für einzigartige Beziehungen.

Wo die Kinder andauernd in diesem & jenem verschwinden dürfen, in Kastanien, Würmern, Schrauben & Muttern, Autoreifen, Märchen & Klängen, jeder für sich, gemeinsam, zu zweit, oder zur dritt, versucht eine Waldorferzieherin ihre beteiligte Aufmerksamkeit zu handhaben, und zwar so, dass sie nicht zur Beobachterin wird. Wach dabei sein, kreativ Raum & Zeit schaffen, die Kinder selber gestalten lassen & trotzdem an dieser Gestaltung spielerisch beteiligt sein: diese Aufgabe stellt sich eine Waldorferzieherin.

In doppelter Hinsicht bedeutet diese Aufgabe eine Gratwanderung. Erstens braucht die Waldorferzieherin eine spielerische Beweglichkeit, die auf Intuition beruht. Eine offene Frage ist ihr zur Natur geworden: welche Bedeutungen sind hier & jetzt im Kommen? Sie muss also gleichzeitig Ruhe bewahren & ständig im Fluss sein. Zweitens braucht sie ein allgemeines Wissen von Kindern, um – wegen der Einzigartigkeit der Kinder & der Beziehungen – gerade darauf verzichten zu können.

Ihr Menschenbild ist Gegenstand ihrer fröhlich-ernsthaften Aufmerksamkeit. Man kann nicht Waldorferzieherin sein, ohne auch ein bisschen Philosophin zu werden. Die uralte Frage nach dem Menschen – wer ist der Mensch, woher kommt er, wohin geht er? - steht rund um die Uhr im Zentrum ihrer Arbeit. Und wenn sie gestern dachte, die Antwort auf die Frage bereits gefunden zu haben, wird sie heute feststellen müssen, dass dies Gott-sei-dank nicht der Fall ist.

Das sonnige Menschenbild einer Waldorferzieherin wird ständig aufgewühlt, weil sich eine kräftige Intuition von unten aus einmischt. Irgendwo unten im Dunkel, dort wo unsere Wille einen Weg durch den Tunnel des Lebens sucht, wirkt das Schicksal & das Wissen vom Schicksal & das Spüren des Schicksals. Waldorfpädagogik ist eine Schicksalspädagogik.

Ich meine jetzt gerade nicht den Gedanken, dass die Vergangenheit uns bis in die Gegenwart verfolgt & dass wir uns damit leider auseinander zu setzen haben. Ich meine eher das Umgekehrte, nämlich die dunkle Ahnung, dass das zukünftige Leben der Kinder & von mir, nur & nur in der Gegenwart gestaltet wird. Eine Waldorferzieherin geht davon aus, dass die Menschen in der Gegenwart aus einander hervor gehen, um in der Zukunft frei zu sein.