28.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (2) Gespenster

In sozialen Traumlandschaften gehen Gespenster herum. Auch in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es welche. Es geht dabei um Vorstellungen, die auf irgendeiner Art und Weise an den in meinem vorigen Blog beschriebenen Positionen festgemacht werden. So gibt es das Gespenst des Vorstandsmitgliedes eines Kindergartens, meistens ein junger Mann, der von Anthroposophie „keine Ahnung“ hat und versucht, den Laden „vernünftig“, d.h. „ahrimanisch“ zu verwalten. Dazu kommt das Gespenst des „orthodoxen“ Anthroposophen, der von „Reform“ nichts hören will, und an bereits Gesagtem festhält.

Dann gibt es die überforderte junge Erzieherin. Sie hat zwar ein bisschen Ahnung von Anthroposophie, schafft es aber nicht, ein eigenständiges und kreatives Verhältnis dazu zu entwickeln. Die Eltern haben leider „gar keine Ahnung von Anthroposophie“, müssen aber keine Ahnung haben – die Waldorfkindergärten sind ja für alle Kinder gemeint – sind aber oft ärgerlich ignorant. Zum Schluss muss hier der Funktionär der Vereinigung erwähnt werden, der in seinem dicken Auto anreist, links und rechts gute Ratschläge erteilt und Protokolle schreibt.

Das Spiel der Gespenster ist umnachtet. Um die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten herum gibt es die sogenannte öffentliche Gesellschaft, die weiterhin als eine Bedrohung verstanden wird. Pisa, Kibitz und Sprachstandsverfahren sind nicht nur untaugliche politische oder pädagogische Instrumente (was sie aus meiner Sicht klar sind), sie kriegen in der Welt der Gespenster etwas Dämonisches. Sie werfen große Schatten und machen die Gespenster fast unsichtbar. Wie das öfters mit Dämonen ist: Sie werden für die Unzulänglichkeiten in der Gemeinschaft der Gespenster verantwortlich gemacht.

Es gibt in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten nicht nur Gespenster, wie es in der öffentlichen Gesellschaft nicht nur Dämonen gibt. Es gibt in der Gemeinschaft vor allen Dingen Menschen, die unbedingt ein bewusstes Verhältnis zu den Gespenster finden müssen. Die Gespenster sind in dieser Hinsicht nur zu verstehen als hilfreiche Erscheinungen in sozialen Traumlandschaften; sie sind hilfreich, weil sie klipp und klar zeigen können, wo es welche Nöte gibt. Gespenster verneinen oder totschweigen, bringt nichts – sie arbeiten dann einfach ungestört weiter. Gespenster angreifen hilft auch nicht – sie werden dadurch nur stärker.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster als Kreaturen verstanden, die sich in Bezug auf ganz bestimmte Nöte gut auskennen. Gespenster haben Nöte geschluckt, weil sie Nahrung brauchen. Gespenster haben Nöte bis zur Vergessenheit verinnerlicht. Und weil sie von unseren Nöte leben, die wir aber nicht als Nöte verstehen, und weil die Gespenster außerdem nicht glauben, dass wir bereit sind, die Nöte auch wirklich als Nöte zu akzeptieren und anzuerkennen, bleiben die Gespenster sicherheitshalber im Dunkel. Umgekehrt glauben wir nicht, dass die Gespenster bereit sind, sich zu öffnen, gerade weil sie Nahrung brauchen. Zwischen uns und unseren Gespenstern existiert ein klassischer Vertrauensbruch.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster zum Gespräch eingeladen. Wie geht das? Die üblichen Rituale in Vorstandssitzungen, Teambesprechungen und Elterntreffen reichen nicht aus, oder besser gesagt, wirken in Bezug auf die Gespenster eher ausladend. Das Top 1 - Top 2 - Top 3 – plus – Protokoll – Schema erzeugt nicht nur eine scharfe Trennung zwischen dem was relevant und irrelevant wäre, sondern auch zwischen Licht und Dunkel. Was dunkel ist, bleibt draußen vor der Tür. Die Frage ist: Wie führt man Gespräche in Traumlandschaften?

Mit Gespenstern ins Gespräch zu kommen, ist eine Kunst. Auf der Ebene einer größeren Traumgemeinschaft, wo die Verbindungen meistens anonym sind, gilt es vor allem, nicht nur funktionell zu kommunizieren. Gespenster gedeihen in einem Klima, wo das verbale Hin und Her (oder leider oft nur das „Hin“) auf die sachliche Ebene reduziert wird. Dringend notwendig ist eine Kultur, in der Personen hinter den Positionen zum Vorschein kommen und in der (relativen) Öffentlichkeit sichtbar werden. Gerade persönliche Anliegen & Verletzungen & Hoffnungen & Träume & Unsicherheiten & Grollen & Wünsche & Vorsätze könnten ins Spiel gebracht werden.

Dabei braucht es aber nicht zu bleiben. Wenn sogenannte „subjektive“ Wahrnehmungen & Empfindungen & Erlebnisse sichtbar sind, können sie angeschaut und „objektiviert“ werden. (So ist das: Der zweite Schritt der Objektivierung kann erst fruchtbar vollzogen werden, wenn der erste Schritt der Subjektivierung stattgefunden hat. Den ersten Schritt zu unterdrücken, zum Beispiel dadurch, dass er nicht für „geistig“ gehalten wird, führt zu einer sozialen Lähmung.)

Es gibt in der Gemeinschaft der Kindergärten zwei „Spielfelder“, in denen das Gespräch mit den Gespenstern geübt werden kann: in den unterschiedlichen regionalen und überregionalen Treffen, und in der schriftlichen Form der Kommunikation. Mir scheint es eine Herausforderung zu sein, für beide Spielfelder neue Spielregeln zu finden. (Fortsetzung folgt)
(Mit dank an Birgitt Kähler)

21.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (1) Ereignisse

In der Waldorfkindergartenbewegung in Deutschland stehen zumindest drei grundlegende Fragen an. Die erste Frage betrifft die Grundidee des Kindergartens selbst. Aus welchen Gründen meinen wir, dass es Kindergärten geben soll? Und wie sollen sie aussehen? Die zweite Frage betrifft die Vorstellungen, die wir davon haben, was ein Kind eigentlich ist. Wenn wir meinen, dass es dieses wunderbare Wesen wirklich gibt (d.h. keine soziale „Konstruktion“ ist), was macht dann sein Wesen aus?

Und die dritte Frage bezieht sich auf die Bedeutung der Anthroposophie im Leben und Arbeiten in und um den Waldorfkindergarten. Wenn die Anthroposophie kein ideologischer Lieferant von pädagogischen Methoden & Rezepten ist, welche Bedeutung hätte sie dann? Klar müsste sein, dass diese drei Fragen – besser wäre vielleicht zu sagen: diese drei Untersuchungsfelder – eng miteinander verknüpft sind. An dieser Stelle gilt, dass man sich nicht in dem einen Untersuchungsfeld bewegen kann, ohne ständig auf die zwei anderen Bezug zu nehmen..

Über die zweite und die dritte Frage könnte gesagt werden, dass Rudolf Steiner sie schon beantwortet hat. Das stimmt durchaus, reicht allerdings nicht mehr aus. Erstens sind Antworten immer Aussagen unter bestimmten Umständen – und seit dem Tod Rudolf Steiners im Jahr 1925 hat sich viel verändert. Zweitens geht es gar nicht mehr um die Frage, was Rudolf Steiner damals gemeint hat. Die heutige Lebenspraxis wird dadurch bestimmt, was Menschen heute denken, fühlen und vor allem wollen. Und was die erste Frage angeht: Rudolf Steiner hat sich einfach nie mit der Einrichtung eines Kindergartens beschäftigt. Die Bewegung der Waldorfkindergärten ist erst nach seinem Tod entstanden.

Eine Falle wäre, sofort in die drei genannten Untersuchungsfelder einzusteigen und klare Statements abzugeben. Das wird hier und da getan, bringt aber nichts. Mir scheint nämlich, dass die drei Fragen eine Vierte hervorrufen, die eigentlich nie gestellt wird. Gerade diese Frage müsste ins Zentrum des Denkens gerückt werden. Die Frage lautet: Was sagt uns die Tatsache, dass die drei Fragen zu einer träumenden Gemeinschaft gehören? Oder anders gesagt: Wie wäre zu erreichen, dass diese Gemeinschaft von Menschen, die mit dem Impuls der Waldorfpädagogik verbunden sind, in Bezug auf die Fragen wach wird? Oder noch anders gesagt: Wie könnte in dieser Gemeinschaft wirklich ein Diskurs entstehen?

Hinter dieser Frage steckt ein klares Urteil. Die eigentliche Krise der Waldorfkindergärten liegt darin, dass leider von einer wachen Gemeinschaft nicht gesprochen werden kann. Dieser Umstand wäre auf unterschiedlicher Art und Weise zu beschreiben – heute versuche ich es folgendermaßen. Wenn man auf die unterschiedlichen „Positionen“ in der Waldorfkindergartenbewegung schaut, fallen ein paar Probleme auf. Mit Positionen meine ich hier: Man ist ein „Elternteil“ (excusez le mot, man müsste eigentlich sagen: ein Vater oder eine Mutter), ein Kind, eine Erzieherin, eine Kindergartenleiterin, ein Vorstandsmitglied, ein Funktionär der Internationalen Kindergartenvereinigung oder ein wohlwollender Unterstützer. (Für mich gilt, dass ich ein Funktionär bin. Ich bin in der Leitung des Seminars für Waldorfpädagogik in Köln tätig, und Mitglied des Verantwortungskreises der Internationalen Kindergartenvereinung in NRW.

Die lange und reiche Vergangenheit der Waldorfkindergartenbewegung hat dazu geführt, dass eine formale Welt von Positionen und dementsprechend mit scheinbaren Verantwortungen entstanden ist. Diese Verantwortungen sind aber losgelöst vom wirklichen Leben. Das heißt, dass Entscheidungen zwar formal getroffen werden können, in der Lebenspraxis aber nur von ganz Wenigen getragen werden. Egal, ob man auf die internationale Kindergartenvereinigung bundesweit, auf die Kindergartenvereinigung in beispielsweise NRW oder auf die einzelnen Kindergärten schaut, grundlegende Entscheidungen haben nie die Bedeutung, die sie haben müssen um wirklich Entscheidung zu sein, nämlich die Bedeutung eines Ereignisses.

In der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es keine Ereignisse mehr. Was ist ein Ereignis in einer Gemeinschaft? Ereignisse erzeugen Geschichte. Ereignisse gestalten die Biographie der Gemeinschaft. Das geht aber nicht von alleine. Mit Ereignissen ist es halt so, dass sie erst dann auch wirklich Ereignisse sind, wenn sie als Ereignis wahrgenommen und erlebt werden. Ereignisse die nicht gemeinsam wahrgenommen & erlebt & bewertet & integriert werden, sind kollektive Träume. Sie bleiben wie Schatten an der Wand. Sie bestimmen zwar eindringlich die Gefühle – und über die Gefühle auch die Gedanken und Taten – der Mitglieder der Gemeinschaft, sie erreichen aber nie die Transparenz, die als Bedingung für freie Entscheidungen notwendig ist. Erst wenn eine Gemeinschaft um gedankliche Transparenz ringt, d.h. einen aktiven und wachen Diskurs führt, entsteht ein gemeinsames Erleben von Ereignissen. (Fortsetzung folgt)
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

14.12.2007

Mani heute. "Stand up to be discontinued"

Stuttgart, den 6. Dezember. Roland van Vliet steht auf der Bühne im Saal von Forum3. Er redet. Ich schaue ihn an und komme an drei Phänomene nicht vorbei. Das erste ist seine riesige Gestalt. Nur weil ich Roland zu meinen Freunden rechne, darf ich schreiben, dass er physisch enorm ist. Sein Bauch ist groß, sein Kopf ist groß und seine Gebärden sind groß. Und weil seine Haare richtig lang sind – nein, wegen seinem vornehmen dreiteiligen Anzug sieht er gerade nicht wie ein Sechziger aus – wirkt das Ganze imposant. Irgendwie meint man, dass sich in seinem Körper alles Mögliche zusammengefunden hat, um strahlend & unausweichlich präsent zu sein.

Das zweite Phänomen betrifft sein Denken. Sein Denken ist groß & weit & gewichtig. Seine Gedanken haben Gewicht. Als er etwas über Nietzsche und Foucault sagt, spürt man ein Kilo Philosophie – ein Kilo, das übrigens trotz seines Gewichts frei & schwebend bleibt. So denkt Roland van Vliet: Er nimmt gewichtige Gedanken zwischen seine Arme und bewegt sie mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, als ob er ein Tänzer wäre mit einer Partnerin, die er mühelos hin und her bewegt. Alle wunderbaren Seiten der Partnerin werden uns gezeigt. Und müde scheint Roland nicht so werden – ganz am Ende schwitzt er nur ein bisschen.

Dann aber das dritte Phänomen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was der richtige Begriff dafür ist. Wirkt er charmant? Ja. Wirkt er liebevoll? Ja. Wirkt er empathisch? Durchaus. Ich würde es vorläufig so beschreiben: Er scheint eine Innenwelt zu haben, die sich weit über seinen Bauch und seine breiten Gebärden bis an die Hinterwand des Saals ausbreitet und den Zuhörern einen „Verbleib“ bietet, wo Wärme & Licht herrschen. Ich fühle mich in diesem Innenraum nicht nur „aufgehoben“, sondern auch zu mir geführt. Irgendwie scheint es mir so zu sein, als ob Roland ein jungfräuliches Lächeln verbreitet, das einen milden Riss in der harten Wirklichkeit verursacht.

Das Thema in Stuttgart ist der Manichäismus. Anlässlich des Erscheinens eines Buches von Roland über Manichäismus[i] sind etwa hundertfünfzig Leute aus Deutschland, Schweden, der Schweiz, Belgien und Holland zusammengekommen. Als Erster spricht Professor Alois van Tongerloo aus Leuven. Am Ende seines Vortrages erzählt er von den Namen der Hauptfiguren in der Gralsgeschichte. Als er den Namen „Parzival“ behandelt und die Bedeutung dessen beschreibt, klingt bisher Ungesagtes. Van Tongerloo meint, dass der Name Parzival nichts anderes bedeutet als: „Der das Umherschweifende erleidet in einer nicht koordinierten Bewegung“.

Dann bin ich dran. Ich hatte geplant, mit einem Zitat von Captain Beefheart anzufangen, nämlich: „Stand up to be discontinued“ – und ich mache das auch. Ich stelle aber fest, dass Beefhearts Aussage unerwartet eingebettet ist in der Übersetzung des Namens Parzival. Hatte die Aussage Beefhearts für mich schon eine Aura, so findet sie noch eine zweite nach innen gerichtete Strahlung in der neuen Bedeutung des Namens Parzival. Und ich denke: Wie kann es wahr sein, dass heute in Stuttgart diese beiden Sätze ungeplant (nicht koordiniert) zusammenkommen? Und ich merke, dass durch dieses Zusammenkommen das Umherschweifende greifbar wird.

Als Roland als Letzter auf der Bühne erscheint, kriegt das Umherschweifende eine Gestalt. Er lässt seinen geplanten Vortrag sein was er ist, (nämlich ein geplanter Vortrag), und reagiert spontan auf das, was Alois van Tongerloo und ich gesagt haben. Er spricht von der „ungeteilten Aufmerksamkeit“ – d.h. von der Fähigkeit, sich im wachen Bewusstsein mit den Dingen & Worten & Menschen & Gedanken & Gefühlen & Taten zu verschmelzen. Und er redet von Einheit und Verschiedenheit – ein Thema, das schon Plato sehr beschäftigt hat. Wo findet man die Einheit in der Vielfalt? Und umgekehrt natürlich genau so: Wo findet man die Vielfalt in der Einheit? Wenn ich Roland gut verstehe, meint er, dass wir die Einheit finden in dem Akt – was ja ein Ereignis ist – der Verschmelzung im wachen Bewusstsein. Das Bewusstsein ist die Stelle, wo die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt nicht nur erlebt, sondern vor allem erst kreiert und dann wieder aufgehoben wird.

Das Treffen in Stuttgart war ein Ereignis und ich empfehle, das Buch von Roland zu lesen.

[i] Roland van Vliet, Der Manichäismus. Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche, Urachhaus, 2007

03.12.2007

Der Beamte und Maler Janssen aus 1850

Frau Janssen führt uns über die breiten Treppen in ihr vornehmes Haus in Aachen. Unsere Stimmen klingen ein wenig hohl. Weil wir mit einer ganzen Truppe aus dem Kinderhaus „Kahlgrachtmühle“ zu ihr gefahren sind, schaffen wir es aber ohne Mühe das große Treppenhaus mit diskontinuierlichem Leben zu füllen. Frau Janssen bleibt ruhig. Das Haus bleibt auch ruhig. Die Statuen, die Möbel und die Teppiche ruhen in einer Zeit, die schon längst vorbei ist. Und wenn Björn und Marina aus Neugier verbotene Türen ausprobieren wollen, greift Frau Janssen ruhig ein. In diesem Haus herrscht noch feine Aristokratie.

Das Ziel unseres Besuches steht improvisorisch aufgestellt auf einem uralten Sofa, das wahrscheinlich sonst nie benutzt wird. Es betrifft ein Gemälde nach holländischer Art, hundertfünfzig Jahre alt. Frau Janssen heißt ja Janssen, weil ihre Familie aus der holländischen „Zelfkant“ stammt. Frau Janssen ist die Urenkelin eines Aachener Beamten, eines Herrn Janssen, der damals „nicht viel zu tun hatte und deswegen Zeit übrig hatte um zu malen“. Etwa 1850 ist der Maler auch mal an der Kahlgrachtmühle vorbei gekommen, hat sich dort hingestellt und sich über die Landschaft gefreut, die sich über die Dächer der Mühle in der Richtung nach Aachen offen und frei entfaltet.

Das Gemälde ist entzückend. Der Maler Janssen muss ein frischer, fantasievoller und liebender Beamte gewesen sein. Einerseits öffnet das Bild einen weiten Raum. Es übermittelt das Gefühl, dass die ganze Welt bereitwillig zu deinen Füßen liegt. Die Landschaft ist da, um herzlich betreten zu werden; die Welt ist da, um die Freiheit zu genießen. Andererseits zeigt das Bild wunderbare Details, die man leicht übersieht (wenn man sich, anders als die Janssens, die Zeit und die Ruhe nicht nimmt). Es gibt meditierende Störche, einen Mann, der gehetzt einen Esel forttreibt, Bauern, die entspannt Äpfel pflücken, eine Frau, die mit einem Kind unterwegs ist, die Spiegelung der Häuser in einem Teich, Rauch, der kerzengerade aus einem Schornstein steigt... Der Maler Janssen hat die Weite der Freiheit und die einzigartigen Einzelheiten des Lebens geliebt. Vor allem trifft mich aber, dass die Zeit in der Landschaft wie ausgeschaltet scheint – genau so, wie in dem vornehmen Treppenhaus und wie in der gehaltenen Gebärde der Urenkelin. Die Ruhe im Gemälde ist die gleiche Ruhe wie im Haus. Frau Janssen bewahrt noch immer die Ruhe, die ihr Urgroßvater innehatte.

Der Beamte und Maler Janssen aus dem neunzehnten Jahrhundert öffnet meine Augen für unsere Gegenwart. Mit seinen Augen schaue ich bei der Kahlgrachtmühle-von-heute herum und stelle fest: es gibt vieles, dass es damals noch nicht gab, und es gab vieles, dass es heute nicht mehr gibt. Nein, Störche gibt es nicht mehr. Nein, den Mühlenteich gibt es nicht mehr. Nein, die wunderbare Öffnung in der Landschaft nach Aachen gibt es nicht mehr.

Gibt es die Freiheit noch? Klar ist, dass die heutige Autobahn die weite und entzückende und zur Freiheit verführende Sicht auf die Landschaft weggenommen hat. Anders als damals liegt die Mühle heute in einer Ecke, fast verborgen in einer Achse zwischen Autobahn und künstlichen Hügeln von Schutt aus dem Krieg. Seit hundertfünfzig Jahren ist ja unheimlich viel passiert – und man merkt es! Mir scheint es, als ob das Leben dichter und dringender geworden ist.

Als wir aber versuchen die genaue Stelle zu finden, wo der Maler Janssen damals gestanden und auf die Mühle geschaut hat, sagt Martin Soltau: „Die Apfelbäume stehen noch genau so am Abhang wie damals“. Und so ist es. Ich schaue und sehe, dass die Obstbäume eine Art Sprung machen, als ob sie sich mit einem Ruck halb drehen, in den freien Himmel hoch „springen“ und sich dort an Licht und Luft freigeben. Gerade dieses Springen und sich in den freien Himmel Preisgeben, hat der Maler vor hundertfünfzig Jahren gesehen. Er hat es aber nicht nur gesehen, sondern auch in sich selber nachvollzogen, so dass er es malen konnte.

Auf einmal meine ich das Springen und das sich nach oben in Luft und Licht Freigeben-wollen, überall in der Landschaft zu sehen. Die Obstbäume präsentieren irgendwie ein Urbild für die Landschaft um die Kahlgrachtmühle herum. (Eben der kerzengerade Rauch aus dem Schornstein scheint mir auf einmal auch an dem freigebenden Springen beteiligt zu sein.) Und hundertfünfzig Jahre später kann ich es bestätigen Dieses sprunghaft sich Freigeben nach oben, in Luft und Licht hinein, ist gerade, was ständig mit uns in die Mühle passiert. Der Unterschied zu der damaligen Zeit ist nur, das die Voraussetzungen ein wenig bedrängter geworden sind. Die Sprünge sind aber dementsprechend schöner geworden.
(Mit dank an Ruthild Soltau)

21.11.2007

"Mani heute"

Am 6. Dezember erscheint in Deutschland von Roland van Vliet das Buch „Der Manichäismus. Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche“. Ich bin gefragt worden anlässlich des Erscheinens einen Vortrag zu halten. Als Titel für meinen Vortrag habe ich „Mani heute“ gewählt.

Ich habe diesen Titel gewählt, weil das Anliegen von Roland van Vliet darin besteht, den Manichäismus zu aktualisieren. Roland möchte alles andere, als den Eindruck erwecken, dass der Manichäismus als historisches Ereignis vorbei wäre. Auch wenn Roland sich in seinem Buch ausführlich mit der Vergangenheit beschäftigt, macht er das nur, um gedanklich und intentional ein Licht auf die spirituellen Brennpunkte der heutigen Zeit zu werfen. Als ich sein Buch las, musste ich ständig an diese Sätze von Michel Foucault denken: „Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Und was ist dieses `Jetzt´, innerhalb dessen wir die einen und die anderen sind ...?“

Was ist dieses `Jetzt´? Hat das `Jetzt` einen Inhalt? Wenn man versucht, sich dem Begriff ´Jetzt` tastend anzunähern, taucht sofort ein zweiter Begriff auf, nämlich `Ereignis´. Der Inhalt des `Jetzt´ ist immer ein Ereignis. Wenn man im Nu lebt, erlebt man ein Ereignis, man wird zum Ereignis. Das Ereignis kann alles sein: z. B. ein Gedanke, eine Erinnerung, aber auch ein wunderbares Tor von Podolski, ein Lied von Sting, ein Kuss, ein Unfall, die Stille, ausgesprochene Worte und unausgesprochene Worte, ein Espresso... Im `Jetzt´ - Martin Heidegger würde sagen: im Sein – gibt es nur Ereignisse.

Was ist ein Ereignis? Es gibt große Ereignisse, kleinere Ereignisse und winzig kleine Ereignisse. Ein winzig kleines Ereignis gab es letzte Woche noch in meinem Garten, als ich sah, wie ein Birkenblatt leise nach unten wirbelte und sich auf die Wiese zur Ruhe hinlegte. Ich war betroffen von der Leichtigkeit, der Ruhe und dem sich ohne weiteres Fallenlassen wollen – und das Geschehen vollzog sich nicht nur außerhalb von mir, sondern auch in mir. Tausende von Birkenblätter lagen schon auf der Wiese – niemand hat aber gesehen, wie diese heruntergefallen sind. Weil ich sah, wie gerade dieses Birkenblatt nach unten wirbelte, wurde es ein Ereignis. Ein Ereignis wird erst dann ein Ereignis, wenn es als Ereignis wahrgenommen, miterlebt und nachvollzogen wird.

Ein Ereignis scheint mir eine Schöpfungstat zu sein. Nicht nur Blätter sind daran beteiligt, sondern auch aufmerksame Bewusstseine. Ohne Aufmerksamkeit keine Ereignisse. Rudolf Steiners Beitrag an das Christentum scheint mir vor allem zu sein, dass er das Christentum – besser gesagt: den Tod und die Auferstehung von Christus, damals als historisches Geschehen in Palästina – als Ereignis verstanden hat. Nicht die Lehre von Christus stand für Steiner zentral, sondern die Tatsache, dass etwas geschehen war. Er spricht dann auch vom Christentum als „mystische Tatsache“. Das Geschehen auf Golgatha nennt er ein „Mysterium“ – was auch ein Ereignis ist. Und er behauptet kühn, dass diese Tatsache für alle Menschen einen zentralen Wert hat.

Mit dieser Stellungnahme ist ein Problem verbunden. Ereignisse treten immer in Raum und Zeit auf, das heißt, Ereignisse haben eine geschichtliche Einbettung. Die Art und Weise wie wir von einem Ereignis sprechen, wird durch Raum und Zeit bestimmt. Wir wissen mittlerweile, dass das Christentum als historischer Strom in Europa vom jüdisch-hellenistischen Denken und Erleben geprägt ist. Anders gesagt: Die mystische Tatsache, das Ereignis, wurde auf eine ganz bestimmte Art und Weise, vor allem über den Apostel Paulus, weitergetragen. Andere Perspektiven sind historisch gesprochen in den Hintergrund geraten.

Um zu verstehen, worum es sich handelt, brauchen wir an dieser Stelle Michel Foucault. Er hat einfach festgestellt, dass Menschen auf Ereignisse reagieren. Warum? Weil, reagieren auf Ereignisse heißt, dass man Ereignisse schöpft. Foucault würde sagen: Auf Ereignisse reagieren, heißt schöpferisch leben. Michel Foucault hat verstanden, dass es ohne Bewusststein keine Ereignisse gibt. Dann hat er einfach festgestellt, dass Menschen nicht auf die gleiche Art und Weise auf Ereignisse reagieren. In individuellen Menschen, in Gruppen von Menschen, in Kulturen und Epochen herrschen, was er „Episteme“ nennt, dass heißt in meinen Worten: unterschwellige Vorstellungen, Normen und Werte, ja, vor allem Intentionen, die insgesamt selbstverständlich als „Erkenntnis-Systeme“, als „Wahrheits-Grundlagen“ genommen werden. Diese unterschiedlichen „Wahrheits-Grundlagen“ führen zu was Foucault „Diskurs“ nennt.

Die Frage, woher diese Episteme stammen, konnte Foucault nicht beantworten. Er meinte, die Episteme entstehen spontan und beliebig, ja unbewusst experimentell. Laut Foucault werden alte und neue Episteme immer wieder einfach ausprobiert. Rudolf Steiner hätte aber an dieser Stelle gesagt: Episteme sind karmisch bedingt. Er hätte die großartige Entdeckung von Michel Foucault, dass es unterschiedliche Episteme gibt und dass diese Episteme zu unterschiedlichen Diskursen führen, als einen wichtigen Schritt verstanden. Er hätte gesagt: Schau auf die innere Logik der unterschiedlichen Episteme und du wirst die karmischen Hintergründe verstehen.

Das oben erwähnte Problem liegt eben darin, dass das Christentum-als-Diskurs schon rein sprachlich in ganz bestimmte Episteme eingebettet ist. Christus heißt ja Christus, was ein griechischer Name ist. Christus heißt nicht Krishna oder Zarathustra. Wenn, wie Steiner behauptet, das christliche Ereignis, das Mysterium von Golgatha, für alle Menschen gilt und wenn man auch behauptet, dass eine bewusste Beziehung zu diesem Ereignis entscheidend ist – ohne Bewusstsein kein Ereignis! – stellt sich die Frage: Wie kann das Ereignis für andere Episteme geöffnet werden? Das heißt: Wie kann über die europäische Geschichte hinaus von einem Ereignis gesprochen werden, das wir nur über die europäische Geschichte kennen gelernt haben?

Ich werde in meinem Vortrag versuchen, deutlich zu machen, dass diese Fragestellung eine manichäische ist. Das Auftreten von Mani im dritten Jahrhundert ist gerade so zu verstehen: Er hat sich damals mit unterschiedlichen Epistemen auseinandergesetzt und in diesen Epistemen die Bilder, Vorstellungen, Normen,Werte und Intentionen gefunden, die es ermöglichen, vor Ort eine bewusste Beziehung zu der mystischen Tatsache zu finden. Dieses „vor Ort“ war zentral in seinem Bemühen.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

12.11.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt? (2)

Bochum, den 27.10.2007. Ich nenne sie für heute Eveline. Sie steht (da) ganz vorn und schaut mit offenem forschenden Blick auf uns, die ja auf sie schauen. Auch heute dürfen wir wieder unverhohlen schauen, weil das die Übung ist. Eveline hat sich zur Verfügung gestellt, weil wir eine Antwort finden wollen auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Die stumme Sprache ihrer Gestalt spricht. Erst sehen wir „Stabilität“, dass heißt, die Gestalt steht richtig auf der Erde. Es scheint so, als ob es an der rechten und linken Seite ihrer Gestalt eine Art umgekehrtes U gibt, ein ∩ also, was das Ganze zusammenhält und festigt. Und ständig taucht das Wort „Kraft“ auf, als ob die ganze Gestalt darauf hingerichtet ist, nicht nur Kraft zu sammeln, sondern auch „kräftig“ zu handeln. Ich weiß, dass Eveline Bildhauerin ist, und denke: Wenn es um Granit geht, weiß ihre Gestalt Bescheid. Einer der beobachtenden Anwesenden drückt es wunderschön aus: „Die Schultern haben die Hände zur Verfügung“.

Wir schauen genauer auf die Einzelheiten und stellen fest, dass es überall asymmetrische Verhältnisse gibt. Die Augenbrauen, die Augen, die Mundwinkel, die Schultern, die Hände (die rechte hängt ein kleines bisschen tiefer als die linke) – alle Doppelungen sind auf einer feinen Art und Weise dem Gesetz der Asymmetrie untergeordnet. Jemand sagt: „Die Stabilität scheint mir eine zu sein, die sicher in der Asymmetrie gelandet ist.“ Jemand anders stellt fest: „Die Asymmetrie bildet einen Rhythmus, der sich von oben nach unten bewegt“. Und so ist es: Hat man den Rhythmus der Asymmetrie einmal bewusst gesehen, sieht man ihn überall.

Und dann sagt jemand auf einmal: „Deine Lippen sind perfekt!“

Wir konzentrieren uns auf Evelines Blick. Mit dem Blick sind Aufmerksamkeit und Bewusstsein verbunden. Alexander Schaumann stellt uns wieder eine unmögliche-wunderbar-mögliche Frage: „Woher kommt der Blick?“ Ich schaue und schaue und schaue, und langsam ensteht in mir ein unmöglich-wunderbar-möglicher Satz: „Der Bewusstseinsstrom kommt von oben, taucht im Herzbereich unter und nimmt dort ein warmes und schlafendes Wissen auf, steigt wieder nach oben, geht durch die Augen in den Raum und befragt frei die Welt“.

Diesmal malen wir nicht, sondern wir dichten. Das heißt: Wir schreiben gemeinsam ein Gedicht um unseren Beobachtungen außerhalb von uns eine Form zu geben. Glauben Sie mir, der Weg war lang. Gemeinsam um Worte ringen, ist nicht einfach. Trotzdem gab es auf einmal ein gemeinsames Empfinden, einen Strom von gegenseitigen Bejahungen – der Text fing auf einmal an, sich selber zu schreiben. (Ich kenne das als Schriftsteller: Wenn der Text selber tätig wird und sich von sich aus in den Prozess einmischt, entsteht Gutes. Der Titel des Gedichtes heißt natürlich „Hymne“.

= Hymne=
Deine Lippen sind perfekt!
Du
U.
Deine Schultern
haben die Hände zur Verfügung.
Stabil ist dein Stand. Deine Gestalt:
Rhythmus der Asymmetrie.
Vorbehaltlos ist dein Atmen.
In deinem conkaven Flach
spürst du den Hauch von außen.
Deine Brust speist die Hand.
Ruhe –
Dein Blick sammelt sich in der Frage:
Wer bist du?

31.10.2007

Der Tod und die Betroffenheit

Herzwerk und Tod hängen eng zusammen. Die Betroffenheit, die mit dem Tod einhergeht, weckt die Fähigkeit, die Botschaften des Lebens auf eine nicht-triviale Art und Weise zu lesen und zu verstehen. Die immer einzigartigen Ereignisse, die mit einem Sterben zusammenhängen, haben eine Intensität, die auf der Ebene des Herzens wirkt. So ist das mit dem Tod-im-Leben: Er steigert die Fähigkeit zum Leben.

In den letzten Wochen wurde in meinem Leben viel gestorben. Anfang Oktober starb Uwe Gronbach, der Vater meines Freundes Sebastian. Ich bin am 12. Oktober nach Bad Godesberg gefahren um in der Kirche der Christengemeinschaft an der Trauerfeier teilzunehmen. Es war ein wunderschöner Herbsttag mit einem warmen Licht, das sich sanft über uns ausbreitete. Nach der Trauerfeier sagte Sebastian über seinen Vater: „Seine Liebe zur Tat... Seine große, große Liebe zu den Menschen... Zu jedem einzelnen und zu allen... Das wird in diesen Stunden frei und es steht Ihnen und uns zur Verfügung. Bitte bedienen Sie sich. Es ist reichlich vorhanden.“

Genau sieben Tage später war ich in Kosiče in der Slowakei, um Marianka Novak zu kremieren. Ich hatte im August auf meiner Blogsite schon über sie geschrieben (siehe: „Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich“.) Auch in Kosiče konnte man spüren, dass etwas frei wurde. Mit ihrem Tod hat Marianka uns den Mut zum Verzeihen zur Verfügung gestellt, das heißt, die Bereitschaft, auch dann die Menschen aktiv zu lieben, wenn sie uns schwer verletzt haben. Als ich mich am Flughafen von ihren beiden Söhnen Boris und Brano verabschiedete, war uns klar: Der Tod Mariankas hat nochmals bestätigt, dass wir uns gegenseitig als „Stützpunkte“ in unseren Biographien verstehen.

Eine Stunde nach meiner Ankunft spät abends in Deutschland kam die Nachricht, dass mein Vater Harm van der Meulen gestorben war. Als ich am nächsten Morgen in Utrecht ankam, waren meine Geschwister schon dabei, die Beerdigung zu regeln. Wir saßen in seinem Zimmer, rauchten seine letzten Zigaretten und sprachen über sein Leben und sein Sterben. Zwei Aspekte standen immer wieder im Zentrum unserer Aufmerksamkeit: seine tiefe – und in den letzten Jahren auch milde – Liebe für unsere Mutter (die im August 2006 gestorben war) und die entschiedene Art und Weise, wie er sich als Gewerkschafter und Politiker verstanden hat.

Mein Vater meinte, dass Gott der Gestalter seiner Biographie war. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass er selbst sein Leben gestaltet hat, und zwar entschieden und ohne wenn und aber. Gerade mit Kunst hatte mein Vater nichts am Hut – Künstler waren in seinen Augen irgendwie halbwegs schon „subversiv“. Kunst war „flauwekul“. Und die einzige Kunst die er liebte, nämlich die Poesie der Bibel, fasste er nicht als Kunst auf, sondern als Gesetz. Als Lebenskünstler war er aber wie ein Bildhauer, der aus hartem Granit sein Leben gestaltete. Diese Fähigkeit kam frei als er starb: das Leben zu verstehen als eine Skulptur – und vor allem auch die Fähigkeit, am Ende seines Lebens die Skulptur zu verfeinern, glatt und lieb, ja, berührbar zu machen.

Einen Tag nach der Beerdigung meines Vaters in Utrecht kam Aachen. Für den Abend war dort in der Waldorfschule ein Vortrag geplant: „Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens“. Am Vormittag kam dann die unfassbare Nachricht, dass ein Vater seine Frau und seine zwei Kinder mit einem Beil getötet hatte. Der Vater, die Mutter und die zwei Kinder gehörten zum Umkreis der Waldorfschule. Einige meiner Freunde in Aachen kannten die Familie sehr gut. Eine Freundin der getöteten Frau schrieb mir: „Ich kann es immer noch gar nicht begreifen und bin fast nicht in der Lage, es auch nur auszuhalten.“

Am Abend kamen etwa sechzig Leute in der Waldorfschule zusammen um meinen Vortrag zu hören. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor dem Wesen der Betroffenheit so stark und unausweichlich begegnete, wie an diesem Abend. Was in den letzten Wochen in meinem Leben schon fast physisch handgreiflich geworden war, die geistige Substanz der Betroffenheit, vertiefte sich ins Unermessliche. Spürbar war, dass das schreckliche Ereignis eine Bedeutung für die ganze Gemeinschaft hatte. Die Betroffenheit wurde zu einem gemeinsamen Boden. Was aber das schreckliche Ereignis in Aachen freigesetzt hat, ist nicht zu sagen. Mir scheint es an meiner Stelle respektlos zu sein, mir darüber Gedanken zu machen.

Die Betroffenheit ist ein Geschenk. Die Betroffenheit öffnet Türen in das große Da-oben, Da-hinten, Da-unten, Da-drinnen. Die Betroffenheit führt in den weiten Innenraum der Ahnungen. Die Betroffenheit ermöglicht Beziehung. Das Leben lehrt aber, dass es bei diesem Geschenk nicht bleiben kann und nicht bleiben muss. Erst wenn wir aus der Betroffenheit heraus entschieden Entscheidungen treffen, wird sie nachhaltig wirksam. Das Leben als Herzwerk setzt sich über die Betroffenheit hinaus fort in die Bereitschaft, die eigene Biographie und die Gemeinschaft bewusst und tatkräftig zu gestalten. Bleibt das aus, wird der Tod im Nachhinein doch wieder sinnlos.

23.10.2007

Harm van der Meulen

Zaterdag 20 oktober, op de avond voor zijn verjaardag, is mijn vader Harm van der Meulen gestorven. Zondag was ik erbij toen hij werd opgebaard. Zijn gelaatsuitdrukking was afgewend en ingekeerd. Hij had zijn ogen en zijn mond nadrukkelijk gesloten. Ik heb mijn vader altijd begrepen als iemand die zijn leven opvatte als een strijd in opdracht van God. Zijn werk in de vakbond en in de politiek was een strijd die fair maar vastbesloten moest worden gestreden. Maar hij was niet alleen een soldaat van God. Hij was ook een geliefde. Achter zijn gesloten ogen en zijn voor altijd zwijgende mond betreedt hij nu vastbesloten een binnenruimte, waar hij zich kan verenigen met de vrouw, mijn moeder, die hij innig liefhad.

Am Samstag, 20. Oktober, dem Abend vor seinem Geburtstag, ist mein Vater Harm van der Meulen gestorben. Am Sonntag war ich dabei, als er aufgebahrt wurde. Sein Gesichtsausdruck war abgewendet und eingekehrt. Er hatte seine Augen und seinen Mund entschieden geschlossen. Ich habe meinen Vater immer verstanden als ein Mensch, der das Leben genommen hat als ein Kampf im Auftrag Gottes. Seine Arbeit in der Gewerkschaft und in der Politik war ein Kampf, der fair aber entschieden geführt werden sollte. Er war aber nicht nur ein Soldat Gottes. Er war auch ein Geliebter. Hinter seinen geschlossenen Augen und seinem für immer schweigenden Mund betritt er jetzt entschieden einen Innenraum, wo er sich mit der Frau, meiner Mutter, die er innig liebte, vereinigen kann.

17.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (3)

In meinem Austausch mit meinem alten Freund Rob Rijksen geht es unter anderem um die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich hier ein paar Sätze, die er mir geschrieben hat. Er schreibt: „Was bedeutete es damals konkret für uns beide, dass du mich einerseits zu dir heran gezogen hast und mich andererseits nicht in deinem Leben zugelassen hast, wenn ich dir zu nahe kam? Du konntest dann ziemlich wütend werden“. Und: „Nimm zum Beispiel die vielen Demonstrationen, (woran ich damals als Organisator beteiligt war, JvdM), von denen du mir nicht alles erzähltest“. Und: „Du bist damals von dem Einen zu dem Anderen geflogen, und ich musste immer irgendwie hinterherlaufen.“

Was mich an diesen Sätzen vor allem berührt, ist die Tatsache, dass ich offensichtlich „wütend“ wurde, als Rob mir zu nahe kam. Diesen „wütenden“ Jelle gibt es in meinen Erinnerungen überhaupt nicht; ich erinnere mich an keine einzige Situation, wo ich Rob gegenüber verärgert oder wütend war. Trotzdem glaube ich, dass Rob recht hat. Ich habe nämlich in meinem späteren Leben feststellen müssen, dass es diesen wütenden Jelle wohl gab und gibt. Ich habe ihn aber nicht selber wahrgenommen, auch nicht in den Momenten, in denen er offensichtlich da war. Ich habe immer gehandelt, als wenn es ihn nicht gab.

Ich war schon etwa vierzig Jahre alt, als ich sehen und annehmen konnte, dass es diesen „wütenden“ Jelle gab. Noch immer aber ist es so, dass ich nicht gerne von dieser Gestalt höre, vor allem nicht, wenn meine Kinder davon erzählen. Erst vor ein paar Wochen hat einer meiner Kinder mir davon erzählt, wie ich als Vater damals in Konflikten zwischen meinen Kindern oftmals mit Wut eingegriffen habe. „Deine Wut hat dazu geführt, dass wir unsere Konflikte oft nicht ausleben und klären konnten“. Als mein Sohn mir das so sagte, hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu verteidigen.

In seinem Essay „Über die Freundschaft[1] spricht Jacques Derrida von „der Bruder, der mich begleitet“. Dieser Bruder „erweist sich als mein Feind“. Derrida: „In nächster Nähe muß er auf mich gewartet haben, in der Vertrautheit meiner eigenen Familie, bei mir zu Hause, im Herzen der Ähnlichkeit und der Affinität, unter meinen Angehörigen, im Innern der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit, der oikeiotes, die doch einzig den Freund willkommen heißen und ihm Unterkunft gewähren sollte“.

Aus nächster Nähe kommen also die schlechten-Nachrichten-über-uns, die wir als eine Bedrohung, eine lieblose Zurechtweisung, eine unbegreifliche und schreckliche „Wahrheit“ erleben. Gerade unsere Kinder, Geliebten und Freunde können uns am tiefsten mit „Wahrheiten“ verletzen, weil wir diese „Wahrheiten“ nicht sehen wollen und können (an dieser Stelle scheinen nicht-Wollen und nicht-Können fast identisch zu sein) und nichtsdestotrotz sehen müssen, weil mein Kind, meine Geliebte und meine Freunde mich lieben und ich sie liebe. Nicht hören wollen & können, heißt doch die Liebe nicht leben wollen & können.

Wie verstehe ich diesen „wütenden“ Jelle? Laut Rob Rijksen taucht er auf, wenn er mir „zu nahe“ kommt. Wohin genau kam er zu nahe? Oder anders gesagt: Was in mir wollte da nicht gesehen, angesprochen, berührt werden? Im Nachhinein – ja, leider erst im Nachhinein, das heißt, so viele Jahre später – kann ich diese Frage beantworten. Ich hatte damals eine vage und unreife Vorstellung davon, was Freiheit heißt und habe diese Vorstellung ängstlich geliebt und gelebt. Freiheit bedeutete damals für mich, dass ich tun konnte, was ich tun wollte – und gerade das durfte nicht in Frage gestellt werden. Dass meine Vorstellung von Freiheit unzulänglich war, konnte ich nicht denken und fühlen und wollen.

Heute fühlt es sich fast so an, als ob der Jelle von damals kaum etwas zu tun hat mit dem Jelle von heute. Wie damals der wütende Jelle von mir – ich würde sagen: von meinem Selbst – gespalten war und wie eine eigenständige „Gestalt“ unbemerkt von mir auftrat, erscheint heute der „damalige“ Jelle als getrennt von dem aktuellen Jelle. Etwas in mir sagt relativierend: damals war ich (leider) so, heute bin ich (aber) so – damals war ich jung und unreif, heute bin ich älter und erfahrener. Eine verdoppelte Trennung ist also im Spiel: eine damalige und eine aktuelle.

Die aktuelle und relativierende Trennung führt dazu, dass die Betroffenheit über die Worte meines Freundes (Derrida: „In nächster Nähe muss er auf mich gewartet haben.“) ihre volle verwandelnde Wirkung nicht hat. Die Betroffenheit droht abgelenkt zu werden durch ein relativierendes quasi-Verstehen, ein Verstehen-ohne-Fühlen-und-Wollen, das im Grunde genommen genau so unzulänglich ist. Eine Frage bleibt in der Domäne des relativierenden Verstehens zugedeckt, nämlich diese: Was hat der damalige Jelle mit dem aktuellen Jelle zu tun?

Ich glaube, sagen zu können, dass meine aktuelle Betroffenheit mit drei Tatsachen zu tun hat. Die erste ist, dass ich mich überhaupt nicht an den wütenden Jelle erinnere. Die zweite ist, dass auch nach dreißig Jahren die Freundschaft noch lebt. Die dritte ist, dass ich damals Rob verletzt habe. (Fast hätte ich relativierend geschrieben: dass ich damals Rob verletzt habe, ohne es zu wissen – als ob das weniger schlimm wäre.) Die Betroffenheit erzeugt in mir zwei Bedürfnisse: den damaligen und den heutigen Jelle zusammenzubringen und Rob um Verzeihung zu bitten.

[1] Jacques Derrida, Michel de Montaigne, Über die Freunschaft, Suhrkamp Verlag, 2000

12.10.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Bochum, den 6.10.2007. Wir sitzen mit etwa zehn Leuten in einem Halbkreis und schauen auf eine Frau, die vor einer Wand steht. Hinter der Frau gibt es ein langes Regal mit vielen Büchern. Ich erlaube mir, der Frau für heute einen anderen Namen zu geben. Ich nenne sie Myriam. Wir dürfen auf Myriam schauen, und zwar unverschämt – wir dürfen es, weil sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat den Mut, sich als „Wahrnehmungs-Objekt“ für unsere Augen vor uns hinzustellen. Heute wollen wir nämlich eine Antwort finden auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Wir schauen und schauen und schauen auf ihre Gestalt und versuchen in Worte zu fassen, was wir sehen. Und wir merken, wie viel wir eigentlich sehen, gleichzeitig aber auch, wie ungeübt wir sind, dafür die richtigen Worte zu finden. Wir merken, dass wir unsere Gedanken sofort in Sprache umsetzen können, unsere Wahrnehmungen aber scheinen über die Worte hinaus wegschweben zu wollen. Um Wahrnehmungen zu beschreiben, muss man richtig tätig werden und aktiv zugreifen. (Genau, man muss ein bisschen wie Marcel Proust oder Ernest Hemingway oder Saul Bellow oder Walter Benjamin werden.)

Aber bevor wir mit dem Schauen begonnen haben, habe ich von Walter Benjamin und seiner “mimetischen Theorie der Sprache“ erzählt. Benjamin meinte, dass die Wahrheit „ihr Haus in der Sprache hat“. Ohne Sprache keine Wahrheit. Dass ein Jude wie Walter Benjamin die Domäne der Wahrheit in der Sprache sucht, darf nicht verwunderlich sein. Laut Genesis hat ja überhaupt alles mit der Sprache angefangen: „Gott sprach: und es wurde Licht“. In seiner Theorie unterscheidet Benjamin vier Sprach-Arten: die göttliche, die adamitische, die urteilende und zuletzt die stumme Sprache. Die erste Art ist schöpferisch, die zweite gibt den Dingen einen ihrem Wesen entsprechenden Namen, die dritte ist unsere Alltags-Sprache (wir urteilen ja leider ständig!) und die vierte Sprache besagt, dass ja alles und alles und alles „sich mitteilt“ – Pflanzen, Landschaften, Tiere, Kunstwerke und auch menschliche Gestalten.

Wovon spricht aber die stumme menschliche Gestalt? Wir sitzen also auf unseren Stühlen in Bochum und schauen und schauen und schauen. Gott-sei-Dank gibt es Alexander Schaumann (er heißt nicht umsonnst Schauman), der ganz rechts auf seinem Stuhl sitzt, und ständig unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere lenkt. Er ist unser Virgil. So fragt er beispielsweise: „Wenn wir auf die Aufrichte-Kraft schauen, wo genau ist sie zu sehen?“

Und wir schauen und merken, dass die Aufrichte-Kraft in dieser Frau zumindest zwei unverkennbare Quellen hat: in den Füßen, aber vor allem irgendwo zwischen Brustbereich und Kopfbereich. Es ist, als ob in ihrer Gestalt gerade dort ein Sprung sichtbar wird, andauernd eine aufrichtende nicht-physische Bewegung vollzogen wird, die dazu führt, dass ihr Antlitz frei im Raum erstrahlt. Und wenn wir noch genauer schauen, sehen wir, dass diese andauernde Bewegung – es ist erst ein Zurücknehmen und dann ein nach oben und vorne wieder Freigeben – den Eindruck erzeugt, als ob es hinter ihrem Kopf eine unsichtbare leuchtende Muschel gibt, die sich leise nach vorne beugt und unsere „Anwesenheit“ zurückstrahlt. In dieser unsichtbaren Muschel fühlen wir uns wahrgenommen und bestätigt.

(Ja, ich räume ein, dass diese Sätze schon ein bisschen komisch klingen. Eben, Proust würde seinen Kopf schütteln.)

Und wir denken: ist das bei allen Menschen so? Und wir stellen sofort fest, dass es nicht bei allen Menschen so ist, es ist nur bei dieser Person so. Bei allen Menschen ist es so, dass es eine Aufrichte-Kraft gibt, die uns nicht nur auf die Beine stellt, sondern auch eine wache Perspektive in der Welt verleiht. (Nun ja, gibt es Mensch und Welt? Oder gehen die auseinander hervor?) Höchst individuell scheint aber die Art und Weise zu sein, wie sie in unserer Gestalt wirkt.

Dann schlägt Alexander Schaumann (er ist Maler) vor, dass wir gemeinsam ein Bild malen. Er meint, dass wir unsere Wahrnehmungen dialogisch auf dem Papier zusammentragen können, um zu schauen, ob da etwas Gemeinsames entsteht. Alexander Schaumann breitet ein Stück Papier von drei mal anderthalb Meter auf dem Boden aus und gibt uns lange Pinsel, Wasser und die drei Farben rot, gelb und blau.

„Bitte“, sagt er dann.

Über dasjenige, was in den nächsten anderthalb Stunden geschieht, wäre ein Roman zu schreiben. Wir alle sind an dem Malen beteiligt. Auf dem Papier entsteht eine „Aura“. Die Füße, Beine, Bauch, Arme und Hände, Brustbereich, Schultern und Kopf sind zwar noch klar zu erkennen, aber eingebettet in ein bewegliches und dynamisches Spiel von Farben. Ein Kunstwerk ist es nicht gerade, oder gerade doch? Uns beschäftigt sehr intensiv was da entsteht, wir sind sozusagen jede Minute richtig „dabei“. Wir „untersuchen“ unsere Wahrnehmungen, versuchen zu verstehen, wenn jemand beispielsweise sagt: „Da im Bauchbereich müsste mehr rot hinzugemalt werden, wegen der Wärme die es dort gibt“.

Was hat das so entstandene Bild mit Myriam zu tun? Auch im Nachhinein fasziniert mich unsere „Entdeckung“ der Muschel – obwohl da rein physisch nichts zu sehen ist, meine ich wirklich eine Muschel „gesehen“ zu haben. Vor allem kann ich mein Empfinden, dass ich mich in dieser Muschel wie zurückgestrahlt und bestätigt erlebe, nicht zur Seite schieben. Und weil ich Myriam schon vorher kannte, kommt noch ein Empfinden dazu: Ich habe das Gefühl, dass ich ihre „Muschel“ schon vorher gespürt hatte. Die Übung scheint also etwas ins Bewusstsein zu heben, was vorher schon unbewusst vorhanden war und erlebt wurde.

(Am 27. Oktober geht es weiter. Wir werden dann nicht malen, sondern „dichten“. Alle sind herzlich willkommen. Jede Veranstaltung steht für sich. Info: www.firmafueranthroposophie.de)
Mit dank an Birgitt Kähler

04.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (2)

„Rob und ich sind damals ´aus einander hervorgegangen`. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.“ Diese Sätze habe ich letzte Woche in meinem Blog über meinen alten Freund Rob Rijksen geschrieben.

Es ging mir dabei um die Formulierung „aus einander hervorgehen“. Ich lebe schon eine Weile mit dieser treffenden Formulierung, die ich in einem Buch von Professorin Ursula Stenger (Kunstakademie Düsseldorf) gefunden habe. Sie schreibt in ihrem Buch über schöpferische Prozesse: „Mensch und Welt gibt es nicht, sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor. In einem wechselseitig sich steigernden Prozess entsteht neues; es entsteht mehr und anderes als in den Ausgangsbedingungen ersichtlich sein konnte“.[1] Für das Thema Freundschaft scheinen mir diese Sätze brennend relevant zu sein.

Aber bevor ich zu dieser wunderbaren Formulierung etwas sage, erst etwas anderes. Mein Freund Rob Rijksen und ich sind mittlerweile in einen Austausch geraten über die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Vielleicht berichte ich in einem nächsten Blog davon. Für heute genügt es zu sagen, dass offensichtlich die freundschaftliche Beziehung noch immer existiert, und in gewissem Sinne all die dreißig Jahre existiert hat. Auch in der radikalen Zweiheit-bis-zum-Vergessen bleibt die Verbindung bestehen.

Was kann Ursula Stenger mit ihrer Formulierung meinen? Sie schreibt: „Mensch und Welt gibt es nicht“, und dann direkt anschließend: „Sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor“. Mir scheinen diese Sätze die Drehscheibe ihres Buches zu bilden, oder anders gesagt, das „Urphänomen“ ihres Buches zu beschreiben. Sie greift dabei in ihrem Buch auf Nietzsche zurück und zitiert ihn: „(...) endlich erscheint uns der Horizont wieder frei (...), endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jeder Gefahr hin auslaufen, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, (...)“[2]. Es sind also nicht die Götter, die Mensch und Welt bestimmen, es sind Mensch und Welt die einander – das heißt: auch die Götter – bestimmen. Mit Nietzsche wird die „Bestimmtheit“ der Vergangenheit abgehakt.

Erst einmal müssen wir feststellen, dass die beiden Sätze von Ursula Stenger ein paar richtig „große“ Worte/Begriffe beinhalten, nämlich Mensch, Welt und Prozess. Zwischen diesen drei Begriffen „spielt“ der vierte – und neue – Begriff „aus-einander-hervorgehen“. Der neue Begriff bewegt sich in ihren Sätzen auf einem Flussbett (Prozessgeschehen) zwischen zwei Felsen (Mensch und Welt – Stenger meint „Ich“ und Welt). Der Begriff Prozess ist zu verstehen als „etwas“ zwischen Mensch und Welt; dieses „Etwas“ steigert sich dann in der Formulierung: „aus-einander-hervorgehen“.

Erst die „Felsen“ Mensch und Welt. Laut Stenger gibt es die nicht. Allein das Paradox in dem Gefüge der Begriffe (es gibt die Felsen nicht, gehen trotzdem „aus-einander-hervor“) macht deutlich, dass Stenger hier versucht, das offensichtlich Unsagbare sagbar zu machen. Sie meint nicht, dass es nichts gibt. Sie meint auch nicht, dass es den Menschen nicht gibt; und auch nicht, dass es die Welt nicht gibt. Sie meint offensichtlich: wenn es um die Konstitution von Mensch und Welt geht, soll man nicht einseitig von dem Menschen und auch nicht einseitig von der Welt ausgehen. Sie versucht also die klassische Kluft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ zu überwinden.

Und das gelingt Stenger nur dadurch, indem sie in ihrer Formulierung ein Paradox zulässt. Das Paradox lässt sich mit einer Frage verdeutlichen: Wie können zwei Sachen, die es nicht gibt, aus einander hervorgehen? Rein gedanklich ist das nicht möglich. Es muss in Stengers Denken also etwas geben, was begrifflich über Mensch und Welt hinausgeht, aber nicht in Worte gefasst wird. (Mit Martin Heidegger hätte Ursula Stenger an dieser Stelle vielleicht von „Eigentlichkeit“ sprechen können. Sie macht das aber nicht, weil sie mit dem Philosoph Heinrich Rombach meint, dass die „Eigentlichkeit“ im Sinne von Heidegger nur ein Horizont von vielen ist).

Um an dieser Stelle weiter zu denken, muss ein Sprung gemacht werden. Anders gesagt: Man muss auf eine „andere“ Ebene zugehen und ein Bedeutungsfeld oder Horizont erörtern, was in dem Paradox eingeschlossen bleibt. Klassisch gibt es unterschiedliche Namen für dieses Bedeutungsfeld: die Metaphysik, die Spiritualität oder eben die Esoterik. Auf dieser anderen Ebene macht man sich zum Beispiel über Mensch und Welt Gedanken, die nicht an physische oder auch phänomenologische – so wie Stenger offensichtlich die Phänomenologie versteht – Erscheinungen festgemacht werden können. Diesen Sprung will Ursula Stenger aber nicht machen, weil sie mit Nietzsche die „Götter“ abgehakt hat.

Und so beinhaltet ihr wunderbarer Satz noch ein zweites Paradox. Ihr (wissenschaftliches) Denken führt zu einer Stelle, die um einen Sprung fragt, der aber aus bestimmten (wissenschaftlichen?) Gründen nicht gemacht werden darf. Ihr Satz wirkt also wie eine geschlossene Tür, die aber gleichzeitig klar macht, dass es dahinter einen Raum gibt. So ist es ja eben mit Türen: sie machen uns aufmerksam auf geschlossene Räumlichkeiten. Es würde mich interessieren, von Ursula Stenger zu erfahren, ob sie sich für sich selber über diesen geschlossenen Raum Gedanken macht. Und welche Gedanken sind es dann? Oder meint sie, dass es den Raum hinter der Tür nicht gibt? Wenn das der Fall wäre, müsste sie erklären, was eigentlich ein Paradox ausmacht.

In Freundschaften gehen die Freunde aus einander hervor. Trotzdem gibt es Rob und trotzdem gibt es Jelle. Allein schon die einfache Tatsache, dass Robs Körper und mein Körper von Anfang an getrennte Sachen waren und auch immer immer bleiben, besagt, dass Rob im Sinne von Emmanuel Lévinas für mich ein „Du“ ist, ein „Gegenüber“, ein „Anderer“. An dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Subjekt und Ich (oder Selbst) hilfreich – seht dazu meine Blogs vom 15.08 und 20.8. Mir scheint es so zu sein: Von Subjekten kann man sagen, dass es sie anfänglich nicht gab, von Ichen, dass es sie gibt. Ohne Iche gibt es keine Subjekte.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

[1] Ursula Stenger, Schöpferische Prozesse. Phänomenologisch-anthropologische Analyse zur Konstitution von Ich und Welt, Juventa Verlag, 2002. Seite 19
[2] ebd., Seite 57

28.09.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (1)

Seit ein paar Monaten habe ich wieder Kontakt mit einem Freund, den ich völlig aus den Augen verloren hatte. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns nur einmal in Amsterdam getroffen – das war vor etwa zehn Jahren. Irgendwie hatten wir einander nach so vielen Jahren viel zu sagen, aber irgendwie auch wieder nicht. In mir gab bei diesem Wiedersehen in Amsterdam eine Kluft zwischen meinen Gefühlen und dem, was ich wollte. Die Gefühle waren warm, intim und vertraut, mein Wollen ging aber in eine andere Richtung – es war als ob mein alter Freund irgendwie nicht zu den Spuren passte, denen ich in meinem Leben nachgehen wollte. Jetzt, zehn Jahre später, sieht es in mir in Bezug auf meinen Freund ganz anders aus.

Vor dreißig Jahren waren wir richtig „befreundet“. Wir haben damals Musik gemacht, Songs und Gedichte geschrieben, über tausend Themen gesprochen, ja eben elektrische Gitarren gebaut. Wir hatten richtig etwas vor. Aus meiner Sicht würde ich sagen: Wir wollten die Welt erobern. Mein Freund war ein begnadeter Maler und Musiker – er konnte die Gitarre spielen wie ein Gott und auch noch richtig singen dazu. Ich war eher auf Wörter und Sprache orientiert: Dichtung, Philosophie und Journalismus. Ein Ding war irgendwie aber klar: Die Welt konnte mitkriegen, dass wir existierten!

Dann sind wir aber nach etwa fünf Jahren auseinander gegangen. Er ging seinen Weg und ich meinen. Der Grund? Ich weiß ihn immer noch nicht so genau. Es hatte aber schon damit zu tun, dass ich ein Wort-Mensch und er ein Klang-Mensch war. Ich habe jetzt aber das starke Bedürfnis, das damalige Auseinandergehen zu klären und zu verstehen. Es scheint so zu sein, dass unsere beiden „Sonderwege“ mir im Nachhinein etwas Wichtiges zu sagen haben – als ob wir in der Tiefe verschränkt sind, gerade aber in dieser „Verschränktheit“ eine Zweiheit erleben müssen, eine radikale Zweiheit bis zum Vergessen.

Vor zwei Monaten entdeckte ich im Internet eine Website von einer Rockband aus Culemborgh. Die Band nennt sich „Orange Red“ und einer der Bandmitglieder heißt Rob Rijksen. Ein Photo machte mir sofort deutlich, dass es dabei tatsächlich um meinen alten Freund Rob Rijksen ging. Auf dem Photo ist er zu sehen mit einer großen Bassgitarre und er schaut dunkel um sich herum, wie er das immer machte: Er schaute auf die Welt aus einer tiefen Dunkelheit heraus. Klar ist, dass er mit der Bassgitarre etwas bewegen möchte. Nur verlegen oder nur halbwegs die dicken Saiten berühren, kann die Sache nicht sein.

Ich war froh, als ich ihn da so sah. Rob war noch da! Und er machte noch immer Musik! Meine Freude war irgendwie uralt und auch funkelneu. Seitdem mache ich mir Gedanken über die Kraft der Freundschaft, weil mir meine Freude klar sagte: sie war noch immer da. Ich würde es jetzt, vielleicht ein bisschen abstrakt, so sagen: Rob und ich sind damals „aus einander hervorgegangen“. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.

Dass ich nach dreißig Jahren das Gefühl habe, es gibt etwas zu klären, ist nicht verwunderlich. Wie ist sein Sonderweg zu verstehen, wissend, dass es eine gegenseitige „Verschränkung“ gibt? Und wie ist mein Sonderweg zu verstehen? Und natürlich das Wichtigste: Was haben wir beide in unserem Leben aus der Verschränkung gemacht? Und was wollen wir weiterhin noch machen?

23.09.2007

Der Kölner Dom hat einen Ausweg gefunden

Immer wenn ich durch die Tür des Kölner Doms gehe, habe ich das Gefühl, dass ich mein Haupt neigen soll. Der Eingangsbereich ist so gestaltet, dass ich für einen Moment vergesse, dass das Gebäude weit weit weit über mich hinausragt. Ich fühle mich in die Enge getrieben, als ob mir erst klar gemacht werden soll, dass ich ganz ganz ganz klein bin. Auch heute sitzt neben der Tür ein Bettler. Und unwillkürlich kommt in mir die alte alte alte Frage wieder hoch: Bin ich in geistigen Angelegenheiten nicht eigentlich ein Bettler?

Wenn ich dann weiter hineingehe und im „Vorhof“ stehe, komme ich mir wieder „normal“ vor. Ich bin ja ein Besucher, wie Hunderte andere Besucher auch. Das Einzige was mich noch davon zurückhält, einfach zügig weiterzugehen, ist die Dunkelheit. Der Vorhof erlaubt mir zwar mein Haupt wieder zu heben, umschließt mich aber mit einem Halbdunkel, das eine gewisse Vorsicht erzeugt. Richtig losgehen, geht noch nicht. Das Halbdunkel ist irgendwie genau passend: Ich sehe schon den Flur, auf dem ich gehen kann – dass er aber aus festen quadratischen Fliesen besteht, bleibt verborgen. Der Vorhof macht also ein klares Statement: Um hier zu gehen braucht man Vertrauen.

Nach zehn Schritten öffnet sich auf einmal die Kathedrale in ihrer gewaltigen Größe. Weit über mich hinaus bilden die riesigen Säulen, Wände und Gewölbe einen Innenraum – wie eine statische Explosion. Ich fühle mich wie verdoppelt: Hier bin ich ganz unten, aber ich bin genauso da oben. Wenn ich mein Haupt in meinen Nacken lege und empor schaue, scheint es mir, als ob ich mir von da oben entgegenkomme. In der Vertikalität scheint es eine Illusion zu sein, dass ich hier unten stehe und nach oben schaue. Die Welt dreht sich um und ich schaue auf mich von oben nach unten. Und der Gedanke, dass ich ein Besucher bin, wie Hunderte andere Besucher auch, verschwindet. Nein, gerade ich bin gemeint. Ich bin DER Besucher. Und ich soll in meinem Leben etwas mit der Tatsache machen, dass ich DER Besucher bin.

Dann schaue ich horizontal in die Ferne. Ganz weit weit weit weg an der anderen Seite der Kathedrale, sehe ich einen glänzenden Punkt aus Gold. Es ist mir schon lange bekannt, dass es sich dabei um den goldenen Schrein handelt, indem die Gebeine der drei Könige (eigentlich Magier) aufbewahrt werden. Der goldene Schrein macht den „historischen Inhalt“ des Doms aus; ohne diesen abgeschlossenen Schrein gäbe es keinen Innenraum. Und sofort möchte ich dahin, um nochmals nochmals nochmals das Gold zu sehen und mir innerlich die Gebeine vorzustellen. (So ist das: Der Inhalt des strahlenden Schreins ist tot tot tot.)

In der Mitte der Kathedrale angekommen, schaue ich nach rechts zu dem großen Südportal. Ich blicke auf und sehe das neue schillernde Glasfenster, mehr als hundert Quadratmeter groß. Ich habe in den letzten Wochen viel in den Kölner Zeitungen über das Glasfenster gelesen. Und ich bin mit den meisten Kölnern einverstanden: Das neue Fenster ist großartig. Und ich bin mit meinem Freund Sebastian Gronbach einverstanden, dass der Dom mit dem neuen Fenster „im 21. Jahrhundert angekommen“ ist. (Lest bitte Gronbachs Kolumne über das Fenster: www.info3.de/wordpress/?p=119 ).

Was ist im Fenster zu sehen? Ich meine, das neue Fenster bietet einen Ausweg aus dem Innenraum des Doms. Oder anders gesagt: Die Tausenden kleinen farbigen Quadrate holen den großen Außenraum-da-draußen in den Innenraum des Doms rein und zwar ohne mit dem großen Außenraum-da-draußen den Innenraum bestimmen zu wollen. Auf einmal hat der Dom eine Öffnung gefunden, ein nicht-bildliches Bild (in der Kunst spricht man von „abstrakt“), das so intensiv mit dem großen Singen-da-draußen mit singt, so dass es klar und frei im Innenraum hörbar wird.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

15.09.2007

Die Art von Ute Wagner - Zavaglia

Auf ihren Knien liegt ein großes Notizbuch mit vollgeschriebenen Blättern. Und ihre langen Finger liegen auf diesen vollgeschriebenen Blättern – wie zarte Fühler. Man könnte meinen, sie liest mit ihren Fingern wie ein Blinder. So ist es aber nicht. Sie scheint mit dem behutsamen Berühren der Blätter die Vergangenheit wieder tastbar machen zu wollen.
Ute liest mit ihren Augen, aber so, dass ihre Augen genau so aufmerksam auch bei uns sind, den dreißig Zuhörern. Der Vorgang ist präzise. Sie liest still und ruhig ein paar Sätze von den vollgeschriebenen Blättern, hält inne und schaut in sich auf das, was sie gelesen hat, blickt genau so ruhig in die Runde, liest in unseren Gesichtern, spürt nach, was in der andachtsvollen Stille lebt und erzählt dann weiter. Ihre Worte scheinen kleine farbige Herbstblätter zu sein, die von einem leisen Wind getragen werden.
Ute erzählt von Kevin, einem fünfjährigen Jungen, den sie vor einem Jahr kennengelernt hat. Und durch ihre schlichten Worte ist Kevin bald bei uns im Raum. Er ist klein, hat rote Haare und große braune Augen, trägt eine Jacke und Hosen, die zu groß sind. Mit seinen Augen saugt er die Welt auf. Kevin scheint lauter Staunen zu sein und stellt hundert Fragen. Um sich nicht in seinem Staunen zu verlieren, hält er mit einer Hand die Jacke seiner Mutter fest, die hinter ihm steht.
Kevin hat ein Problem. Er ist nämlich „ein Feuerwerk an Energie“. (Nein, diese Worte sind nicht spektakulär gemeint. In Utes Mund klingen sie eher sanft und sachlich.) Kevin ringt mit seiner Begeisterung, die ihn manchmal mitreißen kann. Wenn er das Feuer in sich nicht halten kann, kocht seine Seele über den Rand seines Körpers hinaus. Was er dann macht? Nun ja, was macht man dann? Kevin wird dann auf einmal „hyperaktiv“ und ist nicht mehr zu stoppen. Er will dann eigentlich fliegen, was aber leider nicht geht. Oder er will auf einmal alles anfassen, alles untersuchen, alles wissen, alles prüfen. Er ist dann, wie man so schön sagt, „aus seinem Häuschen“.
„Kevin ist innig mit den Dingen verbunden“, sagt Ute.
Ute erzählt vierzig Minuten lang. Erst über Kevins „Biographie“, die noch ganz kurz ist. In dieser noch ganz kurzen „Biographie“ tauchen aber ein paar ernsthafte Probleme auf. Ute erzählt von den ersten Jahren, von den Eltern und von den Menschen um Kevin herum. Und es scheint, als ob das Leben sich um Kevin herum so einrichten will, dass er keinen Halt findet, keine Stützpunkte geboten bekommt und dass ihm keine Grenzen gegönnt werden. Dasjenige, wovon Kevin in den ersten Jahren seines Lebens getragen werden soll, scheint wackelig und voller Löcher zu sein. Und am Ende erzählt Ute von seiner Geburt. Er schaffte es nicht alleine und ohne ärztliche Hilfe durch die Enge zu gehen. Die Enge war zu eng und seine Begeisterung-zum-Leben zu groß.
Während Ute erzählt, ändert sich langsam und unbemerkt der Raum, worin wir uns befinden. Für unsere Augen bleibt der Raum irgendwie noch immer quadratisch, so wie Räume eben quadratisch sind. Mein Empfinden sagt aber, dass wir längst nicht mehr in einem quadratischen Raum sind. Der Raum ist rund geworden. Und in diesem runden Raum scheint ein zartes und fühlsames Licht, ich würde sagen: ein Herbstlicht, das nicht nur scheint und sichtbar macht, sondern auch leise berührt und bewegt – ich spüre das Licht fast auf meiner Haut. In diesem Licht scheint nichts spektakulär zu sein, alles aber bemerkenswert und liebenswürdig.
Die dreißig Zuhörer sehen einander auf einmal in einem anderen Licht.

(Ute Wagner-Zavaglia ist Mitarbeiterin des Janusz Korczak Institut in Nürtingen. Der Name von „Kevin“ ist geändert. Mit dank an Birgitt Kähler.)

29.08.2007

Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich

Die Bar heißt (übersetzt auf Deutsch) „Süße Geschwindigkeit“. Der Inhaber ist süß und nicht geschwind. Das braucht er auch nicht zu sein. Er hat nur einen Kunden – ein Mann aus dem ungarischen Dorf Hidasnemeti, direkt an der slowakischen Grenze. Der Kunde trinkt Bier und schaut vor sich hin. Als meine drei Freunde und ich reinstolpern, blickt er kurz auf uns und stellt sofort fest, dass die drei aus der Slowakei kommen und der vierte unterwegs ist nach Budapest. So ist das: In Hidasnemeti gibt es ein paar Leute aus Hidasnemeti und ein paar Leute, die unterwegs sind nach Budapest oder der Slowakei.
Es ist richtig heiß. Am Bahnhof, der Bar gegenüber, wartet schon der Bummelzug. Der Zug ist leer, der Bahnhof ist leer und der Bahnhofsplatz ist leer. Der Zug und wir müssen planmäßig noch eine volle Stunde auf einander warten. Ich werde dann einsteigen, der Zug wird abbummeln und meine Freunde werden zurück in die Slowakei fahren. In der Zwischenzeit wird in der Bar das Eine und das Andere getrunken. So ist die Ordnung der Dinge in Hidasnemeti am Freitagmittag um Viertel vor zwei.
Rudolf kriegt ein Bier und einen Schnaps, Branislav nur ein Bier, Boris ein Wasser und ich einen Kaffee. Rudolf ist der Vater, Branislav und Boris sind die zwei Söhne und ich bin der Freund. Ich habe mich vor einer Stunde in Košice von Marianka verabschiedet, der Mutter von Boris und Branislav und der Ehefrau von Rudolf. In absehbarer Zeit wird sie sterben, weil sie Krebs hat. Das Ende kann morgen sein oder in vier Monaten. So ist es oft mit Krebs.
Eigentlich ist alles schon gesagt. Als ich vor einer Stunde Marianka umarmte, wussten wir beide, dass ich das nächste Mal in Košice sein werde zu ihrer Beerdigung. Sie wird dann tot sein. Als sie sich von mir loslöste und sich umdrehte, wusste ich nicht, ob ich eine schwerkranke Frau von 62 Jahren oder ein Mädchen von 14 sah. Sie war todmüde und strahlte trotzdem ein helles Licht aus. Ihr farbiges Kleid verhüllte, dass es darunter fast nur noch Knochen gab.
Wenn alles, was gesagt werden kann, schon gesagt worden ist, und das Viele, was nicht gesagt werden kann, merkbar im Raum schwebt, entsteht eine schwere Stille. Und was klein ist, wird groß. Als ich den Inhaber der Bar um einen zweiten Espresso bitte, habe ich das Gefühl, fast gewalttätig Geschichte zu machen.

*

Der Zug fährt über Miskolc nach Budapest. Die ersten anderthalb Stunden berührt der Zug den Zaun der ungarischen Puszta. Aber der Zaun der Pustzta ist schon voll Pustzta.. Die Hitze hängt schwül über dem endlosen Gelände. Puszta im Spätsommer heißt warm und breit. Die Luft ist nebelig; die zahllosen kleinen Kirchen schlafen; die Wege sind leer; überall gibt es Sonnenblumen, die zwischen sommergelb und herbstbraun schweben und die Köpfe neigen; die wenigen Menschen, die ich sehe, tun nichts. Jedes Mal, wenn der Zug anhält, steigen zwei oder drei Leute ein – langsam, bedachtsam, gelassen.
Der Bummelzug arbeitet sich durch die schwere Stille. Und auf einmal merke ich, dass die Stimmung in mir nahtlos zu der Stimmung der Puszta passt. Was in mehr lebt – Abschied, Traurigkeit, Nachdenklichkeit, Fülle, Wärme – vermischt sich mit den Bäumen am Horizont, den ungarischen Gerüchen und den dunklen Kleidern der alten Frauen. Und wie die Sonnenblumen, schweben meine Gefühle zwischen sommergelb und herbstbraun. Ich neige meinen Kopf und denke an einen wunderbaren Satz von Rainer Maria Rilke:
„Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“
(Mit dank an Birgitt Kähler)

20.08.2007

Das Selbst ist unzerstörbar (2)

In meinem Buch „Herzwerk“ beschreibe ich drei Erfahrungen, die für mein Verständnis mein „Selbst“ betreffen. Es geht um Erfahrungen, die sich alle drei an einer ganz bestimmten Schnittstelle befinden. Nämlich zwischen dem, was man üblicher Weise das Alltags-Ich nennt und dem, was man als höheres Ich bezeichnet. Es sind Erfahrungen, die nicht nur zwei „Instanzen“ voraussetzen, sondern auch eine intime Beziehung zwischen diesen beiden „Instanzen“ verraten. Die erste Instanz nennt man wohl „Selbst“ oder „höheres Ich“ oder „ewige Individualität“; die zweite heißt „Ich“ oder „niederes Ich“ oder „Alltags-Ich“ oder „Subjekt“ oder „Ego“ oder eben ganz süß „mein Ichlein“ (Georg Kühlewind). Die zweite Instanz nennen wir Jelle, Anna, Janis oder Sebastian. Laut Rudolf Steiner gibt es für die erste Instanz einen „Mysteriennamen“, der uns meistens unbekannt ist.

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Die Trennung zwischen beiden Instanzen existiert nur für die zweite Instanz. Interessant ist, dass die Erfahrung vom Ich in der Jugend (Herzwerk, Seite 51) noch zusammenfällt mit der Erfahrung vom Selbst. Wenn ich als Kind „Ich“ sage, oder meinen Namen „Jelle“ in mir ausspreche und dabei die beglückende Empfindung habe, dass ich existiere, gibt es – auch nicht in der Analyse-im-Nachhinein – keine Trennung zwischen Alltag und Ewigkeit. Um zu verstehen, wie diese Trennung sich allmählich vollzieht, ist es hilfreich auf das zu schauen, was Michel Foucault unter „Subjektivierung“ versteht.

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Subjektivierung hat eine doppelte Bedeutung. Positiv heißt es: ein Subjekt bilden; negativ heißt es: unterwerfen (oder unterworfen werden). Laut Foucault ist ein Subjekt immer ein Zwischen-Ding, das einerseits von dem Selbst und andererseits von der natürlichen oder sozialen Umgebung kreiert wird. Ein einfaches Beispiel ist ein Kellner, ein Mensch ist ein Kellner, das heißt, dass er als Kellner „arbeitet“. Der Kellner ist ein Subjekt, weil er sich selber in seiner Tätigkeit versteht und auch von anderen verstanden wird. Als Subjekt hat man ein klares Verhältnis zu seiner Umgebung, also als Kellner, als Schriftsteller, als Vater, als Sklave, als Mann oder Frau, als Kind, als Penner.

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Es gibt Subjekte, die „unterworfen“ sind. Ein Kellner zum Beispiel, der seine Arbeit nicht mag, ist – aus welchem Grund auch immer – unterworfen. Das Subjekt wirkt wie ein Gefängnis. Es gibt aber auch Kellner, die strahlen, das heißt, dass sie vom Selbst aus das Subjekt „Kellner“ füllen, bewegen, gestalten, oder mit einem Begriff von Foucault „stilisieren“. Sie haben die inner-persönlichen-Machtverhältnisse umgedreht und das Subjekt wird ein Kunstwerk. Laut Foucault ist an dieser Stelle entscheidend, dass die Umdrehung nur möglich ist, wenn ein Selbst ein freies Verhältnis zu sich selber findet. Oder anders gesagt: wenn ich Macht über mich ausübe, kann jemand anderes keine Macht mehr über mich ausüben (und ich höre damit auf, „das System“, oder „meine Vergangenheit“, oder „meine biologischen Eigenschaften“ usw. usw. für schuldig zu erklären.)

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Zwischen Selbst und Subjekt gibt es eine delikate Beziehung, platt gesagt: die beiden brauchen einander. Oder präziser gesagt: die beiden gehen aus einander hervor. Ohne Subjekte kommt meine „ewige Individualität“ nicht vom (geistigen) Fleck und ohne ein Selbst erhalten die Subjekte in Raum und Zeit keine Bedeutung.

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Subjekte existieren nicht ohne Körper. Ohne Körper kann ich kein Lehrer, Bäcker, Sohn oder Zuhörer sein. Was Foucault nicht denken wollte, ist der Gedanke: mit einem Körper kann ein Selbst (noch?) kein Selbst sein. Man kann diesen Gedanken auch phänomenologisch ausdrücken: „Ich“ habe die unmittelbare Empfindung, dass „Ich“ mehr bin als all meine Subjekte zusammen. Mir scheint die Kernfrage in bezug auf die Erfahrung vom Selbst dann diese zu sein: wie ist die unmittelbare Empfindung, dass ich mehr bin als all meine Subjekte zusammen, zu verstehen und zu bewerten? Ist diese Erfahrung ernst zu nehmen?
(Nächste Woche weiter.)

15.08.2007

Das Selbst ist unzerstörbar (1)

Eine entscheidende Erfahrung scheint mir die zu sein, dass man sein „Ich“ oder sein „Selbst“ als unvernichtbar und unzerstörbar erlebt.
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Mit „Ich“ oder „Selbst“ ist hier nicht die Instanz gemeint, die ich gewohnt bin „Jelle“ zu nennen. Dieser „Jelle“ ist zerstörbar: wenn er stirbt, ist damit die einzigartige Konstellation von Körper, Seele und Bewusstsein, die wir „Persönlichkeit“ nennen, aufgehoben. Mit „Ich“ oder „Selbst“ ist hier gemeint, was Rudolf Steiner „die ewige Individualität“ genannt hat, das heißt, eine Instanz, die man als Instanz nur auf der geistigen Ebene unmittelbar erleben kann. (Das man die Wirkungen dieser Instanz auch auf anderen Ebenen erkennen kann, ist eine andere Sache.)
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Bevor ich etwas dazu sage, ob ich die Erfahrung der Unzerstörbarkeit des Selbst kenne oder nicht kenne, müssen ein paar Bemerkungen vorausgeschickt werden. Wenn man vom Selbst spricht, begibt man sich in eine diskursive Landschaft, wo zumindest vier Urteile kräftig herrschen. Aussagen über das Selbst bleiben meines Erachtens wirkungslos, wenn diese Urteile nicht bewusst ins Auge gefasst und mit einbezogen werden. Die vier unterschwelligen – und ganz unterschiedlichen – Urteile führen dazu, dass das Thema oft mit einer falschen Verlegenheit besprochen oder gerade gar nicht besprochen wird. Es ist wegen dieser Urteile not done über die Erfahrung vom Selbst zu sprechen oder zu schreiben.

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Das erste Urteil besagt, dass sprechen oder eben denken über das Selbst in sozialer Hinsicht gefährlich ist. Wenn man sagt, ich habe einen bewussten „Draht“ zu meinem höheren Ich, scheint man implizit auch zu sagen: ich bin besser oder weiter oder geistiger als viele Andere. Auf der sozialen Ebene ist das offensichtlich schwierig zu ertragen oder zu verkraften. Karl Popper würde es so sagen: das metaphysische Gerede von Selbsten und Ichen ist eine Bedrohung für die offene Gesellschaft, weil dadurch die politische Gleichheit in Frage gestellt wird. (Das die Geschichte ihm zumindest halbwegs Recht gibt, braucht hier nicht erörtert zu werden.)

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Das zweite Urteil besagt, dass die Erfahrung vom Selbst eine reine „private“ Angelegenheit ist. Erfahrungen vom Selbst werden oft erlebt als „intim“ oder eben „innig“, genauso wie Sex und Geld. Man meint, es ginge niemand etwas an, ob ich solche Erfahrungen habe oder nicht. Mir scheint allerdings gerade diese Haltung, ein enormes Hindernis zu sein. Das Sprechen von der Erfahrung vom Selbst soll nicht in der privaten Sphäre verborgen bleiben. Zwar soll man taktvoll damit umgehen (wegen dem oben genannten Grund) – die Tatsache ist aber, dass es um Erfahrungen geht, die gerade und grundsätzlich über das Persönliche hinausgehen. Kreise von Menschen mit spirituellen Absichten, die nicht über die Erfahrung vom Selbst sprechen, befinden sich in einem Widerspruch.

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Das dritte Urteil hat mit der Tatsache zu tun, dass vor allem in der wissenschaftlichen Welt das „Selbst“ gar nicht existiert. Der Gedanke, dass es so etwas wie eine „ewige Individualiät“ gäbe, wird als eine metaphysische Annahme verstanden, ein Gedanke also, der nicht im reinen Erfahrungsbereich liegt, sondern im Bereich der Spekulation. Seit die Metaphysik großartig abgehackt worden ist, gilt auch das Selbst im ontologischen Sinne als non-existent. Wenn man also vom Selbst spricht und von der Erfahrung des Selbstes, hat man Einiges zu erklären. So tun als ob man nichts zu erklären hat, kann auf der persönlichen Ebene berechtigt sein – ich darf nämlich denken was ich will. Sobald man sich aber in der Öffentlichkeit diesbezüglich äußert oder verhält, soll man mit dem dritten Urteil rechnen. (Tut man das nicht und handelt man verlogen, kriegt Popper recht.)

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Das vierte Urteil besagt, dass das Selbst gar nichts mit meinem alltäglichen Ich zu tun hat. Populär ist in diesem Zusammenhang das Wort „Ego“, das seit den sechziger Jahren in quasi spiritueller Literatur auftaucht. Dieses Urteit basiert auf einem Dualismus: das Selbst ist gut, das Ego ist schlecht. Das Ego wäre irgendwie auszuschalten, zu umgehen, oder zu knechten. In dieser dualistischen Vorstellung entsteht ein „Subjekt“, das „subjektiviert“ (unterworfen) werden muss. Einerseits ist laut dieses Urteils das Ego eigenlich „gar nichts“, nur eine „Illusion“ oder „Projektion“ – anderseits aber scheint das Ego ein gewaltiges Hindernis zu sein, fast genau so unvernichtbar (weil SEHR egoistisch) wie das Selbst. Mir scheint aber, dass das alltägliche Ich, das Ego also, nur zu verstehen ist als ein bedeutungsvolles Geschöpf vom höheren Ich. Zwischen meinem Alltags-Ich (meiner Persönlichkeit) und meinem Selbst besteht eine delikate und vor allem multi-dimensionale Beziehung, die nicht mit einfachen dualistischen Begriffen zu erfassen ist.

(Nächste Woche weiter.)
Mit Dank an Birgitt Kähler

08.08.2007

Souls in the slums, slums in the souls

Wir fahren mit Freunden durch das Bergische Land, südlich von Wuppertal. Schräg vor mir sitzt Veronica Rondón aus Lima, und ich versuche, einmal durch ihre Augen die Landschaft zu betrachten. Durch die Augen seiner Freunde zu blicken macht Spaß, und es ist außerdem eine der vielen Techniken einer »Kultur des Herzens«. Was bekannt ist, wird zunächst fremd und dann schließlich auf eine neue Art und Weise wieder bekannt. Durch die Augen eines anderen zu sehen bedeutet auch: den anderen ein wenig besser kennenzulernen.
Veronica schaut aus dem Fenster und schweigt. Neben ihr, am Steuer, sitzt Warmolt Lameris, ein Architekt aus den Niederlanden. Auch er schweigt. Rechts von mir auf dem Rücksitz, ebenfalls schweigend, sitzt Vanda Perez Bessone, die in Argentinien aufgewachsen ist und mit siebzehn mit ihren Eltern nach Spanien auswanderte. In der Stille versuche ich durch die Augen Veronicas die Landschaft zu betrachten. Ich weiß, dass sie Schönheit liebt, denn vor kurzem sagte sie: »Ich glaube an die Bedeutung der Schönheit. Es ist, glaube ich, meine eigentliche Mission, Schönheit in die Armenviertel zu bringen.« Ich blicke durch das Fenster und versuche die Schönheit zu finden.
Schön sind das rhythmische Ansteigen und Absinken der Berge, die Art, wie sich die Straßen glatt und elegant durch die Täler schlängeln, wie sich der Waldsaum kurvig an den offenen Räumen der Weiden entlangzieht, die Wolken darüber weiß im Sonnenlicht erglänzen, mit dem Blau dazwischen, die grauen Dächer alter Scheunen, die das Licht glänzend widerspiegeln … Schön sind manchmal auch die Stellen zwischen den sorgfältig abgetrennten Grundstücken, auf die offenbar niemand wirklich achtet und wo manchmal ein vergessener Pflug im Gras vor sich hinrostet oder ein Baumstamm vermodert … Schön sind die Bäche, die plätschernd durch die Wiesen strömen, um dann dunkel in den scharfen Falten der Täler zu verschwinden …
Menschen scheint es hier nicht zu geben. Die Häuser stehen als getrennte Einheiten in der Landschaft verteilt, gerade noch weit genug voneinander entfernt, um nicht das Missverständnis hervorzurufen, dass sie möglicherweise etwas miteinander zu tun haben könnten. Neben den Häusern stehen glänzende Autos – der Beweis dafür, dass sich die Bewohner manchmal fortbewegen. Die Häuser selbst scheinen nicht an der Welt, die sie umgibt, interessiert zu sein, sie blicken vielmehr nach innen, auf das, was sich im Verborgenen abspielt. Sie sind, so könnte man sagen, behutsam implodierend. Am Ende des Nachmittags sind alle Rollläden geschlossen.
Jeder für sich und Gott gegen alle, denke ich.
Was sieht man hier im Bergischen Land, wenn man die Wirklichkeit von Pampas de San Juan in Lima kennt? Man sieht den perfekten Antipoden. Man sieht eine grüne und bewegliche Landschaft, die eine ständige lebendige Beziehung mit dem Himmel darüber unterhält. Man sieht Bäche und Weiden und Wälder. Man sieht gut unterhaltene Straßen, mit Verkehrsschildern, die einen auf alle möglichen Gefahren hinweisen. Man sieht Häuser, die keinerlei bauliche Mängel zeigen. Kurzum, man sieht eine »vollendete« Welt, die zwar die Natur noch als direkte Umgebung um sich hat, sich von ihr jedoch aus falscher Pietät abgewandt hat. Denn die Natur ist lediglich verwirrend. In dieser Welt hat alles seinen Ort erhalten und nichts Neues ist mehr zu erwarten. Die Menschen haben sich unsichtbar, unriechbar, unnahbar gemacht.
In Pampas ist die Landschaft dürr und trocken, eine Wüste. Grün sieht man dort kaum, Blau ebenfalls nicht. Der Himmel ist den größten Teil des Jahres über grau und geschlossen. Verkehrsschilder, die einen vor Gefahren warnen, gibt es dort nicht. Die tausend klapprigen Busse sind zum Bersten voll und sie bersten vor Leben. Die Gebäude in Pampas stehen Schulter an Schulter, sie unterstützen einander, sprechen miteinander, streiten miteinander. Aus den Fenstern erklingen Rufe, Musik – ja, vor allem Musik – und der Geruch frisch gekochter Kartoffeln (wenn es solche gibt) weht heraus. Auf den Straßen laufen Frauen mit bedeutenden Hüten und Männer ohne Hüte, Kinder, die spielen, singen, weinen und lachen. In Pampas sieht man Menschen, die alles Mögliche tun.
Oder sie tun nichts.
In Pampas ist nichts vollendet. In Pampas bleibt die Zukunft offen. In Pampas wird versucht, wegen des Nichts’ und aus dem Nichts, durch das Nichts hindurch alles zu tun, Schritt für Schritt, mit … nichts. In Pampas herrscht die Sehnsucht nach dem Unbestimmten vor.
Warmolt Lameris durchbricht die Stille, die im Auto herrscht. »Ich sehne mich nach Pampas«, sagt er, »nach dem Staub, den Benzingestank, der Musik.« – »Ja«, sagt Vanda Perez Bessone, »das verstehe ich. Denn dort findet man Seelen in den Slums und hier findet man Slums in den Seelen.«

26.07.2007

"Jetzt" heisst: über die Hände hinaus

(Fragment. Anläßlich eines Vortrags in Tennental)
Sprache ist wie Wasser. Sprache wartet Jahrhunderte lang geduldig in tiefen Erdschichten, liegt Kilometer dick gefroren an den Polen unserer Kultur, springt von der Oberfläche auf, verdampft in der Wärme und steigt auf in Lieder, spiegelt das Licht, lässt das Dunkle durchschimmern, wendet sich in der Werbung leicht nach links und gleich danach leicht nach rechts, spritzt in Fontänen aufwärts, fällt als Regen nach unten, strömt in großen Erzählungen aus in den Ozean. Sprache bewahrt, wartet, erdrosselt, vernichtet, schleift, spiegelt, reinigt, befriedigt, befruchtet, befreit.
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Sprache ist zu Hause in allen Kategorien der Zeit: in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Im Hinleben zum Tode beleuchtet sie düstere Ängste in uns; hingegeben an die anhaltende Geburtlichkeit, macht sie Glaube, Hoffnung und Liebe bemerkbar. In ihrer Grammatik ist Sprache treu und fast unveränderbar, in ihrem Idiom behaltend und kreativ, in ihren Klängen zugleich urig und spielerisch; und in der Semantik umfängt sie die Spannweite zwischen alten Weisheiten und neuen Wahrnehmungen.
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Nimm das Wort „ jetzt“. Für uns bedeutet „jetzt“ so etwas wie: in diesem Moment, dieser Mittwochabend, neunzehn Minuten nach acht… Ich rede „jetzt“ und ihr hört „jetzt“ zu. In unserer modernen Vorstellung schiebt die Zeit „jetzt“ immer weiter: Erst ist „jetzt“ neunzehn Minuten nach acht und kurz darauf ist „jetzt“ zwanzig Minuten nach acht. Der Inhalt vom „jetzt“ besteht aus dem, was die Wirklichkeit um – inzwischen fast – einundzwanzig Minuten nach acht anzubieten hat. Das „jetzt“ von neunzehn Minuten nach acht ist inzwischen kein „jetzt“ mehr, sondern „Vergangenes“. Durch unsere Erinnerung aber können wir das „jetzt“ von neunzehn Minuten nach acht zum Inhalt vom „jetzt“ von einundzwanzig Minuten nach acht machen.
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Jetzt heisst "Nu", auf Deutsch noch in: "im Nu". Etymologisch ist das Wort „Nu“ verwand mit dem Wort „neu “ – im Lateinischen neo, im Englischen new, im Holländischen „nu“. Dieses Wort ist hiernach verwand mit dem Zählwort „neun“ – Latein novem, Englisch nine und Holländisch negen. Irgendwann müssen Menschen die Vorstellung gehabt haben, dass die Zahl neun eine Art von „Sprung“ bedeutete, eine „neue“ Reihe anfing, eine andere Wirklichkeit sich öffnete. Mit der Zahl acht hörte etwas auf und mit der Zahl neun fing etwas Neues an. Das Wort acht heißt im Lateinischen octo, im Englischen eight und bedeutete ursprünglich „die zwei mal vier Fingerspitzen“, womit die Finger der beiden Hände gemeint waren, die Daumen ausgeschlossen. „Acht“ bedeutete so etwas wie: die Überschreitung der Grenze vom Beendeten ins Unvollendete, ein Schritt in eine Wirklichkeit, die die Möglichkeiten des gewordenen Menschen überschreitet.
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Irgendwann müssen die Menschen die „Dinge“ – zum Beispiel die Hände – als Bilder der Wirklichkeit aufgefasst haben. Hände waren nicht nur nützliche physische Instrumente, sondern auch Bedeutungshorizonte, die wie Fenster verstanden wurden, wodurch das Leben „angeschaut“ wurde. Um klar zu machen was ich meine: das Wort „Tumult“ ist ursprünglich verwandt mit „Daumen“ – der kräftige Außenstehende, eben der Finger, der kein Teil der gewordenen zweiteiligen Achtheit ist und deswegen Unruhe verursacht. Das, was Unruhe im Leben verursacht, ist mit dem Bilde des Daumens zu verstehen. Und das, was „neu“ ist im Leben und in dem „jetzt“ erscheint, kann verstanden werden als eine Wirklichkeit, die die Möglichkeiten der beiden Hände übersteigt.
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Hinter dem Wörtchen „jetzt“ schlummert eben ein Bild, nämlich das der Hände. Hinter den Worten, die wir jeden Tag wieder benutzen, liegen Bilder gespeichert, worüber wir uns in der Regel nicht bewusst sind. Je tiefer wir mit dem Spaten der Etymologie graben, umso öfter stoßen wir auf Bilder. Und wie bei der Archäologie: nach sorgfältigem Säubern mit einem Pinsel, bleiben wunderschöne und dichterische Bedeutungen übrig, von denen wir nicht wissen, was damit zu tun ist. Das Wort „Ding“ zum Beispiel bedeutete irgendwann „Zusammenziehung“: etwas war weit und peripher und luftig, zog sich nachträglich zusammen und wurde ein „Ding“. (Auch eine Zusammenkunft von Menschen wurde ein „Ding“ genannt.) Und ein „gebeurtenis“ – noch immer leicht zu sehen – ist etwas, was „geboren“ wird. Das heißt: sichtbar erscheint (verwand mit “eine Gebärde“ machen).
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Bedeutend für diese ursprünglichen (Ur-Sprung) Bilder ist, dass sie einen Prozess ausdrücken: die Bedeutungen sind nicht statisch und einseitig ausgeschnitten, wie Klötze in einer Klotzschachtel; sie lassen sich am Besten mit dem Wort „Mythos“ beschreiben. In jedem Mythos, groß oder klein, werden Herkunft und Zukunft aufeinander bezogen, wobei der Mythos selber als aktuelle Erzählung das „jetzt“ ist. Die Erzählzeit und die erzählte Zeit fallen zusammen in das „jetzt“, das dadurch zu Betroffenheit führt, oder mit Aristoteles: zu Katharsis.
(Mit dank an Birgitt Kähler und Michael Dackweiler)

23.07.2007

Frau mit hohen schwarzen Hut in den Anden

Der Bus stoppt bei einem Gehöft, dessen Name ich nicht mehr weiß. Ich steige aus, fest entschlossen, einen Kaffee zu trinken, wo auch immer, wie auch immer. Ich schaue mich um, auf der Suche nach etwas, das einer Bar ähnlich sieht. Die breite Straße, die eigentlich kaum eine Straße ist, sondern ein Streifen freigehaltenen Landes mit Häusern daneben, ist völlig leer. Kein Mensch ist zu sehen. Das einzige deutliche Zeichen, das ich sehe, ist ein Schild mit dem Wort »téléfonica«. Ich laufe 50 Meter weiter bis zur nächsten Straßenecke und sehe, dass von diesem Punkt aus ein schmaler Pfad auf die Hochebene hinaufführt. Links und rechts des Pfades ziehen sich niedrige Mäuerchen hin, die etwas einschließen, das ich, ohne nachzudenken, als »Gärtchen« bezeichne. Doch in diesen Gärtchen ist nichts zu finden, kein Gemüse, keine Obstbäume, nichts.
Während ich mich vergeblich frage, was das eigentlich ist, was ich da sehe, kommt gemächlich eine alte Frau mit einem hohen schwarzen Hut auf mich zu. Die Art, wie sie läuft, trifft mich. Ich bemerke, dass unwillkürlich das Wort »langsam« in mir aufsteigt, doch eigentlich sollte ich lieber sagen »nicht schnell«, oder noch besser: mit einer Geschwindigkeit, die »richtig« ist. Sie wird, indem sie läuft, nicht von etwas angetrieben, das hinter oder vor ihr liegt, sondern von etwas, das mit dem zusammenfällt, was sie in diesem Moment ist, nämlich eine in sich selbst versunkene Frau. Sie läuft so, wie ein Baum steht. Ihr Hut erinnert aus der Ferne einen Augenblick lang an die Hüte auf manchen Gemälden Rembrandts und macht sie für einen kurzen Moment zu einer Regentin, die sie gar nicht ist, denn sie ist eine Bäuerin.
Erst als sie sich mir bis auf einige Meter genähert hat, blickt sie auf – ich sehe ihre großen braunen Augen – und lässt erkennen, dass ich für sie existiere. Sie nickt. Und ich nicke. Ihr Nicken und meines bilden zusammen ebenfalls ein Nicken, welches die weite Hochebene um uns wie eine Sperrholzplatte zum Brechen bringt. Die Mäuerchen mit den Gärten und die Ebene dahinter sind verschwunden und haben Platz gemacht für die Frau und mich. Ich habe das eigenartige Gefühl, dass ich in ein Geschehen hineingezogen werde, das mir ausgesprochen ungewöhnlich erscheint, ohne dass ich verstehe warum. Denn um was sonst sollte es sich handeln als um zwei Menschen, die einander auf einem Pfad begegnen?
Ich frage sie, ob es hier irgendwo einen Kaffee gibt. Sie schaut mich an und lacht. Und ich denke, dass sie denkt: Aha, ein Gringo auf der Suche nach Kaffee! Sie schüttelt den Kopf und macht eine weit ausladende Geste, die nach meinem Gefühl auf das 50 Kilometer entfernt gelegene Cuzco deutet. Als ich mit gespieltem Unglauben reagiere, deutet sie nach unten, auf das Haus an der Straßenecke, vor dem ich gerade stand. Die offene Tür dieses Hauses ist gerade noch erkennbar. »Ven conmigo«, sagt sie, »komm mit …« In ihrem bedächtigen Tempo gehen wir die Straße hinab, ein verwirrter Gringo, der auf einmal keine Eile mehr hat und überhaupt nicht mehr an Kaffee denkt, und eine alte Frau mit einem hohen Hut.
50 Meter vor der Straßenecke bleibt sie kurz stehen und geht in ein Gärtchen, in dem plötzlich Hühner scharren. Hühner? Ich dachte doch wirklich, dass ich in jeden Garten geschaut hatte, doch Hühner hatte ich nirgends gesehen und auch das Gackern nicht gehört, das jetzt hell und deutlich meine Ohren erreicht. Die Frau schlurft zwischen den Hühnern umher und zählt: uno, dos, tres, cuatro … Während sie so zählt, sehe ich, dass das Rückenteil ihrer Jacke ein paar sorgfältig gestopfte Löcher aufweist. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas sehe, was ich nicht sehen soll, und wende meinen Blick ab. Ein tiefes Gefühl der Scham überfällt mich: Ich hätte die Jacke schon zehnmal weggeworfen … Und später werde ich in mein Notizbuch schreiben: »Das Rückenteil der Jacke der Frau zeigt ein ganzes Leben, das sorgfältig von ihrer Willenskraft zusammengehalten wird.«
Sie dreht sich um, macht wiederum eine ausladende Geste – als ob da mindestens hunderttausend Hühner wären – und sagt: »Todos los pollos están aquí«, alle Hühner sind da. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Tiere und schätze, dass es sich um nicht mehr als zehn Hühner handelt. Als ich sie frage, ob es ihre Hühner sind, sagt sie: »Nein, sie gehören meiner Familie. Die meisten meiner Kinder und Enkelkinder wohnen in Lima.«
Das Haus an der Ecke erweist sich tatsächlich als die örtliche Bar, nach der ich gesucht habe. Von außen ist davon allerdings nichts zu erkennen, jedenfalls nicht für mich. Erst als ich die Schwelle überschreite, sehe ich dort Tische und Stühle. Die Frau steht noch in der Türöffnung, als sie sagt: »Kein Kaffee, vielleicht aber Nescafé.« Und dann, in feierlichem Ton, wie zum Abschied: »Ich hoffe, dass unser Land Ihnen gefällt.« Als ich sie in meiner Verwirrung zu einem Nescafé einlade, schüttelt sie entschieden den Kopf und verschwindet.
Während ich sie fragte, wusste ich bereits, dass diese Einladung unpassend war. Für sie keinen Kaffee, und außerdem: War nicht das Wichtigste bereits ohne Worte gesagt worden?

17.07.2007

Stadt Köln genehmigt Amares in Stadtwald

Köln, den 17.en Juli 2007. Auf einen ehemaligen Betriebshof der Stadt Köln im Stadtwald wird in September ein pädagogisches Projekt starten. Das Projekt beinhaltet einen Naturkindergarten für Kinder ab zwei Jahre, Fortbildungen für Erzieherinnen sowie Kunst- und Naturwerkstätte für Kinder bis in Schulalter. Die Gründerinnen von Amares haben diese Woche die Genehmigung vom Kölner Bauaufsichtsamt bekommen. Das Projekt wird durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Universität Köln.

Hinter Amares stehen zwei Frauen: Pina Gliozzo (Diplom-Pädagogin) und Vanda Perez Bessone (Diplom Biologin, Erzieherin im Annerkennungsjahr). Sie sind bewegt von dem Gedanken, dass Kinder von sich aus die Welt entdecken wollen und mehr Fähigkeiten haben, als viele Erwachsene denken. Das pädagogische Anliegen von Amares fassen sie in drei Sätze zusammen: „Wir wollen für Kindern Räume schaffen, die reich an Bewegungs- und Lernmöglichkeiten sind. Wir möchten Kinder Zeit geben, sich von den Dingen, von anderen Kindern und Situationen berühren und herausforden zu lassen. Und vor allem möchten wir dabei sein, um diese Lernprozesse intensiv zu begleiten.“

Mit dem Projekt im Stadtwald bezieht Amares Stellung in die Debatte über die frühkindliche Bildung. Vanda Perez Bessone: „Kinder brauchen nicht nur Wissen, sondern auch Menschen die mit Freude und Neugierde Anwesend sind. Beziehung ist für uns das wichtigste.“ Amares findet seine pädagogische Inspiration in verschiedenen theoretischen Konzepten. Neben Elementen der Pädagogik Maria Montessoris, Rudolf Steiners und der Reggio Pädagogik aus Italien, finden in Amares die Arbeit von Gerd Schäfer, Professor für frühkindliche Bildung an der Universität Köln und Ursula Stenger, Professorin an der Kunstakademie Düsseldorf, eine besondere Würdigung.

Der Naturkindergarten soll im Herbst Ihre Türen für Kinder ab 2 Jahre öffnen. Die Gründerinnen: „Der ehemalige Betriebshof im Stadtwald ist sehr geeignet für einen Naturkindergarten. Besser kann man es nicht haben.Wir können sowohl von der Waldstimmung als auch von den Vorteilen eines kultivierten Gartens profitieren.“ Die Natur und Kunst-Werkstätten werden durch Vanda Perez Bessone und Pina Gliozzo geleitet. Pina Gliozzo: „In die Werkstätten werden wir nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern einladen ihre Fragen zu stellen und sich damit auseinanderzusetzen. Wir glauben, dass dadurch spontan Situationen entstehen können, die sinnvolle pädagogische Beratung ermöglichen“.

Handwerkern, Künstlern und Musikern werden Amares bei der Entstehung verschiedener Projekte fachlich zur Seite stehen. Die Gründerinnen: „Auch Eltern, Großeltern und allen Bürgern der Stadt Köln können mitmachen. Wir wollen die Stadt in Amares und Amares in die Stadt bringen, weil Erziehung nicht nur eine Sache von Pädagogen ist, sondern das Leben einer ganzen Gemeinschaft betrifft.“

Der ehemalige Betriebshof, direkt beim Tierpark im Stadtwald, soll saniert werden. Die nächste Monaten wird diese Arbeit angegangen. In August wird es auf dem Gelände einen internationalen Workcamp geben, wo Leute aus der ganzen Welt nach Köln kommen, um bei der Renovierung zu helfen. Die drei Gründerinnen von Amares gehen davon aus, dass erst in drei Jahren das ganze Gelände und alle Gebäude fertig gestellt werden können. „Trotzdem können wir schon in September mit einem Naturkindergarten und den Werkstätte anfangen“.

Für weitere Informationen steht zur Verfügung:
Amares.
Vanda Perez Bessone,
Dasselstrasse 33,
50674 Köln
0221/3207124
01632872266
info@amares-koeln.de
http://www.amares-koeln.de/

14.07.2007

Über Armut als Schicksal

Dieses Buch handelt von dem, was als »Massenarmut« bezeichnet wird. Und weil ich diese in den Elendsvierteln Limas kennengelernt habe, handelt es auch von Peru. Der Inhalt beruht auf einer Reihe von Arbeitsbesuchen in San Juan de Miraflores, einem Bezirk von Lima, wo große Armut herrscht. Die Besuche fanden auf Einladung von Aynimundo statt, einer kleinen Organisation, die sich mit »Entwicklungshilfe« in Lima befasst. Ich danke den Mitarbeitern von Aynimundo für die Einladungen und für die Unterstützung, die sie mir zukommen ließen.
In diesem Buch werden Fragen behandelt, auf die ich in Lima gestoßen bin. Die Antworten, die ich fand, stammen hauptsächlich aus den Elendsvierteln selbst. Die Tatsachen des Alltags, die mit der Armut zusammenhängen, sprechen, so meine ich, eine eigene und überzeugende Sprache. Außerdem habe ich mich mit der akademischen Literatur über Armut auseinandergesetzt. Insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften und der Anthropologie habe ich überraschende Gesichtspunkte gefunden.
Armut ist ein konfrontierendes Thema. Man kann mit ihr nicht in Berührung kommen, ohne dadurch verändert zu werden. In diesem Buch versuche ich die konfrontierende Wirklichkeit der Armut erlebbar und verständlich zu machen. Ich hoffe dazu beizutragen, dass die Armut als ein Schicksal anerkannt wird, das alle Menschen angeht, nicht etwa, weil alle Menschen schuld daran seien – denn das ist ein Klischee –, sondern weil jedes Individuum dazu beitragen kann, dass sich etwas daran ändert.
Dieses Buch handelt schließlich auch von der Not Europas. Denn, man mag die Sache drehen und wenden, wie man will, die Armut lässt sich nicht losgelöst denken von dem »Sonderweg« des Kontinents, der einst die großen Entdeckungsreisenden hervorgebracht hat.

08.07.2007

De stem van Gronbach (Niederländisch)

Stemmen klinken nooit overal en steeds, maar altijd ergens en voor een bepaalde tijd. Zij zijn niet uitwisselbaar. De stem van een Amerikaanse blueszanger uit de jaren dertig van de vorige eeuw (laten we zeggen: Blind Willie Mctell) klinkt anders dan die van een liedjeszanger uit het huidige Ruhrgebied (laten we zeggen: Herbert Grönemeyer). Beide zangers wijden zich aan de muziek, beide zangers celebreren timbre, ritme en melodie, beide zangers zingen over liefde, sociale nood en alledaagse lotgevallen - maar de stem van de eerste kan niet worden verwisseld met die van de tweede.

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Stemmen die boven ruimte en tijd proberen uit te stijgen en dus uitwisselbaar willen zijn, klinken niet. Zij zwijgen. Zij zijn onhoorbaar, onverstaanbaar, onbegrijpelijk. Van sommige stemmen wordt wel gezegd, dat zij boven ruimte en tijd uitstijgen, zoals de stem die zegt: “Ik ben die ik ben”. Of de stem die zegt: “Ik ben de weg, de waarheid en het leven”. Of de stem die zegt: “In den beginne was het woord en het woord was bij God en het woord was God”. Maar zelfs deze stemmen, die spreken van een werkelijkheid die boven ruimte en tijd uitgaat, klinken in het hier (of daar) en nu (of toen) van ruimte en tijd, hetgeen betekent dat zij historisch zijn.

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Ik spreek hier van historiciteit niet als afgedane zaak, maar als actualiteit, dat wil zeggen van de betekenis in het bloeiende heden van verleden, heden en toekomst. Ik spreek dus van een heden, dat verleden, heden en toekomst omvat. In dit bloeiende heden klinken de stemmen van toen en nu, menselijke stemmen die iets uitspreken, iets hoorbaar maken, iets meedelen en delen. Wat klinkt in de stem van Blind Willie Mctell dat in de stem van Herbert Grönemeyer niet te horen valt?

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De stem van Mctell is gebroken, begrensd, bloedend, tastend en treffend - gebroken, omdat hij zwart was; begrensd, omdat hij gewend was in keukens te zingen; bloedend, omdat de zwarten in de zuidelijke staten van de USA geknecht werden; tastend, omdat hij altijd maar weer moest vechten tegen het verinnerlijkte verbod: gij zult zwijgen; treffend, misschien omdat hij blind was, net als Homerus? Willy Mctell bewoog zich in een geschiedenis, een lotgeval, een discours, een specifiek veld van “betekenissen”, hetgeen zich uitdrukte in timbre, dictie en ritme van zijn stem. Bob Dylan zegt over Mctell: “Nobody can sing the blues like Blind Willy Mctell.”

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En Herbert Grönemeyer? In mijn oren klinkt zijn stem zelfbewust, warm innerlijk of hard uiterlijk, terechtwijzend, “architectonisch”. Zijn stem is die van de “Duitser” die aanhoudend en vastbesloten “nooit meer holocaust” zegt en er bovendien een idee van heeft hoe hij als zanger eraan kan bijdragen dat dit “nooit weer” kan worden bewerkstelligd, namelijk door duidelijk te zijn, grenzen te stellen, aan te klagen als het moet, op de passende momenten innerlijk beroerd en zelfs gewond te zijn.

***

De oorzaak van het feit dat stemmen onverwisselbaar zijn, is allesbehalve triviaal. Met onderscheiden “meningen” heeft het bijvoorbeeld maar heel weinig te maken. Het is onzin te beweren dat de onvervreemdbare stem van een persoon wordt bepaald door diens levensbeschouwelijke opvattingen. Maar ook met psychologie heeft het maar weinig van doen. Het zijn niet onze trauma´s, neurosen en andere zielse eigenschappen die onze stem bestemmen. Met menselijke stemmen is meer aan de hand. Om een begrip van Martin Heidegger te gebruiken: de onvervreemdbare stem van iedere persoon is een “Ereignis”, of zoals we tegenwoordig misschien eerder zeggen, een “event”.

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Een Ereignis in de zin van Heidegger is niet herleidbaar tot het reeds bekende. Alles wat herleidbaar is tot het ons reeds bekende, hoort tot wat Heidegger “das Seiende” noemde. Als ik de espresso die ik op dit moment drink als een herhaling van de espresso beschouw die ik gisteren heb gedronken, wijs is hem (de actuele espresso) terug in het rijk van “das Seiende”; ervaar ik mijn actuele espresso daarentegen als een eenmalig event dat de actuele historiciteit van het nu uitmaakt, stap ik in het rijk van “das Sein”, door Heidegger ook wel de wereld van de Eigentlichkeit genoemd.

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Het is vermoedelijk Emanuel Kant geweest die als eerste in de Nieuwe Tijd het “event-karakter” van menselijke uitingen (de “stemmen”) heeft doorzien. Het is echter vervolgens de Franse filosoof Michel Foucault geweest, die met terugwerkende kracht in de jaren tachtig van de vorige eeuw heeft doorzien dat Kant het twee eeuwen daar voor had doorzien. Kortom, Foucault ondekt de ontdekking van Kant. In twee artikelen uit 1984 met beiden dezelfde titel, Was ist Aufklärung?, wijst Foucault op een tekst van Kant uit 1784, die eveneens de titel Was ist Aufklärung? draagt. In deze tekst, aldus Foucault, stelt Kant als eerste in de geschiedenis van de mensheid een vraag die ons tot op de dag van vandaag bezighoudt, namelijk die naar de herkomst van inhoud en betekenis van menselijke “stemmen” op dit of dat moment, hier of daar.

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Ik citeer Foucault: “Wenn man wirklich bereit ist, die Philosophie als eine Form diskursiver Praxis zu betrachten, die ihre eigene Geschichte hat, dann lässt sich, wie mir scheint, mit diesem Text über die Aufklärung (ook in de originele Franse text gebruikt Foucault het Duits woord. JvdM) erkennen, wie die Philosophie – und ich denke, ich übertreibe nicht zu sehr, wenn ich behaupte, es sei das erste Mal – ihre eigene diskursive Aktualität problematisiert: eine Aktualität, die sie als Ereignis befragt, als ein Ereignis, dessen Sinn, Wert und philosophische Einzigartigkeit sie auszusagen, und worin sie zugleich ihre eigene Daseinsberechtigung und die Grundlage für das, was sie sagt, zu finden hat“[i].

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Terzijde: dat Kant en Foucault het hier over filosofen hebben en niet over zangers, is op dit punt niet van belang. Het begrip van de “diskursiver Praxis” van Foucault kan worden uitgebreid over het gehele domein van het culturele leven: alle stemmen vallen eronder, die van filosofen, wetenschappers, muzikanten, kunstenaars, ja zelfs journalisten. En bovendien geldt dat het niet alleen gaat om wat mensen zeggen, maar vooral ook om wat zij doen. Ook in het handelingsleven drukt zich een diskursiver Praxis uit, zodat nog genoemd moeten worden: ondernemers, politieke activisten, boeren, Penners (die namelijk besloten hebben niets te doen), vluchtelingen en ruimtevaarders.

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Menselijke uitingen zijn niet te begrijpen als de uitkomst van menselijke overwegingen, dat wil zeggen, niet uitsluitend herleidbaar tot het ons reeds bekende, want reeds gedachte. In menselijke uitingen werkt wat Foucault in samenhang met de beschouwing van Kant een “immanenten Teleologie” noemt. In wat mensen proberen te zeggen en te doen drukken zich een richting en een doel uit, die echter pas kunnen worden gezien en begrepen nadat het laatste woord is gesproken - vaak zelfs geruime tijd later. Of om het met de Engelse antroposoof Owen Barfield te zeggen :”Words are not bottles”. Woorden zijn eerder te begrijpen als vlaggen, die sierlijk heen en weer bewegen in een aangename lentebries of heftig wapperen als er veel wind is. Vlaggen vertellen bijna alles over de actuele wind, maar maken hem niet zichtbaar, laat staan manipuleerbaar.

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Wat spreekt in de menselijke stem? Foucault zou zeggen dat de menselijke stem een uitdrukking is van het discours waar de spreker zich onbewust in bevindt. In zijn visie is spreken een poging opheldering (Aufklärung) te verkrijgen over de knooppunten waarin wij kennelijk verwikkeld zijn. Het zijn de gevoelde maar niet begrepen knooppunten die onze woorden en daden een richting en een doel geven. In dit opzicht is de teleologie volgens Foucault immanent: hij is in en vanuit de knooppunten werkzaam. Je hoeft dus niet naar een hoger of dieper niveau van de werkelijkheid te zoeken om het doel van ons handelen te vinden.

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Maar Foucault ontkomt er niet aan toch subtiel van “dieper” te spreken, hetgeen ondermeer blijkt uit het gebruik van het woord “onbewust”. In zekere zin valt het hele werk van Foucault te begrijpen als een worsteling met het begrip “transcederen”, dat wil zeggen, de grond van de spontaan gekende werkelijkheid zoeken in iets dat boven of achter de spontaan gekende werkelijkheid ligt. Aan de ene kant was hem duidelijk dat het menselijk handelen niet vanuit het bekende te begrijpen valt, laat staan verklaarbaar is, aan de andere kant wilde hij hoe dan ook vermijden in spiritueel vaarwater te geraken. Iets als een “hoger” of “dieper” bewustzijn mocht in het discours van Foucault niet bestaan. Je kunt deze bewering echter voor hetzelfde geld ook omdraaien: Foucault zocht zo hardnekkig en liefdevol naar het transcedente, dat hij alle argumenten ertegen streng onder ogen wenste te zien.

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Juist in de context van het postmoderne discours (Foucault wordt wel beschouwd als een van de vaders van het postmodernisme; hijzelf was met deze uitdrukking niet zo gelukkig) wordt de betekenis van de antroposoof Rudolf Steiner duidelijk. Ook in zijn visie worden inhoud, betekenis en werking van de menselijke stem bepaald door de “knooppunten” waarin de betreffende zich bevindt. De stem van Steiner noemt dit “karma”. Aan iedere levensloop liggen, aldus Steiner, onbewuste vraagstellingen ten grondslag, die niet alleen de inhoud en de vorm, maar ook de reden en het doel ervan uitmaken, de causa finalis. Een ideale levensloop bestaat volgens Steiner uit een leven waarin de knooppunten zoveel als mogelijk worden ontward, en waar uit de handeling van de ontwarring iets nieuws ontstaat.

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Wat Michel Foucault diskursiver Praxis noemt, heet bij Rudolf Steiner “karmische achtergrond”. Net als bij de diskursiver Praxix van Foucault is bij de idee van karma bij Steiner altijd maar weer één ding moeilijk te aanvaarden, namelijk dat er verschillende discoursen en karmische achtergronden zijn. Steeds weer poogde Steiner duidelijk te maken dat de karmische achtergronden buitengewoon veelkleurig, veelzijdig, tegensprakig, verwarrend, eenvoudig en wispelturig zijn. Ieder mens, iedere periode, iedere cultuur, iedere stad, iedere voetbalclub, iedere wetenschappelijke of politieke of religieuse stroming brengt zijn of haar karmische discours mee.

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In het boek dat u – de lezer – op dit moment in handen heeft, klinkt de stem van Sebastian Gronbach. Ik schrijf dit voorwoord omdat Sebastian mij erom heeft gevraagd en omdat ik u opmerkzaam wil maken op diens stem. Zijn stem fascineert me, brengt me in beweging, drijft me soms aan de afgrond, wekt me midden in de nacht (nee, dit is niet metaforisch bedoeld), schept een leegte als hij voor een tijdje niet te horen valt, wekt hoop. Ik wens de lezer toe dat de stem van Gronbach via dit boek dezelfde betekenis krijgt als hij in mijn leven al heeft, domweg doordat ik het geluk heb met Gronbach van doen te hebben.

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Ik heb met Sebastian Gronbach van doen. Ik bedoel, wij werken samen. Ik bedoel ook, dat wij bevriend zijn geraakt. Ik bedoel, dat er in mijn binnenwereld, ook als Gronbach onderweg is en zich niet meldt, een gesprek gaande is tussen hem en mij. De stem van Gronbach behoort tot de stemmen die in mij verinnerlijkt zijn; hij zegt dus ook dingen tegen mij, waar hij geen weet van heeft. Ik ben er zeker van dat de in mij verinnerlijkte Gronbach alles te maken heeft met de Gronbach die onderweg is, artikelen schrijft, een blogsite verzorgd, lezingen houdt en nu dus een boek publiceert. Ik beweer echter niet precies te weten hoe die beide Gronbachs, de innerlijk in mij onzichtbare maar hoorbare en de uiterlijk eveneens onzichtbare maar hoorbare Gronbach, met elkaar te maken hebben.

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Hoe klinkt in mijn oren de stem van Gronbach? Een paar aspecten vallen mij altijd maar weer op. 1. Gronbach vertrouwt statements. 2. Gronbach houdt van “Ereignisse” (in de zin van Heidegger). 3. Gronbach wenst afscheid te nemen van de befaamde jaren zestig en zeventig van de vorige eeuw. 4. Gronbach wil antroposoof zijn. 5. Gronbach gelooft in het nemen van besluiten. 6. Gronbach is in hoge mate geinteresseerd in de uitwerkingen van zijn handelen.

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Statements. Ook dit boek is vol van statements, dat wil zeggen: quotable soundbites, one-liners... Zij vatten niet alleen bondig samen, zoals goede koppen boven artikelen plegen te doen, maar werken als breekijzers. Sebastian Gronbach is tenslotte een uitstekende journalist, hetgeen betekent dat hij niet alleen van “events” spreekt, maar zijn teksten zelf tot een “event” wil maken. Met zijn statements wil hij de wereld wil verbeteren, zeker, maar in hoofdzaak door de wakkerheid in zichzelf en in de lezers te versterken. Een wakkere wereld is volgens Gronbach een betere wereld.

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Ereignisse. Aan een Ereignis heb je deel. Een Ereignis is een raadsel dat bevraagd moet worden om als Ereignis betekenis te krijgen. Een Ereignis dat niet wordt bevraagd, blijft een triviale gebeurtenis. Pas als een Ereignis wordt bevraagd, wordt het tot waterscheiding: het scheidt de geschiedenis in twee delen, een deel ervóór en een deel erná. In zijn schrijven stelt Gronbach de vraag die Foucault naar aanleiding van de tekst van Kant stelt: “Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Und was ist dieses Jetzt, innerhalb dessen wir die einen und die anderen sind und das den Zeitpunkt bestimmt, an dem ich schreibe?“

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Afscheid jaren zestig. Ik neem aan dat dit punt mij bijzonder opvalt, doordat ik een “zestiger” ben, jaargang 1950, politiek en cultureel wakker geworden gedurende de fameuze hink-stap-sprong van 1966, 1967 en 1968. Sebastian Gronbach, jaargang 1969, ziet overal om zich heen de schaduwzijden van de jaren zestig. Die betreffen een breed palet, zoals de rol van de staat, de rollen tussen mannen en vrouwen, de politieke en sociale “correctheid” ten opzichte van “anders denkenden”, en de bijvoorbaat relativerende bescheidenheid van het eigen standpunt. In zijn ogen is de missie van de jaren zestig voorbij.

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Antroposoof willen zijn. Sebastian Gronbach is opgegroeid in een antroposofisch gezin. Hij bezocht de Waldorfschule in Köln, studeerde sociale geografie, maar werd direct na zijn studie redacteur van het antroposofische tijdschrift Info3. Wie zijn journalistieke bijdragen kent, weet dat zijn blikrichting en houding op gespannen voet staat met normen en waarden die in de antroposofische beweging gelden. Zo schrijft hij liefdevol over hoeren, hamburgers van Mcdonalds en Bild-Zeitung. Kenmerkend voor zijn blikrichting en houding is echter dat hij zijn verhouding tot de antroposofie nadrukkelijk niet wenst te problematiseren. Hij zegt bijvoorbeeld nooit dat hij op weg is antroposoof te worden, (want ja, is dat niet een hoog doel? En moet je dan niet eerst heel veel gemediteerd hebben?), maar altijd dat hij antroposoof is, ohne ja und abers. Dat Gronbach antroposoof is, berust op een besluit.

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Uitwerkingen van zijn handelen. Zijn lezers en toehoorders zijn soms geërgerd door het feit dat Gronbach ook over Gronbach spreekt of schrijft. Gronbach is een belangrijk thema voor Gronbach. In mijn ogen speelt op dit punt een vleug narcisme mee, maar waarom ook niet? Belangrijker echter lijkt mij te zijn dat hij zijn persoon niet allen van binnen naar buiten begrijpt (een typische eenzijdigheid van de jaren zestig), maar vooral ook omgekeerd van buiten naar binnen. Sebastian Gronbach stiliseert zijn persoon, zijn uiterlijk, zijn optreden en kijkt daarbij voortdurend in de spiegel van zijn omgeving. Hij verstaat daarbij de kunst vrijmoedig over de schaduwzijden van zijn werkingen te spreken, maar brengt daardoor ook zijn lezers en toehoorders in verlegenheid. Want hebben wij niet geleerd over schaduwen te zwijgen?

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Dit boek is stand-up antroposofie. De stem die hier klinkt, is die van de antroposoof die in het hier en nu iets wil bewerkstelligen. De rechtvaardiging van de inhoud en de vorm van dit boek ligt niet in ideologische of levensbeschouwelijke overwegingen, maar in het opstaan in het heden en in het bestemmen van wat het heden uitmaakt.

Jelle van der Meulen, Köln, zomer 2007



[i] Zie: Michel Foucault, Schriften in vier Bände. Dits en Ecrits, Band 4, Suhrkamp Verlag 2005, pagina 839