12.10.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Bochum, den 6.10.2007. Wir sitzen mit etwa zehn Leuten in einem Halbkreis und schauen auf eine Frau, die vor einer Wand steht. Hinter der Frau gibt es ein langes Regal mit vielen Büchern. Ich erlaube mir, der Frau für heute einen anderen Namen zu geben. Ich nenne sie Myriam. Wir dürfen auf Myriam schauen, und zwar unverschämt – wir dürfen es, weil sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat den Mut, sich als „Wahrnehmungs-Objekt“ für unsere Augen vor uns hinzustellen. Heute wollen wir nämlich eine Antwort finden auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Wir schauen und schauen und schauen auf ihre Gestalt und versuchen in Worte zu fassen, was wir sehen. Und wir merken, wie viel wir eigentlich sehen, gleichzeitig aber auch, wie ungeübt wir sind, dafür die richtigen Worte zu finden. Wir merken, dass wir unsere Gedanken sofort in Sprache umsetzen können, unsere Wahrnehmungen aber scheinen über die Worte hinaus wegschweben zu wollen. Um Wahrnehmungen zu beschreiben, muss man richtig tätig werden und aktiv zugreifen. (Genau, man muss ein bisschen wie Marcel Proust oder Ernest Hemingway oder Saul Bellow oder Walter Benjamin werden.)

Aber bevor wir mit dem Schauen begonnen haben, habe ich von Walter Benjamin und seiner “mimetischen Theorie der Sprache“ erzählt. Benjamin meinte, dass die Wahrheit „ihr Haus in der Sprache hat“. Ohne Sprache keine Wahrheit. Dass ein Jude wie Walter Benjamin die Domäne der Wahrheit in der Sprache sucht, darf nicht verwunderlich sein. Laut Genesis hat ja überhaupt alles mit der Sprache angefangen: „Gott sprach: und es wurde Licht“. In seiner Theorie unterscheidet Benjamin vier Sprach-Arten: die göttliche, die adamitische, die urteilende und zuletzt die stumme Sprache. Die erste Art ist schöpferisch, die zweite gibt den Dingen einen ihrem Wesen entsprechenden Namen, die dritte ist unsere Alltags-Sprache (wir urteilen ja leider ständig!) und die vierte Sprache besagt, dass ja alles und alles und alles „sich mitteilt“ – Pflanzen, Landschaften, Tiere, Kunstwerke und auch menschliche Gestalten.

Wovon spricht aber die stumme menschliche Gestalt? Wir sitzen also auf unseren Stühlen in Bochum und schauen und schauen und schauen. Gott-sei-Dank gibt es Alexander Schaumann (er heißt nicht umsonnst Schauman), der ganz rechts auf seinem Stuhl sitzt, und ständig unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere lenkt. Er ist unser Virgil. So fragt er beispielsweise: „Wenn wir auf die Aufrichte-Kraft schauen, wo genau ist sie zu sehen?“

Und wir schauen und merken, dass die Aufrichte-Kraft in dieser Frau zumindest zwei unverkennbare Quellen hat: in den Füßen, aber vor allem irgendwo zwischen Brustbereich und Kopfbereich. Es ist, als ob in ihrer Gestalt gerade dort ein Sprung sichtbar wird, andauernd eine aufrichtende nicht-physische Bewegung vollzogen wird, die dazu führt, dass ihr Antlitz frei im Raum erstrahlt. Und wenn wir noch genauer schauen, sehen wir, dass diese andauernde Bewegung – es ist erst ein Zurücknehmen und dann ein nach oben und vorne wieder Freigeben – den Eindruck erzeugt, als ob es hinter ihrem Kopf eine unsichtbare leuchtende Muschel gibt, die sich leise nach vorne beugt und unsere „Anwesenheit“ zurückstrahlt. In dieser unsichtbaren Muschel fühlen wir uns wahrgenommen und bestätigt.

(Ja, ich räume ein, dass diese Sätze schon ein bisschen komisch klingen. Eben, Proust würde seinen Kopf schütteln.)

Und wir denken: ist das bei allen Menschen so? Und wir stellen sofort fest, dass es nicht bei allen Menschen so ist, es ist nur bei dieser Person so. Bei allen Menschen ist es so, dass es eine Aufrichte-Kraft gibt, die uns nicht nur auf die Beine stellt, sondern auch eine wache Perspektive in der Welt verleiht. (Nun ja, gibt es Mensch und Welt? Oder gehen die auseinander hervor?) Höchst individuell scheint aber die Art und Weise zu sein, wie sie in unserer Gestalt wirkt.

Dann schlägt Alexander Schaumann (er ist Maler) vor, dass wir gemeinsam ein Bild malen. Er meint, dass wir unsere Wahrnehmungen dialogisch auf dem Papier zusammentragen können, um zu schauen, ob da etwas Gemeinsames entsteht. Alexander Schaumann breitet ein Stück Papier von drei mal anderthalb Meter auf dem Boden aus und gibt uns lange Pinsel, Wasser und die drei Farben rot, gelb und blau.

„Bitte“, sagt er dann.

Über dasjenige, was in den nächsten anderthalb Stunden geschieht, wäre ein Roman zu schreiben. Wir alle sind an dem Malen beteiligt. Auf dem Papier entsteht eine „Aura“. Die Füße, Beine, Bauch, Arme und Hände, Brustbereich, Schultern und Kopf sind zwar noch klar zu erkennen, aber eingebettet in ein bewegliches und dynamisches Spiel von Farben. Ein Kunstwerk ist es nicht gerade, oder gerade doch? Uns beschäftigt sehr intensiv was da entsteht, wir sind sozusagen jede Minute richtig „dabei“. Wir „untersuchen“ unsere Wahrnehmungen, versuchen zu verstehen, wenn jemand beispielsweise sagt: „Da im Bauchbereich müsste mehr rot hinzugemalt werden, wegen der Wärme die es dort gibt“.

Was hat das so entstandene Bild mit Myriam zu tun? Auch im Nachhinein fasziniert mich unsere „Entdeckung“ der Muschel – obwohl da rein physisch nichts zu sehen ist, meine ich wirklich eine Muschel „gesehen“ zu haben. Vor allem kann ich mein Empfinden, dass ich mich in dieser Muschel wie zurückgestrahlt und bestätigt erlebe, nicht zur Seite schieben. Und weil ich Myriam schon vorher kannte, kommt noch ein Empfinden dazu: Ich habe das Gefühl, dass ich ihre „Muschel“ schon vorher gespürt hatte. Die Übung scheint also etwas ins Bewusstsein zu heben, was vorher schon unbewusst vorhanden war und erlebt wurde.

(Am 27. Oktober geht es weiter. Wir werden dann nicht malen, sondern „dichten“. Alle sind herzlich willkommen. Jede Veranstaltung steht für sich. Info: www.firmafueranthroposophie.de)
Mit dank an Birgitt Kähler

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle!
Herzlichen Dank für Deine schöne Beschreibung.

Beim Schauen auf Myriam hatte ich das Gefühl, etwas zu tun, was ich eigentlich nicht tun durfte. Ich schämte mich dafür. Aber Myriam erlaubte es und nach einiger Zeit konnte ich sie anschauen, als hätte sie mich dazu eingeladen.

Wir haben uns mit etwas beschäftigt, was wir erst einmal (für unser Bewusstsein) schaffen mussten, um es sichtbar zu machen. Zuerst jeder für sich allein und dann alle gemeinsam. Beim gemeinsamen Malen habe ich dann jedoch manchmal Spannungen in mir gespürt, die mit dem kräftigen Rot im Bauchbereich und den blassen kraftlos scheinenden Beinen (Aufrichtekraft) zu tun hatten, weil die Farbe nicht der Kraft entsprach, die ich erlebte.
Als wir die „Muschel“ hinter ihren Kopf gemalt hatten, spürte ich, dass die kräftige rote Farbe im Bauchbereich eine Berechtigung fand oder eine Antwort bekam.

Welche Rolle spielen wir als Schauende auf die Gestalt? Myriam erzählte hinterher, dass sie sich sicher fühlte und einen festen Stand hatte. Sie fühlte sich sicher durch unser „wohlwollendes Schauen“, wie sie sagte.
Was hätten wir wahrgenommen, wenn Myriam kein wohlwollendes Schauen von uns erlebt hätte? Hätten wir die Muschel >gesehen< und gemalt, die uns bestätigt oder zurückstrahlt?
Kann die menschliche Gestalt mit ihrer stummen Sprache sprechen, wenn ihr niemand aufmerksam und wohlwollend „zuhört“? (keine wohlwollenden Zuhörer - keine Sprache – kein Haus für die Wahrheit).

Liebe Grüße, Birgitt