30.03.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über die Eltern

Sammy: „Es hat lange gedauert, bevor ich eine Ahnung davon bekam, dass ich existierte. Irgendwie schien alles ein Traum zu sein. Ich war aber glücklich & glücklich & glücklich, vor allem, wenn ich am Abend auf der Fensterbank meines Zimmers saß und die Amsel singen hörte. In einem Buch von links nach rechts hatte ich gelesen, dass die Amsel der Singvogel der Stadt genannt wird. Irgendwie schien mir das besser oder höher oder tiefer zu sein, als ein Singvogel im Wald. Weil im Wald niemand zu hört.“

„Ich habe lange nicht verstanden, dass Häuser gebaut werden. Ich meinte, ohne es wirklich zu meinen – ich hatte es irgendwie gemerkt – dass Häuser einfach da sind, so wie alles einfach da ist: die große Wiese im Park, der Bach an der anderen Seite der Strasse, die Schule auf dem Hügel, das Elektrizitätshäuschen um die Ecke... Alles ist immer vorhanden gewesen. Mein Vater und meine Mutter waren immer vorhanden gewesen. Und ich war immer vorhanden gewesen, obwohl ich gerade das nicht verstand – dass ich vorhanden war.“

„War ich vorhanden? Bin ich vorhanden? Was heißt es, vorhanden zu sein? Samuel, bist du vorhanden? Und bin ich für Dich vorhanden? (Und sind meine Hände vorhanden?) Irgendwie scheint es mir jetzt so zu sein, dass ich gerade nicht vorhanden bin, weil das Vorhandene doch vorhanden ist für mich? Ich kann doch nicht das sein, was für mich vorhanden ist?“

„Eine erste Ahnung davon, dass ich existiere, habe ich über die Augen meines Großvaters gekriegt. Er war klein & kahl & gegerbt. Er sagte nie etwas. Er rauchte alles mögliche: Zigaretten, Zigarren und Pfeife. Und er schwieg. Mein Großvater schwieg aktiv, so wie die meisten Menschen aktiv reden. Schweigen war seine Sprache. Seine Augen aber – braun, tief versteckt in großen Augenhöhlen – schauten auf alles was vorhanden war. Und alles was vorhanden war, steigerte sich in seinem Blick. Wenn er auf eine kupferne Granathülse schaute, stand sie auf einmal angenommen & überzeugend & mächtig im Raum.“

„Er schaute auch auf mich. Wenn er ins Wohnzimmer meiner Eltern eintrat, suchte sein Blick mich, berührte sein Blick mich, weckte sein Blick mich auf, so, als ob sein Blick eine Art Draht ist, der mich aus meinem inneren Meer an den Strand zog. Sein Blick brachte mich in die Luft und ins Licht hinein. In seinem Blick gab es etwas Lebendiges, dass mich ansteckte & nicht nur ins Weltenlicht brachte, sondern auch zu mir führte. Ja, ich würde sagen: in dem Blick meines Großvaters wurde ich geboren. Aus seinem Blick bin ich hervor gegangen.“

„Und manchmal frage ich mich: Ist er die Person in der Tarnkappe?“

„Mein Vater und meine Mutter waren mir fremd. Lieber Samuel, es fällt mir schwer zu beschreiben, wie ich die beiden gesehen habe, oder eben gar nicht gesehen habe. Sie waren irgendwie wie Gegenstände die man nicht anfasst, weil sie unbedingt sauber bleiben müssen. Sie zu berühren würde zu Krankheiten führen. Berühren würde zerstören. Berühren würde irgendwie die Welt in ihrem Kern aus dem Gleichgewicht heben. Die Körper meiner Eltern waren mir nicht zugehörig – sie befanden sich in einer anderen Welt, die sich parallel zu meiner, aber unerreichbar, fortbewegten in eine für mich nicht nachvollziehbare Richtung.“

„Es ist nicht so, dass ich die beiden nicht liebte. Und umgekehrt glaube ich bestimmt, dass sie mich liebten. Es war aber eine Liebe ohne eine wirkliche Verwandtschaft, so wie der Kuckuck in einem fremden Nest. Ist es nicht so, dass wir nur sehen & verstehen können, was wir irgendwie schon kennen? Samuel, sag mir, würde Plato das nicht bestätigen?“

„Ich glaube aber, dass man lieben kann, was man nicht kennt. Man kann lieben ohne zu erkennen. Die Liebe zu meiner Mutter und zu meinem Vater war aber nicht selbstverständlich, nicht vertraut, nicht von alleine... Jeden Tag wenn ich aus der Schule kam und über den Gartenweg ins Haus gelangte, war ich somewhere deep down überrascht meine Mutter anzutreffen, so, als ob ich nicht mit ihr gerechnet hätte. Ja, sie hatte immer Tee gekocht. Immer Tee. Und immer gab es Kuchen & Süßigkeiten & Schokolade. Und immer hat sie geraucht, wie mein Großvater, der ihr Vater war. Und immer habe ich gedacht: sie hat auch die braunen und tiefen Augen meines Großvaters - sie sah mich aber irgendwie nicht.“

"Samuel, ich muss jetzt schweigen. Weil ich weinen muss. Weil ich meine Mutter liebe, gerade auch deshalb, weil ich ihr fremd war. Weil sie meine Sehnsucht nach der Bewegung von links nach rechts nicht verstand. Weil sie, wenn sie auf mich schaute, immer etwas vermisst hat, ohne zu wissen, dass sie es vermisste. Sie muss das Gefühl gehabt haben, in ein schwarzes Loch zu schauen - genau das, was ich erlebte, als ich noch ganz ober war. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie mich nie spontan umarmen konnte?"

19.03.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über das Loch

Sammy: „Auf einmal war da ein Loch, ein Nichts, ein offenes Ende ohne Licht, einen dunklen Geruch, den ich nicht erkennen konnte – ja, wenn Du, Samuel, mich jetzt fragst, würde ich sagen: es war so, als ob eine frische & prickelnde Frucht, die lange auf mich gewartet hatte, auf einmal auseinander fiel & einen faulen Kern offenbarte. Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich noch orientieren konnte.“

„Ich war da ganz oben. Was es heißt, da ganz oben zu sein? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Da ganz oben ist man eingebettet in tragende Ströme, wie Vögel in hohen Luftbewegungen – in Erwartungen & Hoffnungen & weiten Perspektiven & uralten Motiven & bedeutungsvollen Schwingungen. Alles da oben hängt mit allem zusammen, wie in einer Symphonie von Gustav Mahler oder auf einem Bild von Willem de Kooning. Die Töne & Rhythmen & Farben & Flächen bewegen sich wie ein Schwarm Stare. Und man ist da mittendrin.“

„Ja, ganz oben sein, das heißt noch nicht geboren sein, oder vielleicht besser gesagt: im Kommen sein. Man ist da ganz oben immer selbstverständlich unterwegs. Man geht auf etwas zu. Man neigt sich nach vorne und damit nach unten. Vorne ist da oben gleich unten. Aber unten riecht es gut, ganz gut, so wie es von hier unten ja gerade da oben frisch & prickelnd riecht. Da oben sind irgendwie Weg und Ziel immer eins und das Gleiche.“

„Als ich da oben war, was sah ich da unten? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Ich würde sagen, dass ich da unten zwei Menschen sah, zwei dunkle Menschen, die alte Bücher liebten – ihre Zeigefinger waren immer & immer zwischen aufgeschlagenen Blättern mit fast brennenden Zeichen, die von rechts nach links liefen. Dieses von rechts nach links laufen von Zeichen, hat mich damals da oben sehr beschäftigt, weil ich spürte: der göttliche Reigen bewegt sich von rechts nach links.“

„Die zwei Menschen wohnten in einer Stadt an einem breiten Fluss. Ich meinte – na ja, da oben „meint“ man eigentlich gar nichts, man merkt die Dinge einfach – dass in dieser Stadt noch viele andere sich von rechts nach links bewegende Zeigefinger waren. Und ich wollte da hin. Ich wollte vor allem bei diesen zwei dunklen Menschen sein, die irgendwie etwas bewahrten, was ich abholen sollte – die auf mich warteten, genau so dringend, wie ich mich auf sie zu bewegen wollte. Sie hatten mir etwas zu sagen, zu enthüllen, zu zeigen über mich.“

"Aber dann war auf einmal das Loch da. Die beiden waren verschwunden. Ich konnte leider nicht sehen, wie das geschehen war. Ich spürte da unten eine heftige Unruhe, als ob alles durcheinander geraten & sich von rechts nach links bewegen irgendwie nicht mehr möglich war. Vage meinte ich einen langen & düsteren Weg in östliche Richtung zu sehen, von mir aus gesehen klar von links nach rechts, der sich in einem Nichts auflöste. Weil es da oben den Begriff Tod nicht gibt, konnte ich nicht verstehen, was passiert war.“

„Jetzt weiß ich es: die beiden waren tot.“

„Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich in meinem Kommen richten sollte. Ich war nicht mehr unterwegs. Und fast hätte ich mich umgedreht & den Weg zurück eingeschlagen, den Weg in die oberen Schwingungen & Bedeutungen & Herkünfte. Nicht weil ich mich danach sehnte, nein, das war ganz und gar nicht der Fall! Ich wusste einfach keinen anderen Weg. Es gab nichts anderes.“

„Irgend jemand oder irgend etwas – war es ein Bild? Ein Song? Eine gebrochene Stimme? Ein Bluessänger? Ein Freund, der mich brauchte? – hat mir an dieser Stelle geholfen. Nein, ich kann leider nicht sagen, wie das geschah, weil mir dieser Moment verborgen ist. Wenn es eine Person war, hüllt sie sich bis auf den heutigen Tag in eine Tarnkappe. Aber irgend jemand oder irgend etwas hat mir den Weg zurück versperrt & meine Augen nach vorne und nach unten wieder geöffnet. Und was ich sah, waren zwei andere Menschen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Ja, auch diese zwei Menschen liebten ein altes Buch – die Zeichen dieses Buches verliefen aber gerade umgekehrt, also von links nach rechts.“

„Bei diesen beiden Menschen bin ich letztendlich mehr oder weniger angekommen. Ja, ich sage mehr oder weniger, weil die beiden mir irgendwie immer fremd geblieben sind. Ihre Haut, ihre Haare, ihre Bewegungen (von links nach rechts), ihre Worte & Redewendungen, ihre Art Fahrrad zu fahren & ihre Liebe zu Bach & ihr Ärger über Jazz, ja, ihre klaren Gedanken über Gott & die Menschen, über Arbeitgeber & Arbeitnehmer – das alles stand trocken und bewegungslos um mich herum. Es war, als ob ich wie ein Frosch in einem Schuhkarton gelandet war.“

„Als ich endlich aufwachte und zu mir kam, war ich elf Jahre alt. Ich stand im Wohnzimmer meiner Eltern und dachte: die Welt ist leer. Ich dachte: meine Welt gibt es hier nicht. Ich dachte sogar: die Welt gibt es nicht. (Jahre später hast Du, Samuel, in einem Buch von links nach rechts gelesen: „die Welt ist, was der Fall ist“. Dieser Gedanke bot Dir einen Ausweg – darüber schreibst Du vielleicht später mal ein paar Worte.) Ja, in diesem Wohnzimmer bin ich, der kleine Sammy, in gewissem Sinne bis auf den heutigen Tag stehen geblieben."

"Du, Samuel, bist weiter gegangen. Du hast Grenzen überschritten & Umzüge arrangiert & mittlerweile gelernt Dich von rechts nach links zu bewegen. Es wird aber Zeit, dass ich vom Fleck komme und mitmache."

Was Sammy heute Samuel sagt.

Sammy: „Auf einmal war da ein Loch, ein Nichts, ein offenes Ende ohne Licht, einen dunklen Geruch, den ich nicht erkennen konnte – ja, wenn Du, Samuel, mich jetzt fragst, würde ich sagen: es war so, als ob eine frische & prickelnde Frucht, die lange auf mich gewartet hatte, auf einmal auseinander fiel & einen faulen Kern offenbarte. Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich noch orientieren konnte.“

„Ich war da ganz oben. Was es heißt, da ganz oben zu sein? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Da ganz oben ist man eingebettet in tragende Ströme, wie Vögel in hohen Luftbewegungen – in Erwartungen & Hoffnungen & weiten Perspektiven & uralten Motiven & bedeutungsvollen Schwingungen. Alles da oben hängt mit allem zusammen, wie in einer Symphonie von Gustav Mahler oder auf einem Bild von Willem de Kooning. Die Töne & Rhythmen & Farben & Flächen bewegen sich wie ein Schwarm Stare. Und man ist da mittendrin.“

„Ja, ganz oben sein, das heißt noch nicht geboren sein, oder vielleicht besser gesagt: im Kommen sein. Man ist da ganz oben immer selbstverständlich unterwegs. Man geht auf etwas zu. Man neigt sich nach vorne und damit nach unten. Vorne ist da oben gleich unten. Aber unten riecht es gut, ganz gut, so wie es von hier unten ja gerade da oben frisch & prickelnd riecht. Da oben sind irgendwie Weg und Ziel immer eins und das Gleiche.“

„Als ich da oben war, was sah ich da unten? Na ja, das ist schwierig zu beschreiben. Ich würde sagen, dass ich da unten zwei Menschen sah, zwei dunkle Menschen, die alte Bücher liebten – ihre Zeigefinger waren immer & immer zwischen aufgeschlagenen Blättern mit fast brennenden Zeichen, die von rechts nach links liefen. Dieses von rechts nach links laufen von Zeichen, hat mich damals da oben sehr beschäftigt, weil ich spürte: der göttliche Reigen bewegt sich von rechts nach links.“

„Die zwei Menschen wohnten in einer Stadt an einem breiten Fluss. Ich meinte – na ja, da oben „meint“ man eigentlich gar nichts, man merkt die Dinge einfach – dass in dieser Stadt noch viele andere sich von rechts nach links bewegende Zeigefinger waren. Und ich wollte da hin. Ich wollte vor allem bei diesen zwei dunklen Menschen sein, die irgendwie etwas bewahrten, was ich abholen sollte – die auf mich warteten, genau so dringend, wie ich mich auf sie zu bewegen wollte. Sie hatten mir etwas zu sagen, zu enthüllen, zu zeigen über mich.“

„Aber dann war auf einmal das Loch da. Die beiden waren verschwunden. Ich konnte leider nicht sehen, wie das geschehen war. Ich spürte da unten eine heftige Unruhe, als ob alles durcheinander geraten & sich von rechts nach links bewegen irgendwie nicht mehr möglich war. Vage meinte ich einen langen & düsteren Weg in östliche Richtung zu sehen, von mir aus gesehen klar von links nach rechts, der sich in einem Nichts auflöste. Weil es da oben den Begriff Tod nicht gibt, konnte ich nicht verstehen, was passiert war.“

„Jetzt weiß ich es: die beiden waren tot.“

„Ich wusste nicht mehr, worauf ich mich in meinem Kommen richten sollte. Ich war nicht mehr unterwegs. Und fast hätte ich mich umgedreht & den Weg zurück eingeschlagen, den Weg in die oberen Schwingungen & Bedeutungen & Herkünfte. Nicht weil ich mich danach sehnte, nein, das war ganz und gar nicht der Fall! Ich wusste einfach keinen anderen Weg. Es gab nichts anderes.“

14.03.2008

Die Art von Henning Köhler

„Ich bin ein Existentialist bis in meine Knochen“. Und: „Mein Thema ist die Freiheit“. Und: „Karma und Freiheit bedingen einander“. Und: „Man soll nichts aus Treue und Glauben annehmen“. Diese vier Sätze stammen von Henning Köhler. Er hat sie vor ein paar Wochen in Köln ausgesprochen. Der Titel des Seminars lautete: „Dem Karma auf der Spur“.

Ich war in den letzten Jahren öfters in der Gelegenheit Henning Köhler sprechen zu hören. Im Rahmen der integrativen Fortbildung, die er in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Waldorfpädagogik in Köln anbietet, habe ich seine Ausführungen über ein breites Themenspektrum, wie ein Schwamm aufgenommen. Angst bei Kindern, die anthroposophische Sinneslehre, die so genannten ADS-Kinder, die Ethik des Beratungsgespräches, auffällige Verhaltensweisen und „ungewöhnliche Begabungsprofile“ bei Kindern, der Kindheitsgedanke... Und irgendwo und irgendwann habe ich Henning Köhler in einem Artikel „den warmen Philosophen der Kindheit“ genannt.

Was Henning Köhler denkt, kann man in seinen Büchern nachlesen. Mich interessiert heute eher die Frage: wie denkt und spricht er? Ich meine damit: wie verhält er sich zu den Gedanken, die er äußert? Wie „bewegt“ er sich in der Welt der Gedanken? Wie verwandelt er Gedanken in Sprache? Oder anders gesagt: wie wirkt seine „Gestalt“ als Philosoph? Und vor allem auch: wie spricht er seine Zuhörer an? Wie schafft er es, in einem Seminar seine Zuhörer zu einer Art philosophischen Spaziergang zu bewegen?

Also, nicht das Was, sondern das Wie steht heute in diesem Text an. Was immer auffällt, ist seine Ruhe. Henning Köhler steht da vorne am Rednerpult, hat ein paar Papiere und Bücher dabei, liest manchmal kurz, befreit sich dann selbstverständlich von den Unterlagen und bewegt sich im Raum. Er macht ein paar Schritte um das Pult herum, drei oder vier, nicht mehr, und spricht frei. Sein Blick schweift dabei nach vorne und um ihn herum, wobei er gleichzeitig zwei Sachen zu sehen scheint: die Gedanken, die er gerade in seinen Papieren gefunden hat, und seine Zuhörer.

Er scheint die Gedanken vor sich in einem Raum zu sehen, wie vertraute Objekte, die er mag (oder manchmal auch gerade nicht mag). Seine Gedanken & Begriffe wirken wie unsichtbare Gegenstände, die sich fast handfest & genau & differenziert in einer Landschaft befinden. Und was Henning Köhler macht, ist in einem gewissen Sinne nichts anders, als diese Landschaft zu öffnen & betretbar zu machen.

Wenn er meint, einen Teil der Landschaft hinreichend gestaltet zu haben, dreht er sich langsam und nachdenklich um, macht ein paar Schritte auf das Pult zu (so, als ob er kurz in eine Hütte geht), nimmt ein Blatt Papier in seine Hände, und liest. In dieser ruhigen hin-und-her-Bewegung, die sich ständig wiederholt, wirkt die Tatsache kräftig mit, dass sein Körper groß & tragend & rund ist. Irgendwie scheint er das Bild seines Körpers auf eine unsichtbare-aber-spürbare Ebene zu übertragen. Als Zuhörer fühlt man sich in dieser Körperlichkeit aufgehoben.

In seiner Sprache ist Henning Köhler erstaunlich genau & konsistent & liebevoll. Er liebt die Gedanken – mehr noch die Sprache. Seine Worte & Wortpaare & Sätze & Redewendungen erscheinen wie sorgfältig geschnittene Objekte, wie in einer Kirche aus dem Mittelalter. (Der Unterschied ist nur dieser: sein Geschnittenes befindet sich nicht in einer Kirche, sondern auf einem weiten Feld.) Und er lebt in der Sprache, wie sein Körper sich im Raum bewegt: sorgfältig & gehalten & irgendwie auch mächtig. Seine Stimme klingt sonor & eindringlich & warm.

Das Schönste ist, wenn er auf einmal etwas sagt, das nicht schon vorher gedacht war, sondern sich unerwartet neu aus dem schon Gesagtem ergibt. Es ist dann, als ob sich ein neuer Raum vor allen Zuhörern spürbar öffnet, erst anfänglich „leer“ im Raum schwebt, und dann mit Worten & Begriffen & Bildern, die von irgendwo tief unten hergeholt werden, gefüllt wird. Für solche Momente kenne ich nur ein Wort: Geburt.

Wie gesagt, Henning Köhler lebt in Gedanken & gestaltet Gedanken zu einer genauen und liebevollen Sprache. Durch & zwischen & mit den Gedanken fliesen aber immer tastende Gefühle, die sich zwischen Nähe und Distanz hin und her bewegen. Auf einmal aber können sich diese Gefühle in greifende & eingreifende & angreifende Emotionen verwandeln. Auf einmal ist dann Unruhe da. Ich meine beobachtet zu haben, dass diese Verwandlung immer dann stattfindet, wenn er irgendwie meint, dass der Freiheitsbegriff in Gefahr ist. Ein Zorn steigt auf, der zeigt, dass er nicht nur ein warmer Philosoph der Kindheit, sondern auch ein Kämpfer ist.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

11.03.2008

Vortrag Essen. Über Macht und Freundschaft

Ich verstehe die Anthroposophie auch als einen Raum von Begriffen und Bildern, immer wieder neuen Begriffen und neuen Bildern, in denen sich unterschiedliche Willensrichtungen treffen und verständigen können. Um es mit einem Bild zu sagen: die Anthroposophie ist auch ein Saal mit klaren Spiegeln, die so aufgestellt sind, dass man sich selber und die anderen von allen Seiten sehen kann. Anthroposophie kann zu einem Verstehen führen, dass aus einem sich „rundum-bewegen“ gewonnen wird.

In meinem Vortrag heute Abend (12.03.2008) möchte ich versuchen, mich mit drei Gestalten in diesen Raum hinein zu begeben. Einer von diesen dreien hat sich auch Anthroposoph genannt, nämlich Bernard Lievegoed. Er hat mich bekannt gemacht mit dem Begriff der „Kultur des Herzens“. Die zwei anderen sind französische Philosophen, die im zwanzigsten Jahrhundert als Zeitgenossen in Paris gelebt und einander als Philosophen nicht besonders geschätzt haben: Emmanuel Lévinas und Michel Foucault.

Bernard Lievegoed war Arzt, Erzieher, Organisationsberater und Professor für Soziale Betriebswissenschaft. Im Rahmen meines Vortrages heute Abend könnte gesagt werden, dass einer seiner zentralen Anliegen das Folgende war: die Spannung zwischen der funktionellen Ebene und der allgemein menschlichen Ebene in der Zusammenarbeit zu beleuchten und zu bewegen. Lievegoed meinte, dass in der Zusammenarbeit nur dann spirituelle Ziele erreicht werden können, wenn die Menschen versuchen sich gegenseitig die Herzen zu öffnen.

Emmanuel Lévinas war der Philosoph der Begegnung. In seinem Buch „Zwischen uns“ spricht er von der „Perspektive der Heiligkeit“ in dem „Außer-sich-und-Für-den-Anderen“-sein. Er meinte, vereinfacht gesagt, dass das Leben erst dann an Bedeutung gewinnt, auch in religiösem Sinne, wenn wir uns durch den Anderen bewegen, verändern, bestimmen lassen. Das sogenannte „Ich“ des Menschen entsteht erst im Antlitz des oder der Anderen.

Michel Foucault war der Philosoph der Machtstrukturen. Er hat sich immer wieder die Frage gestellt, wie Menschen im doppelten Sinne zum Subjekt werden können: „subjektiviert“ in einer Unterworfenheit (als Sklave, als Angestellter, als Frau, als Bürger) oder gerade umgekehrt: als freies und kreatives Subjekt, als Person die ihre „Biographie wie ein Kunstwerk“ gestaltet. Sein ganzes Leben hat er versucht, sich von dem alten Begriff der Macht als einer düsteren Kraft-von-außen, zu befreien.

Francisco Ortega[i] fasst die Schlussfolgerung von Foucault folgendermaßen zusammen: „Foucault zufolge leben wir in einer Welt, in der die sozialen Institutionen dazu beigetragen haben, die Zahl der möglichen Beziehungen zu begrenzen. Der Grund dieser Beschränkung liegt darin, dass eine Gesellschaft, welche die Zunahme der möglichen Beziehungen zuließe, schwieriger zu verwalten und zu kontrollieren wäre“.

Am Ende seines Lebens (Foucault starb 1984) taucht in seiner Arbeit der Begriff Freundschaft auf. Er meint, dass die Freundschaft zu verstehen ist als eine Möglichkeit, der immer wirksamen Kraft der Macht aus Freiheit eine positive Bedeutung zu geben. Freundschaft wird damit auf einmal eine brisante soziale Einheit – ein Ort des Widerstandes und der Erneuerung. „Freundschaften zu knüpfen, heißt, Minoritäten entstehen zu lassen, die der Macht Widerstand leisten".

An dieser Stelle wird auf einmal die Arbeit von Lévinas relevant, weil er sich intensiv mit den Fragen der Beziehung beschäftigt hat. Wie ist eine Freundschaft zu leben, zu pflegen und vor allem zu gestalten? Was ist „zwischen uns“? Wie kann man von Angesicht zu Angesicht „sein“? Und: wenn man die Achse zwischen zwei Menschen als das Urphänomen des sozialen Lebens versteht, welche Bedeutung hat dann der dritte und vierte Mensch in der Beziehung? (Lévinas: So bald ein Dritter in der Beziehung auftaucht, braucht man Ethik.)

In einer Kultur des Herzens werden diese Themen aus der Sphäre der Selbstverständlichkeit geholt. Spannend ist dabei vor allem die Frage, welche Bedeutung die Freundschaft in institutionellen Zusammenhängen haben kann. In der Kneipe, mit einem Glas Bier, ist die Freundschaft relativ einfach zu handhaben – als Kollegen, beispielsweise in einem Lehrerkollegium, taucht sofort Widersprüchliches auf. In einer Kultur des Herzens geht es erst mal nicht darum, diese Widersprüche sofort aufzuheben. Die Aufgabe ist eher, an diesen Widersprüchen zu wachsen.

[i] Francisco Ortega, Michel Foucault, Rekonstruktion der Freundschaft, 1997, Wilhelm Fink Verlag, S.242

Mit dank an Sophie Pannitschka

02.03.2008

Esteecee heute. Von Musik getragen

Inwieweit hat der erwachsene Mensch etwas mit seiner Jugend zu tun? Und stimmt es, dass jeder Mensch in seiner Erinnerung die Stätten seiner Jugend in eine goldene Aura hüllt? Weil man dort noch immer den Glanz des Lebens vor der Geburt erlebt? Weil man noch an der Wirklichkeit teil hat, voller Vertrauen und sicher? Weil man die Einsamkeit noch nicht kennen gelernt hat und sich der Bruch mit den Dingen um einen herum noch nicht vollzogen hat?

Sind alle Menschen im Besitz eines solch harmonischen Weltbildes, das offensichtlich in der Jugend entsteht und das auf dem Boden der Seele weiterschlummert wie ein Verlangen, mit dem man nichts anzufangen weiß? Ist dies auch denjenigen Menschen vertraut, die in den Slums von Bombay oder Lima aufwachsen? Und auch solchen die zuerst vom Heroin entwöhnt werden müssen, weil ihre Mutter süchtig war? Und denjenigen, die, vom Vater getragen, auf die Flucht gehen mussten, weil Krieg kam?

Kannte Gloria diese Erfahrung? Ja, trotz allem. Denn dies musste sie gemeint haben, als sie damals an jenem warmen Sommernachmittag im Vondelpark auf einmal über ihre Schulferien zu erzählen begann. Dass nach dem letzten Schultag eine einzige große Freiheit vor ihr lag, eine goldene Ära ohne Ende, in der es nach Tannenduft riechen würde und ihr Vater abends auf die Querflöte spielen würde. Und in der sie nicht in dem großen Haus mit all diesen dunklen Zimmern sein würde.

Sie hatte erzählt, dass am letzten Schultag, wenn es endlich vier Uhr geworden war und die Tore der Schule zum letzten Mal geöffnet wurden, ihr der lange Weg nach Hause auf einmal wie ein sonnenüberströmter Weg der Freiheit erschienen war. Sie lief nicht, sondern es kam ihr vor, als ob sie nach Hause schwebte von den Klänge eines Musikstückes getragen, das gerade begonnen hatte.

Bei Gloria ging es letztendlich immer um Musik. Ihr tiefstes Weltbild bestand aus Klängen un nicht aus Bilder, wie bei mir. Ich sehe die Dinge immer vor meinem geistigen Auge wie ein Film oder ein Gemälde. Erst wenn ich etwas vor mir sehen kann, bekomme ich eine Verbindung damit. Gloria aber schien manchmal gar nichts zu sehen, als ob sie keine Augen hätte. Man brauchte sie nicht zu fragen, welche Kleider jemand am Tag hervor getragen hatte, denn sie würde es nicht wissen.

Ich bezweifle, ob sie irgendwann gesehen hat, dass meine Augen braun sind.