11.03.2008

Vortrag Essen. Über Macht und Freundschaft

Ich verstehe die Anthroposophie auch als einen Raum von Begriffen und Bildern, immer wieder neuen Begriffen und neuen Bildern, in denen sich unterschiedliche Willensrichtungen treffen und verständigen können. Um es mit einem Bild zu sagen: die Anthroposophie ist auch ein Saal mit klaren Spiegeln, die so aufgestellt sind, dass man sich selber und die anderen von allen Seiten sehen kann. Anthroposophie kann zu einem Verstehen führen, dass aus einem sich „rundum-bewegen“ gewonnen wird.

In meinem Vortrag heute Abend (12.03.2008) möchte ich versuchen, mich mit drei Gestalten in diesen Raum hinein zu begeben. Einer von diesen dreien hat sich auch Anthroposoph genannt, nämlich Bernard Lievegoed. Er hat mich bekannt gemacht mit dem Begriff der „Kultur des Herzens“. Die zwei anderen sind französische Philosophen, die im zwanzigsten Jahrhundert als Zeitgenossen in Paris gelebt und einander als Philosophen nicht besonders geschätzt haben: Emmanuel Lévinas und Michel Foucault.

Bernard Lievegoed war Arzt, Erzieher, Organisationsberater und Professor für Soziale Betriebswissenschaft. Im Rahmen meines Vortrages heute Abend könnte gesagt werden, dass einer seiner zentralen Anliegen das Folgende war: die Spannung zwischen der funktionellen Ebene und der allgemein menschlichen Ebene in der Zusammenarbeit zu beleuchten und zu bewegen. Lievegoed meinte, dass in der Zusammenarbeit nur dann spirituelle Ziele erreicht werden können, wenn die Menschen versuchen sich gegenseitig die Herzen zu öffnen.

Emmanuel Lévinas war der Philosoph der Begegnung. In seinem Buch „Zwischen uns“ spricht er von der „Perspektive der Heiligkeit“ in dem „Außer-sich-und-Für-den-Anderen“-sein. Er meinte, vereinfacht gesagt, dass das Leben erst dann an Bedeutung gewinnt, auch in religiösem Sinne, wenn wir uns durch den Anderen bewegen, verändern, bestimmen lassen. Das sogenannte „Ich“ des Menschen entsteht erst im Antlitz des oder der Anderen.

Michel Foucault war der Philosoph der Machtstrukturen. Er hat sich immer wieder die Frage gestellt, wie Menschen im doppelten Sinne zum Subjekt werden können: „subjektiviert“ in einer Unterworfenheit (als Sklave, als Angestellter, als Frau, als Bürger) oder gerade umgekehrt: als freies und kreatives Subjekt, als Person die ihre „Biographie wie ein Kunstwerk“ gestaltet. Sein ganzes Leben hat er versucht, sich von dem alten Begriff der Macht als einer düsteren Kraft-von-außen, zu befreien.

Francisco Ortega[i] fasst die Schlussfolgerung von Foucault folgendermaßen zusammen: „Foucault zufolge leben wir in einer Welt, in der die sozialen Institutionen dazu beigetragen haben, die Zahl der möglichen Beziehungen zu begrenzen. Der Grund dieser Beschränkung liegt darin, dass eine Gesellschaft, welche die Zunahme der möglichen Beziehungen zuließe, schwieriger zu verwalten und zu kontrollieren wäre“.

Am Ende seines Lebens (Foucault starb 1984) taucht in seiner Arbeit der Begriff Freundschaft auf. Er meint, dass die Freundschaft zu verstehen ist als eine Möglichkeit, der immer wirksamen Kraft der Macht aus Freiheit eine positive Bedeutung zu geben. Freundschaft wird damit auf einmal eine brisante soziale Einheit – ein Ort des Widerstandes und der Erneuerung. „Freundschaften zu knüpfen, heißt, Minoritäten entstehen zu lassen, die der Macht Widerstand leisten".

An dieser Stelle wird auf einmal die Arbeit von Lévinas relevant, weil er sich intensiv mit den Fragen der Beziehung beschäftigt hat. Wie ist eine Freundschaft zu leben, zu pflegen und vor allem zu gestalten? Was ist „zwischen uns“? Wie kann man von Angesicht zu Angesicht „sein“? Und: wenn man die Achse zwischen zwei Menschen als das Urphänomen des sozialen Lebens versteht, welche Bedeutung hat dann der dritte und vierte Mensch in der Beziehung? (Lévinas: So bald ein Dritter in der Beziehung auftaucht, braucht man Ethik.)

In einer Kultur des Herzens werden diese Themen aus der Sphäre der Selbstverständlichkeit geholt. Spannend ist dabei vor allem die Frage, welche Bedeutung die Freundschaft in institutionellen Zusammenhängen haben kann. In der Kneipe, mit einem Glas Bier, ist die Freundschaft relativ einfach zu handhaben – als Kollegen, beispielsweise in einem Lehrerkollegium, taucht sofort Widersprüchliches auf. In einer Kultur des Herzens geht es erst mal nicht darum, diese Widersprüche sofort aufzuheben. Die Aufgabe ist eher, an diesen Widersprüchen zu wachsen.

[i] Francisco Ortega, Michel Foucault, Rekonstruktion der Freundschaft, 1997, Wilhelm Fink Verlag, S.242

Mit dank an Sophie Pannitschka

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

und was sagt Lievegoed dazu? der gibt die Spielregeln in den kleinen und oder in den grösseren Gemeinschaften? Schreibst du da noch was, bitte?

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle!
Ich habe Dich in Essen gehört und es ist schön, zu hören, wie Du dasjenige benennst, was ich seit vielen vielen Jahren in mir erlebe und lange nicht verstanden habe. Ich meine die Spannung zwischen der Aufgabe/Rolle, die ich ausübe z.B. im Beruf und in der Familie und dem Gefühl einer Unzufriedenheit oder dem Gefühl, dass etwas Wichtiges fehlt in meinem Leben.
Wenn ich Dich richtig verstanden habe, könnte das, was da fehlt, mein Selbst
sein. Und in einer Kultur der Herzen geht es in der Zusammenarbeit und in
der Freundschaft darum, das Selbst sichtbar werden zu lassen und dann
gemeinsam zu versuchen, eine Beziehung zueinander zu finden, indem die
Menschen sich gegenseitig die Herzen öffnen.
Für viele Menschen ist es normal, dass man im Beruf eine Aufgabe/Rolle hat
und erst am Abend oder im Urlaub das Selbst erscheinen darf. Und dass diese
Menschen jedoch oft nicht wissen, dass und wie sie etwas ändern können.
Aber, dass es auf der anderen Seite nötig ist, etwas zu ändern, wenn es darum geht, in Schulen oder Familien unseren Kindern diese Spannung zwischen der Rolle/Aufgabe und dem Selbst verständlich zu machen, damit sie einen eigenen Umgang damit finden können.

Vielen Dank für Deinen Vortrag. Ich versuche weiterhin, jetzt noch verstärkt,
mich in Beziehungen zu öffnen. Auch wenn es nicht immer leicht ist, weil ich
durch die Öffnung auch verletzbar bin.
Herzliche Grüße, Birgitt