30.07.2011

Was ist am Menschen gemeinnützig? Über selbstlose Förderung

„Gemeinnützigkeit“, so besagt Wikipedia, „ist ein rein steuerrechtlicher Tatbestand“. Ich lese diesen Satz so, als hätte der Begriff der Gemeinnützigkeit nur im Rahmen des Steuerrechts eine Bedeutung. Laut deutschem Gesetz sind „Körperschaften“ gemeinnützig, „wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“.

Nur „Körperschaften“ können gemeinnützig sein – sie werden definiert als „mitgliedschaftlich verfasste und unabhängig vom Wechsel der Mitglieder bestehende Organisationen, die ihre Rechtssubjektivität nicht der Privatautonomie, sondern einem Hoheitsakt verdankt. Ihre Verfassung ist öffentliches Recht“.

Wenn eine „Körperschaft“ im Sinne des Gesetzes selbstlos arbeitet, braucht sie keine Steuern zu zahlen und darf Spendenbescheinigungen, die vom Finanzamt anerkannt werden, ausstellen. Wenn ich also einer Körperschaft hundert Euro spende, darf ich den Betrag von der Gesamtsumme der Einnahmen in meiner Steuererklärung abziehen. (Meine Schenkung bringt mir also einen Vorteil, der übrigens wesentlich geringer ist als der Betrag, von dem ich mich verabschiede.)

Mit „selbstlos“ ist gemeint, dass die betreffende Körperschaft keine (finanziellen) Gewinne nach sich zieht. Dass der Begriff „Selbstlosigkeit“ in moralphilosophischem Sinne weit über die finanzielle Ebene hinausgeht, spielt für das Steuerrecht keine Rolle. (Und weil das geschriebene Recht zurzeit das Denken in der Gesellschaft weitgehend beherrscht, hat der Begriff in der Öffentlichkeit kaum eine Wirkung.)

In einer Sitzung der Stiftung Soziale Zukunft (Treuhandstelle GLS) stellte mein Gesinnungsgenosse Johannes Stüttgen vor ein paar Wochen eine interessante Frage. Weil die Stiftung dringend Nachschub braucht – in manchen anthroposophischen und anthroposophisch angehauchten Kreisen scheint es nicht einfach zu sein, junge Menschen zu finden, die die Arbeit fortführen wollen. Ein Thema für sich... – waren wir gerade dabei, ein Treffen mit „jungen Leuten“ im Oktober vorzubereiten. Als Arbeitsthema für das Treffen schlug Johannes die Frage vor: „Was ist am Menschen gemeinnützig?“

Laut Steuerrecht kann es diese Frage gar nicht geben, weil sich Gemeinnützigkeit nur auf „Körperschaften“ bezieht, das heißt: Mit individuellen Personen kann und darf und soll sie gar nichts zu tun haben. In der öffentlichen Gesellschaft gilt allgemein, dass die „selbstlose“ Förderung von Personen den jeweiligen Familien, Freunden und Bekanntschaften überlassen wird. Um es präzise zu sagen: Als Bürger (als Subjekt des öffentlichen Rechts) kann ich eine Person nicht „selbstlos“ finanziell fördern, ich kann es nur als souveränes „Selbst“ (Laut Michel Foucault: eine Einheit, die nicht „subjektiviert“ ist).

Für die genannte Stiftung ist die Frage von Johannes Stüttgen allerdings wesentlich, weil sie gerade das Ungewöhnliche will: Mit finanziellen Schenkungen freie Personen fördern. Und wenn man das will, stellt sich die Frage: Was ist am Menschen gemeinnützig? Oder anders gefragt: Was am Menschen soll fürs Wohl der ganzen Gemeinschaft frei gefördert werden? Oder noch anders gefragt: Wenn mir nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen (die Mittel sind immer beschränkt, auch wenn man Bill Gates heißt), wie komme ich dann dazu, den einen Menschen zu fördern, den anderen aber nicht?

Um meine Launen, meine Sympathien und meine religiösen oder ideologischen Präferenzen kann es dabei nicht gehen. Auch kann Nützlichkeit, das heißt, der konkrete Vorteil einer bestimmten Förderung für die Gesellschaft, kein Thema sein. Ich muss in den betreffenden Menschen „etwas“ wahrnehmen, dessen Bedeutung über Lust, Ideologie und Nützlichkeit hinausgeht. Was könnte das sein?

Ich würde sagen, dass selbstlose Förderung nicht das „Subjekt“, sondern das „Selbst“ eines Menschen betrifft. (Über den Unterschied siehe meine Blogs über „Selbst und Subjekt“). Je stärker eine Person aus ihrem Selbst lebt und ihre Subjekte (den Bürger, die Mutter, die Lehrerin, den Künstler) von ihrem Selbst aus in Freiheit eine Richtung gibt, umso deutlicher tritt die Einmaligkeit eines Menschen ans Tageslicht. Foucault sprach an dieser Stelle davon, dass auf diese Art und Weise aus der Biographie ein Kunstwerk gemacht werden könne.

In einer Kultur des Herzens geht es um die Aktivierung des Selbst, vor allem auch im öffentlichen Bereich. Die selbstlose Förderung unseres Selbst ist nicht eine rein private Sache.

22.07.2011

Samuel ist unterwegs (5). Eine Spur bis zum Ende der Welt

Ich habe damals, als ich noch nicht geboren war, die Errichtung des Hauses, in dem ich meine Kindheit und Jugend in Arnhem verbringen würde, nicht bemerkt. Ich war auf einen anderen Ort orientiert, am gleichen Fluss auf eine andere Stadt, die in den Annalen wohl Colonia genannt wurde, auf einen Namen, der da oben nicht zur Sprache kam, weil es dort keine Wörter gab, und der nur Farbe war: grün und gelb und ein bisschen blau. Ich schaute ins Grün-Gelb-Blaue hinunter, suchte und suchte, fand aber kein Haus und keine Menschen, die meine Menschen waren, ich fand zwischen den Farben nur schwarze Löcher.

Die Menschen, die meine Menschen waren, gab es nicht mehr. Sie waren weggezogen. Vage meinte ich eine Spur ostwärts wahrnehmen zu können, eine Bewegung, die ich viel später – ich war bereits fünfzig – als einen Zug verstand, eine eiserne Schlange, die in einer dunklen Nacht Richtung Polen kroch, über Gleise und Weichen, die in verlässlicheren Zeiten festgeschraubt waren. Es ist noch nicht so lange her, dass ich den Ort fand, wo die Menschen, die meine Menschen waren, zusammen mit vielen anderen Menschen in den Zug getrieben worden waren, dort, an einem Ort, der heute Messe genannt wird. Die Uniformen der Verbrecher kenne ich nur von Bildern, nichtsdestotrotz gehören sie zu meinem Leben. Ich weiß, wie die Nazis gerochen haben.

Und irgendwo verlief sich die Spur auf einmal, als ob die Welt dort aufhörte, die Gleise und Weichen tragen konnte und meine Menschen noch haben wollte, eine Welt, die sich in ihr Gegenteil verwandelt hatte und zum Abgrund geworden war, zu einem Nichts – ich konnte da oben nicht einmal ein Flimmern oder ein Flüstern erahnen, das verraten hätte, wohin meine Menschen verschwunden waren, und was mit ihnen geschehen war. Meine Menschen waren sauber ausgelöscht worden, vom Tisch geschoben, in der Säure der Geschichte aufgelöst.

Das Haus meiner Jugend, in dem ich gelandet war, war nicht für mich gemeint. Es war eine zweite Wahl. Mein Leben fing mit einer Ausweisung an, die allerdings nicht dokumentiert war und ein unbeachtetes Ergebnis einer kalt durchgeführten Verschwörung bedeutete, eine Absage an mich und meine Menschen. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, warum mich bereits als kleines Kind das Schicksal der „Juden“ – alleine der Name dieses Volkes wirkte wie ein warnendes Signal an der Wand meiner Seele – immer wieder zur brennenden Frage wurde.

Meine Eltern konnten nichts dafür, dass sie die zweite Wahl waren; auch sie waren, ohne es zu wissen, in die Verschwörung eingebunden, wie gekrümmte Äste in einer Dornenkrone. Sie waren mir fremd, sie waren stachelig, ich konnte mich auf ihre Geschichte nicht einlassen, die Haut meines Vater war mir zu blass, seine Augen zu blau; und meine Mutter fasste mich nicht an, weil sie spürte, dass ich ein fremdes Küken war. Erst nach tausend Umwegen habe ich es verstanden: Meine Mutter war vom Rätsel ihres ersten Sohnes überfordert. Nicht, dass sie mich nicht geliebt hätte, sie konnte ihre Liebe nur nicht einordnen, weil sie immer mit einer ungreifbaren und schmerzvollen Frage einherging. Sie war jung, so jung, und nicht vorbereitet auf düstere Fragen. Ja, irgendwann in der Biographie muss es passieren: Deine Eltern werden deine eigenen Kinder.

Und mein Vater? Als er jung, so jung war, hat der Niederländische Staat ihn zu einem Soldaten gemacht und ihn nach Indonesien geschickt, ihn eingebunden in eine andere Verschwörung, die in meiner Jugend nie thematisiert werden durfte, weil die Lügen und Verbrechen offenbar waren. Soldat ist er immer geblieben, seine Treue hat nie nachgelassen; sein Gott durfte sich nie auf die Feinde ausweiten, liebevoll und großzügig sein, wie es doch unmissverständlich die Heilige Schrift vorschrieb. Mein Vater hatte sein Herz in Indonesien verloren. Und als er zurückkam und ich geboren wurde, hat er es sofort gespürt: Meine Loyalität galt nicht ihm, nicht seinem Gott, nicht seiner Geschichte, nur seinen Schriften. Ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um ihn lieben zu lernen.

16.07.2011

Samuel ist unterwegs (4). In einer Wunde des Krieges

Arnhem – Utrecht – Amsterdam: Horizontale Trinität in meinem Leben, eine Bewegung von einem sich öffnenden Anfang über eine geschlossene Mitte bis zu einem sinkenden Ziel. Ich sage es heute: Amsterdam ist dabei zu versinken, entfaltet seine letzten Kräfte im Geschehen eines langsamen Verschwindens, versucht jedoch definitiv Schiff zu werden, sich von innen aus beständig zu machen, um irgendwann mal als Gesamtheit auszufahren, dorthin, wo ihre Gründer, die Wikinger, stolz auf festen Felsen lebten. Der Versuch dürfte allerdings scheitern, weil die Stadt – hat Rembrandt es uns nicht gezeigt? – ihr Gold nur im Versinken findet.

In Arnhem bin ich aufgewachsen. Der Name bedeutet: Ort wo die Adler zu Hause sind. Und so ist es auch: eine Jugend in dieser Stadt führt dazu, dass man sich über die klaren Bäche, die sanften Hügel, die sandigen Pfade und die Lichtungen im Wald erhebt, einen in die Höhe gefestigten Blick entwickelt, der auf Überblick und Zusammenhang ausgerichtet ist. Nur der Adler ist in Arnhem wirklich zu Hause, alle anderen Tiere sind Gäste.

Die Adler sind jedoch längst verschwunden – aber wohin? – und haben den Menschen das Adlerbewusstsein überlassen, dieses In-Kreisen-Schweben, diesen Weitblick zu haben, um das Eine und Einmalige irgendwann einmal greifen zu können. Was es noch gibt, sind die Hügel und die Bäche, die Pfade und die Lichtungen, und auch die Geister, die ihr Verbleiben tief in der Veluwe haben, sich manchmal in die nördlichen Gegenden der Stadt wagen, und in den Menschen vage Sehnsüchte wecken, stille Gefühle, die mit den geräuschlosen Trolleybussen übereinstimmen.

Die Straße, in der ich lebte, ist etwa einen knappen Kilometer lang und läuft gerade von den sich im Stillstand bewegenden Hügeln im Norden bis zu der flachen und sich in der Weite verlierenden Rheinebene im Süden. In diesem Übergang tritt das Wasser ans Tageslicht, in Bächen, Teichen und Quellen, verlässt die verbergende Sauberkeit den Sand und bietet sich den Forellen, Karpfen und Schwänen an, den Millionen Stichlingen auch, die mühelos Generation auf Generation hervorbringen und irgendwie wissen: Für die Nachkommen müssen wir verlässlich da sein.

Sauberes Wasser, das aus einem dunklen Untergrund an die Oberfläche sprudelt, um von einer hohen Warte heraus bemerkt zu werden: Hat Arnhem nicht dieses Grundbild in meine Seele eingeschrieben? Bin ich nicht immer noch dabei staunend und begierig auf das Klare zu schauen, das aus einer Tiefe himmelwärts hoch sickert, um letztendlich von dem großen Fluss, dem allmächtigen Strom mitgenommen zu werden, bis zum Ozean, wo alles Wasser wieder in sich kehrt, und sich in einer Unendlichkeit verliert?

Arnhem vollzieht sich noch immer in mir. Und das gilt auch für die Schlacht, die sechs Jahre vor meiner Geburt in der Stadt wütete, als die Alliierten mit Fallschirmen kamen und – noch schwebend zwischen Himmel und Erde – von den deutschen Soldaten wie Rebhühner abgeschossen wurden. Die verzweifelten jungen Männer, die Jagenden und die Gejagten, tobten noch immer herum. Ich bin ihnen als Kind begegnet, gerade auch dort wo die Wohnung war, in der ich mit meinen Eltern und Geschwistern lebte. Gerade an dieser Stelle explodierte eine kräftige Bombe, und in diese Wunde wurde kurz vor meiner Geburt das Haus meiner Jugend gebaut.

08.07.2011

Nochmals über das Selbstbewusstsein. Der Übermensch von Nietzsche

Unser Selbstbewusstsein scheint uns aus einem dunklen Untergrund hervor gegangen zu sein, den wir „Körper“ nennen könnten, oder „Materie“ oder „göttlichen Urgrund“ oder eben (wie Nietzsche gelegentlich meinte) „eine Krankheit“, oder einfach „Welt“.

Das Selbstbewusstsein scheint einerseits in komplexe Vorgänge eingebettet zu sein, die wie ein ständiger Geburtsgrund zu verstehen sind, vollzieht aber andererseits sofort nach seiner Geburt eine negative Emanzipierung: Es dreht sich quasi hundertachtzig Grad um, schaut wie Orpheus in die Unterwelt, die er gerade hinter sich gelassen hat, und versucht sich davon adäquate Vorstellungen zu machen.

Was das Selbstbewusstsein dann allerdings zu sehen bekommt, sieht aus wie ein sich zurückziehendes Gespenst: seine Geliebte Eurydike, die im Nebelhaften verschwindet. Gerade das, was ihm vertraut ist, versinkt im Dunkel. Und weil das Selbstbewusstsein in der Welt keinen Halt findet, durch das es hervorgerufen wird, gerät es in einen merkwürdigen Zustand. Es konstruiert ununterbrochen Gedanken, die es, wenn es ehrlich ist, ständig wieder dekonstruieren muss.

Den EINEN Gedanken, der ihm seinen Platz in der Welt erklärt, findet er nicht.

Positiv formuliert könnte man allerdings über den Menschen am Abgrund sagen: Er ist uns ein Rätsel. Dank Friedrich Nietzsche ist dieses Rätsel schon von Anfang an grundsätzlich von psychologischen Spekulationen und moralischen Ansprüchen frei, und damit paradoxerweise unantastbar.

Bemerkenswert ist, dass Nietzsche in seinen Texten immer zwischen den beiden Positionen, der negativen und der positiven, hin und her schwankt. Er scheint zu wissen, dass es sinnlos ist, dem Leben einen gegebenen Sinn abzuverlangen, scheint aber zu wollen, dass er irgendwann einmal vom Gegenteil überzeugt wird.

Und stärker noch wagt er zu denken: Wenn das Leben bis zum heutigen Tag angeblich sinnlos war, können wir ihm vielleicht noch heute dadurch einen Sinn verleihen, dass wir ihm von uns aus die Bedeutung zuschreiben, die wir ihm zuschreiben wollen.

Der Mensch, der dementsprechend tut was er will, heißt bei Nietzsche bekanntlich „der Übermensch“. Der Versuch – Kern des postmodernen Denkens – die Frage der Bedeutung des Lebens in den Bereich des menschlichen Wollens zu verlagern, prägt das wollende Denken oder das denkende Wollen Nietzsches.

02.07.2011

Quantensprung des Bewusstseins. Nicht reflektieren, sondern initiieren

Die direkte und unumgängliche Erfahrung, dass am Menschen so etwas wie Bewusstsein haftet, hat zu der weit verbreiteten Vorstellung des Unbewussten geführt. Unbewusst ist alles das, was nicht bewusst ist. Und bei fast allen modernen und postmodernen Philosophen herrscht der Gedanke, dass das Unbewusste den Grund für das Bewusstsein ausmacht: Erst gab es das Unbewusste, dann kam das Bewusste hinzu.

Gerade dasjenige, was wir nicht direkt erfahren, wird also als Geburtsgrund unseres Bewusstseins verstanden. Dieser Umstand lässt sich mit dem Wasser eines Baches vergleichen. Wir wissen, dass der Bach eine Quelle hat, die irgendwo unter der Erde verborgen sein mag. Wenn wir wollen, können wir uns aufmachen, um sie ausfindig zu machen, und irgendwo, zum Beispiel in den Bergen, werden wir die Stelle finden, wo das Wasser ins Tageslicht dringt. Und wir sagen dann: „Hier fängt der Bach an!“

Von der entdeckten Quelle des Baches als dessen Anfang zu sprechen, ist allerdings nur sehr beschränkt richtig. Es ist gar nicht festzustellen, woher das Wasser letztendlich kommt: Von unten als Quellwasser oder von oben als Regenwasser? Von links oder von rechts? Ist zum Beispiel der Ozean letztendlich als Anfangsreservoir oder als finales Sammelbecken zu betrachten? Das Wasser hält sich überall auf, hat keinen Anfang und kein Ende, strömt manchmal mächtig, verliert sich manchmal hilflos im Sande, sprudelt hier, ruht dort, fließt oder hält inne, schmeckt süß oder salzig.

Mit dem Bewusstsein ist es nicht anders. Der hartnäckige Gedanke, dass das Bewusstsein aus den ungeheuerlichen (Nietzsche) Untergründen des Lebens hervorgeht, ist eine reine Annahme, eine Vorstellung des Bewusstseins, das offenbar meint, sich in seinem unvermeidlichen Zustand des Schwebens selbst nicht handhaben zu können. Der moderne Mensch ist deswegen als eine paradoxe Erscheinung zu beschreiben: Er traut sich nicht zu eine Verankerung darin zu finden, was ihn bestimmt, nämlich in seinem Selbstbewusstsein.

Das moderne Selbstbewusstsein ist als eine offene Wunde zu verstehen. Was allerdings weh tut, ist nicht das Bewusstsein selber, sondern der Schatten – der Rand der Wunde – der durch das Licht des Bewusstseins sichtbar und spürbar wird. Das rätselhafte Anecken an das Dunkle, das Fremde, ja, das Ungeheuerliche-der-Welt, an alles das, was „Ich“ offenbar nicht bin, was irgendwie in meinem spontanen Akt der Selbstfindung ausgeklammert werden muss, erzeugt einen tiefen Schmerz (der übrigens, wenn wir ihm in uns nachgehen, sowohl salzig als auch süß schmeckt).

Zurzeit wird in spirituellen Kreisen davon gesprochen, dass die Menschheit in Bezug auf das Selbstbewusstsein vor einer Art „Quantensprung“ steht. Ich glaube, dass das stimmt. In unterschiedlichen Diskursen gibt es diesbezüglich unterschiedliche Sprachregelungen, die ich hier nicht diskutieren kann und will. In meiner Sprache sieht dieser Sprung jedoch wie die Heilung einer Wunde aus, die den Menschen zu einem freien Weltbürger gemacht hat.

Der Sprung ereignet sich nicht dadurch, dass das Bewusstsein vom Ungeheuerlichen wegspringt, sich sozusagen umdreht und „in die Höhe“ weg katapultiert, sondern dadurch, dass es mit sich selber verschmilzt, sich mit seinem Zustand des Schwebens quasi „versöhnt“. Der Sprung scheint mir darin zu liegen, dass das Bewusstsein sich als eine frei schwebende Verankerung versteht, gleichzeitig als Nullpunkt und als Umkreis, als eine Erscheinung, MEINE Erscheinung, die wie das Wasser tausend Gesichter hat. Das neue Bewusstsein erlebt: Mit mir fängt die Welt an, egal wo ich mich befinde, egal wie ich mich verhalte, egal was ich „denke“.

Das Bewusstsein springt in sich selbst, und somit in die ganze Welt, oder besser gesagt: springt in alles. Für das menschliche Bewusstsein wird die Erfahrung entscheidend, dass nichts „existiert“, ohne dass es „dabei“ ist. Eine Blume, eine Landschaft, eine Begegnung oder ein Geschehen wird erst dann als Blume, Landschaft, Begegnung oder Geschehen vollständig, wenn das Bewusstsein des Menschen sich dafür aufschließt.

Nicht das Unbewusste hat das Bewusste hervorgezaubert, das Bewusste hat das Unbewusste kreiert. Das neue Bewusstsein wird sich als eine Kraft verstehen, die stiftend in der Welt wirksam ist. Nicht nur, dass das Unbewusste aus seinem Schlaf erweckt wird, es wird darüber hinaus zu einer Bestimmung geführt, die noch nicht vorhanden war. Das menschliche Bewusstsein wird bestimmen, was Blumen, Landschaften, Begegnungen und Geschehnisse ausmachen.

Es spiegelt oder repräsentiert nicht nur, sondern es gestaltet. In diesem Sinne ist auf Martin Heidegger zurückzugreifen, der vom Denken-als-Ereignis sprach. Das neue Bewusstsein verlegt sich von den geschlossenen Köpfen in die offenen und beteiligten Herzen der Menschen, was ja bedeutet, dass es sich als souveräner Erzeuger von Ereignissen ernst nimmt. Statt zu reflektieren macht ein Initiieren seine wesentliche Tätigkeit aus.