27.06.2008

Wer sind denn eigentlich meine besten Freunde?

Wie viele Freunde habe ich? Als ich diese Frage beantworten wollte, enstand in weniger als zehn Minuten eine Liste von etwa zwanzig Personen. Ich hätte die Liste noch länger machen können, war aber darüber in Zweifel geraten, welche Kriterien ich eigentlich einsetzte. Um eine Sicht auf die spontanen Kriterien zu kriegen, habe ich dann mit Hilfe dieser Liste versucht eine Art Reihenfolge aufzustellen. Die Frage verwandelte sich: wer sind meine besten Freunde?

An der Spitze der Liste stehen nun fünf Personen. Nummer sechs, sieben und acht würde ich „ganz gute“ Freunde nennen, aber nicht „beste“ Freunde. An dieser Stelle scheint es also einen Unterschied zu geben. Irgendwie scheint es Freunde zu geben, die ich klar als meine „besten“ Freunde verstehe, und abgesehen davon „ganz gute“ Freunde, die aus irgendeinem Grund doch ein bisschen „weniger“ Freunde sind. Wenn ich in dieser Art und Weise weiter auf die Liste schaue, tauchen auch noch „gute“ Freunde und „ganz gute Bekannte“ auf. Alles was über zwanzig Menschen hinausgeht, würde ich einfach „gute Bekannte“ oder eben „Bekannte“ nennen. (Übrigens: meine Lebensgefährtin habe ich spontan nicht aufgelistet. Eine Frage für sich: Was ist der Unterschied zwischen Freunden und Geliebten?)

Heute möchte ich versuchen folgende Frage zu beantworten: haben die Beziehungen zu den fünf „besten“ Freunden etwas gemeinsam? Gibt es Gemeinsamkeiten?

Erst einmal stelle ich fest, dass es um drei Männer und zwei Frauen geht. Die Männer sind alle ungefähr so alt wie ich, zwischen fünfzig und sechzig. Die beide Frauen hingegen sind um einiges jünger bzw. älter. Die berufliche Tätigkeiten diese fünf Menschen liegen weit auseinander. Alle fünf haben Kinder, drei leben innerhalb einer Familie, zwei leben getrennt.

Alle fünf Freunde kenne ich schon länger. An dieser Stelle fällt mir eine signifikante gemeinsame Gegebenheit ein, die Tatsache nämlich, dass die Begegnung mit allen fünf Freunden direkt oder indirekt mit einem Buch von Bernard Lievegoed[i], das ich 1993 veröffentlicht habe, zu tun hat. (Einen der Freunde kannte ich schon vorher als „guten“ Bekannten – im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten, die mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängen, ist er dann später ein „bester“ Freund geworden.) Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Buch und meine Beziehung als Herausgeber dazu, eine Wende in mein Leben gebracht haben. Die fünf Freunde haben mit dieser Wende zu tun, ja gingen gleichsam aus ihr hervor.

Es gibt aber natürlich auch noch viel mehr Leute, die ich über das Buch von Lievegoed kennengelernt habe. (Und natürlich auch viele, die gar nichts mit dem Buch zu tun haben.) Was macht also diese fünf Freundschaften aus, was bringt mich dazu zu sagen, dass sie meine besten Freunden, meine wichtigsten Freundschaften sind?

Heute meine ich drei Aspekte zu erkennen. Der erste ist, dass sie mich sehen & verstehen & unterstützen als jemanden mit einer Aufgabe, die zwar mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängt, gleichzeitig aber eigenständig mit meiner eigenen Biographie verbunden ist. Eigentlich müsste ich sagen, dass diese fünf das in gewisser Hinsicht besser verstehen oder verstanden haben als ich selbst. Sie haben mich mir und anderen gegenüber energisch & positiv & erwartungsvoll „vertreten“. Ich würde sagen, dass ich aus diesen fünf Freunden hervorgegangen bin. Sie wollten und wollen, dass ich wurde und werde, was ich in ihren Augen schon war und bin. Uneingeschränkt wollten und wollen sie das Gute für mich.

Und umgekehrt war und ist genau das Gleiche der Fall. So unterschiedlich die fünf Freunde sind, in mir rufen sie alle eine Art Sehnsucht hoch: ich möchte & wünsche mir & will, dass sie blühen. Und ich verstehe diesbezüglich meine eigene Person als Partner und meine Biographie & Fähigkeiten & Möglichkeiten als Dünger. Oder vielleicht ganz anders und besser gesagt: die Sehnsucht danach, meine Freunde erblühen zu sehen, erzeugt in mir die Kraft & die Bereitschaft & die Kreativität mitzutanzen.

Ein zweiter Aspekt hat damit zu tun, was wir Vertrauen nennen. Ich glaube, ich kann gar nichts dazu sagen, warum zwischen mir und gerade diesen fünf Menschen ein uneingeschränktes Vertrauen herrscht. (Um ehrlich zu sein: ich wüsste nicht einmal, was Vertrauen eigentlich ist. Liebe?) Aber klar ist, dass wir gegenseitig bereit sind (oder den Wunsch haben, oder die Entscheidung getroffen haben), alle lichten und dunklen Aspekte des Lebens im Lichte der Sehnsucht-nach-dem-Erblühen zu sehen. Ohne Vertrauen geht das nicht.

Und ein dritter Aspekt ist, dass diese Freundschaften auch lebendig existieren, wenn wir einander länger nicht sehen oder sprechen. Eigentlich ist die Freundschaft gar nicht davon abhängig, ob wir einander öfters treffen oder nicht. Denn die fünf Freunde sprechen & klingen & agieren in mir. Ich kann mit ihnen innerlich „reden“, und das über alle Themen, die in meinem Leben anstehen. Und ich mache das auch.

Interessant ist dabei übrigens, dass in dieser Hinsicht jede freundschaftliche Verbindung eine Welt für sich darstellt. Freund A redet auf seine Art und Weise über ganz bestimmte Aspekte des Lebens mit mir, während Freund B das auf eine andere Art und Weise und über andere Aspekte des Lebens tut. Jede Freundschaft hat eine bestimmte Signatur, jeder Freund hat seinen eigenen Blick und seine eigene Landschaft.



[i] Bernard Lievegoed: Über die Rettung der Seele. Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1994.

18.06.2008

Verdattert & verdutzt & baff & von den Socken. Übers Klauen. Und mein Fahrrad

Ich bin Holländer, und das heißt, dass ich etwas von Fahrrädern verstehe. Ein Fahrrad ist nicht nur ein billiges Transportmittel, sondern weit darüber hinaus auch ein Übungsinstrument für die Seele. Auf dem Fahrrad balanciert man zwischen Himmel und Erde. Und: gerade dadurch, dass man sich mit einer gewissen Leichtigkeit fortbewegt und ständig ein bisschen nach links und sofort auch wieder ein bisschen nach rechts schwenkt, bleibt man in der Mitte. Anders gesagt: dadurch, dass man andauernd ein kleines bisschen zur falschen Seite kippt, ist man grundsätzlich in der richtigen Spur.

So far, so good.
Letzte Woche ist mir etwas passiert, wovon ich unbedingt erzählen will. Ich war mit Freunden in einer Kneipe in Köln. In einer anderen Kneipe, mit dem Fahrrad nicht mehr als fünf Minuten entfernt, saßen ein paar andere Freunde. Die beiden Grüppchen hatten – zusammen mit noch einer Menge anderer Leute – den ganzen Tag gemeinsam gearbeitet. Thema: Erziehung. Und jetzt war Feierabend. Ich wollte in der ersten Kneipe kurz mit meinen dortigen Freunden sprechen und dann mit meinem Fahrrad zur zweiten Kneipe fahren, um dort den Abend fortzusetzen. Mein Fahrrad stand draußen, allerdings nicht verschlossen, weil meine Freundin das Schloss mitgenommen hatte.

Als ich zur zweiten Kneipe fahren wollte, war mein Fahrrad verschwunden. Geklaut, entwendet, einfach weg. (Das ist in Köln ganz normal.) Es ist ganz komisch: wenn man irgendwo sein Fahrrad erwartet, und es nicht da ist, wirkt die Stelle auf einmal sehr-sehr-sehr leer. Ich sollte schreiben: LEER. Ich schimpfte ein bisschen vor mich hin. Und war schon so ein bisschen verärgert. Und ich dachte: na ja, Jelle, du hast dein Fahrrad nicht abgeschlossen, eigene Schuld also. Und ich dachte auch: jetzt sollst du also ohne dein Übungsinstrument zu Fuß weiter gehen, ohne andauernd ein bisschen nach links und nach rechts schwenken zu können. (Ich finde das als Holländer nämlich sehr angenehm.) Und ich sagte mir: Du wirst auch zu Fuß den richtigen Weg finden.

In der zweiten Kneipe warteten meine Freunde schon auf mich. Ich setzte mich neben meine Freundin und sagte: „Mein Fahrrad ist geklaut worden. Scheiße!“ Und meine Freundin sagte sofort: „Schon wieder? Scheiße!“ Ich meckerte eine Weile, beschimpfte den unbekannten Dieb und meinte, dass das Leben in Köln nun einmal nicht ohne Risiken wäre. Dann aber sagte einer meiner Freunde am Tisch: „Jelle, war das rechte Bremsseil deines Fahrrads kaputt?“ Ich verstand gar nicht, worum er das fragte, sagte aber: „Ja, das stimmt, das Bremsseil war aus der Halterung gesprungen.“ Und dann sagte mein Freund: „Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen!“

Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen? Ich verstand überhaupt nicht was er meinte. Ein zweiter Freund aber stand sofort auf und ging raus. Der erste Freund, der so rätselhaft von dem rechten Bremsseil gesprochen hatte, nickte mir zu und sagte leise: „Jelle, geh raus und rede mal mit Wolfgang“. (Den Namen habe ich geändert.) Ich verstand aber noch immer gar nichts & wollte nicht raus & sowieso nicht mit Wolfgang über das rechte Bremsseil reden. Ich blieb also wo ich war.

Als deutlich wurde, dass ich bestimmt nicht raus gehen würde, wiederholte mein Freund: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Verdattert sagte ich: „Wieso nicht?“ „Nun ja“, sagte er mit einem Grinsen-zwischen-Freude-und-Angst, „weil wir gerade ein Fahrrad mitgenommen haben, das wir nicht weit von hier bei einer Kneipe ohne Schloss vorfanden und...“ Er schwieg und ich beendete den Satz: „...dessen rechtes Bremsseil kaputt war.“ Er nickte und grinste. „Vermutlich haben wir dein Fahrrad mitgenommen“, sagte er noch verlegen. „Es steht hier direkt um die Ecke.“

„Mitgenommen?“ sagte ich, „mitgenommen? Ich würde sagen: ihr habt mein Fahrrad geklaut. Nicht mitgenommen. Geklaut. Gestohlen. So nennt man das.“ „Nun ja“, sagte er beruhigend, „du hattest dein Fahrrad nicht abgeschlossen“. Und ich: „Das heißt aber nicht, dass mein Fahrrad auf einmal euch gehört. Auch ohne Schloss gehört mein Fahrrad mir.“ Und er wieder hoffnungsvoll grinsend: „Sei doch froh, dass du dein Fahrrad wieder zurück hast.“ Und dann auch noch: „Sei froh, dass wir es dir so ehrlich erzählen. Wir hätten auch schweigen können – du hättest es nicht gemerkt!“ Der letzte Satz war ein Hammer für mich.

Mittlerweile hatten die anderen Freunde am Tisch mitgekriegt was los war. Das Geschehen wurde gnadenlos heiter & beglückt & begeistert aufgenommen. Alle waren sich einig, dass etwas ganz Wunderbares & Interessantes & Einzigartiges geschehen war. Und meine Freundin sagte mir: „Jelle, das ist doch ein richtiges Ereignis!“ Ich aber war verdattert & verdutzt & bestürzt & verblüfft & perplex & platt & von den Socken & sprachlos & baff & wie begossen & konsterniert & durch den Wind & und so weiter und so fort. (Wunderbar, all diese deutschen Wörter, die ich so unheimlich mag.)

Und ich dachte. Ich fing richtig an zu denken. Nachzudenken. Ich dachte so viel, dass ich das alles nicht sofort einordnen konnte. (Und genau das heißt es ja, verdattert & verdutzt & baff zu sein.) Der Grund lag in dem Folgenden: Es war nicht das erste Mal, dass mir mein Fahrrad gestohlen wurde. In Amsterdam habe ich das bestimmt zehn Mal erleben müssen – und in Köln auch schon ein paar Mal. Ein Fahrrad zu haben und beklaut zu werden, gehört irgendwie zusammen. In all den vorangegangenen Fällen war der Dieb aber anonym geblieben und mit meinem Fahrrad in das Schattenreich seines Lebens verschwunden.

Aber heute saß der Dieb auf einmal vor mir. Und er grinste. Und was noch viel krasser war, er ist ein Bekannter von mir. Und dann noch: er versuchte mich zu beruhigen. Und noch heftiger: er verteidigte sich. Und er sagte genau das, was ich mir selber gesagt hatte: es ist deine eigene Schuld. Und er grinste wieder und immer weiter. Und er rühmte sich, wegen seiner Ehrlichkeit. Und meinte sogar mit dem Mut eines Verzweifelten: du hast ein paar gute Gründe froh zu sein. Und er hatte offensichtlich Recht, weil ich nicht nur verblüfft & platt & von den Socken war, sondern irgendwie auch froh & heiter & glücklich. Und heute, fast eine Woche später, denke ich: es war ein richtiges Ereignis. Gut, dass es Diebe & Fahrräder & all diese wunderbare deutschen Wörter gibt. Und, gut dass es Freunde gibt.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

11.06.2008

Über die intensive Beziehung zwischen mir und meinen Feinden

(Über Kommentare freue ich mich sehr. Ich verstehe meine Blogsite als eine Werkstatt mit offener Tür – und es macht richtig Spaß, wenn Leute da hereinkommen, einfach zuschauen oder sogar mitmachen.) In einem der Kommentare schreibt ANONYM: „In welchem Verhältnis stehen Freundschaft und Feindschaft zueinander?“

Ich kenne zwei Arten von Feinden. Der erste Feind ist von Anfang an ein Feind. Sobald er oder sie in mein Leben tritt, sehe & erkenne & fürchte ich ihn oder sie als Feind oder Feindin. Aus irgendeinem Grund ist mir sofort klar, dass dieser Feind mir im Weg steht. Ich spüre, dass er nicht will, dass ich so bin, wie ich bin – er will eigentlich überhaupt nicht, dass ich existiere. Und umgekehrt genauso: ich will nicht, dass er existiert. Ich könnte sagen, dass dieser Feind mir von Anfang an „unsympathisch“ ist – in Wirklichkeit geht meine Abwehr aber noch darüber hinaus. Eigentlich wünsche ich mir, dass er einfach irgendwie „verschwindet“. Ohne ihn scheint mir die Welt besser zu sein.

Der zweite Feind war einmal ein Freund. Es gab einmal eine Nähe zwischen mir und ihm, ein Vertrauen, ein gemeinsames & offenes & faires & warmes hin-und-her-bewegen, also eine lebendige Beziehung. Dann aber geschah „etwas“ und auf einmal ist ein Bruch entstanden. Die Beziehung ist um-ge-kippt und hat sich in sein Gegenteil verwandelt. So ein Bruch hat immer mit Vertrauen zu tun; aus irgendeinem Grund ist die Sphäre der Intimität zerstört worden.

Weil für mich sowieso noch eine Frage ist, wann man von „Freundschaft“ sprechen kann (ja, wieviele Freunde habe ich eigentlich? Aristoteles meinte, dass es nicht zu viele sein sollten!), benutze ich das Wort in diesem Text un-eigentlich; das heißt, ich schreibe von „Freundschaft“ ohne genau zu wissen, was sie beinhaltet. Und das gilt genauso für das Wort „Feindschaft“. Spontan und naiv sage ich heute: Feinde sind Leute, die aktiv verhindern wollen, dass ich mich glücklich entfalte. Freunde jedoch wollen einen Beitrag daran leisten, dass ich glücklich werde - Feinde wollen gerade das Gegenteil.

Ein Ding scheint mir sicher zu sein: Genau wie meine Freunde, gehören meine Feinde zu mir. Damit meine ich, dass mich beide bis in meinen innersten Kern „mit-gestalten“. Feinde werfen ein Licht auf meine Person, auf dieses ungreifbare & wunderbare & erbärmliche Gefüge, dass eine spannungsvolle und immer verwirrende Mischung ist zwischen dem, was ich bin und dem, was ich meine zu sein. Meine Feinde unterscheiden zwischen Schein und Wesen in mir, und werfen vor allem ein Licht auf das Scheinbare. Der Blick meiner Feinde erzeugt die Vermutung, dass in mir gar nichts Wesentliches vorhanden ist.

Aus diesem Grund rede ich innerlich ständig mit meinen Feinden. Auch wenn ich äußerlich nicht einmal einen Kaffee mit so jemandem trinke, bin ich in der Sphäre, in der ich scheinbar alleine mit mir bin, intensiv mit meinen Feinden beschäftigt. Und die Gespräche die ich mit ihnen führe, sind aufschlussreich. Ich meine, dass es in diesen inneren Dialogen letztendlich immer um die Frage geht (mit Bob Dylan): „What good am I?“

Ich verteidige mich. Ich greife an. Ich entkräfte Argumente. Ich beharre immer wieder darauf: nein lieber Feind, so ist es nicht gelaufen – es ist SO gelaufen. Ich konstruiere & rekonstruiere & dekonstruiere die Geschichte. Und ich sage: du verstehst mich nicht. Und vor allem: ich hingegen verstehe dich durch und durch... Und manchmal sage ich sogar: ich verstehe dich nicht, weil man dich nicht verstehen KANN – du bist ja völlig und völlig daneben. (Neben was eigentlich?) Und dann schweige ich. Ich sage gar nichts mehr. Ich erkläre meinen Feind für tot & irrelevant & erbärmlich. Und ich sage meinem Freund: weißt du, mein Feind tut mir richtig leid...

Zwischen mir und meinem Feind gibt es also eine intensive Beziehung. In dem Film Novecento - 1900 zeigt Bertolucci wie man in der Freundschaft und in der Feindschaft gleichermaßen miteinander verschränkt ist. Am Ende des Filmes stehen die zwei alten Freunde/Feinde Robert de Niro und Gerard Depardieu auf einem Landweg einander gegenüber und schwingen ihre Stöcke. Das unvergessliche Bild zeigt, dass die beiden zueinander gehören und auseinander hervor gegangen sind.

What good am I? Oder auch: wie schlecht bin ich? Oder auch: sprechen meine Feinde die Wahrheit über mich? Für heute meine ich: ja und nein. Ich sage heute: man muss in seinem Leben Entscheidungen treffen – ein Leben ohne Entscheidungen ist keine Biographie. Und ohne Entscheidungen hat man keine Feinde, leider aber auch keine Freunde. So groß & bedeutungsvoll & strahlend & bestürzend Entscheidungen sein können, sie sind aber immer per definitionem beschränkt. Die Verantwortung für seine Entscheidungen zu nehmen, heißt ja auch, aufzuhören sich gekränkt über die Tatsache zu wundern, dass man Feinde hat.

04.06.2008

Mein erster Freund war ein Verstorbener. Über Rogier

Ein erstes Gespür für Nähe zwischen mir und jemand anderem entstand in mir, als plötzlich mein Schulkamerad Rogier starb. Er war mit seinem Fahrrad mitten auf einer Kreuzung stehen geblieben und ein Lastwagen konnte nicht mehr ausweichen. Auf der Beerdigung sagte der Pfarrer: „Jetzt ist Rogier bei Gott“. Der Begriff Gott war mir wohl vertraut – Gott war da ganz oben im Himmel; und bei ihm waren die verstorbenen Menschen, die in Übereinstimmung mit seinem Wollen gelebt hatten.

Zwischen mir und Rogier war die Welt immer in Ordnung gewesen. Er war klein, hatte große blaue Augen, sagte wenig und wollte immer spielen. Obwohl wir nicht in die gleiche Klasse gingen, trafen wir uns immer wieder auf dem Spielplatz der Schule um einander Tennisbälle zuzuwerfen. Ich meine mich zu erinnern, dass Rogier die Bälle immer so warf, dass ich sie leicht fangen konnte. Und weil Bälle fangen nicht so direkt meine Spezialität war, habe ich mich über das erfolgreiche Spiel immer gefreut.

Viel zu besprechen hatten wir nicht. Ich glaube, dass wir beide schweigsame und träumerische Kinder waren, die bis dahin die entscheidende Bedeutung von Auseinandersetzung, Kampf und Reibung noch gar nicht verstanden hatten. Die Welt war für uns beide in Ordnung, wenn wir es schafften, ungestört Bälle zu werfen und zu fangen. Wir brauchten nachher nicht einmal zu sagen: „Morgen wieder?“ Wir wussten einfach, dass wir es morgen wieder machen würden, wenn das Leben es uns ermöglichte.

Und dann war Rogier auf einmal nicht mehr da. Er war bei Gott. Dass er nicht mehr da und bei Gott war, hieß aber nicht, dass er nicht mehr da war. Er hatte auf dem Spielplatz eine leere Stelle hinterlassen, ein Vakuum, das seine Existenz deutlich bemerken ließ. In den ersten Wochen nach seinem Tod schien es mir so zu sein, dass Rogier fast noch nachdrücklicher anwesend war als vorher. Hätte ich damals die richtigen Worte gehabt, hätte ich gesagt: „Gerade weil er nicht da ist, spüre ich seine Nähe“.

Und in dieser Nähe geschah etwas. Rogier wurde in meine träumerische Innenwelt aufgenommen. Monate lang erschien er als Akteur auf meiner inneren Bühne, sprach entschieden von diesem und jenem, erlebte Abenteuer mit mir, machte Reisen mit mir. Er war immer dabei, wenn ich den langen Fußweg von der Schule nach Hause ging, an den Teichen entlang, wo ältere Herren saßen, rauchten und angelten. Ja, diese Herren: ich hatte mit keinem von ihnen je ein Wort gesprochen, meinte aber genau zu wissen, dass sie alle etwas Großes und Unbekanntes vorhatten. Und dankbar wusste ich, dass es ein Privileg war, die Herren beobachten zu dürfen. Was sie genau vorhatten? Ich hätte es nicht sagen können.

Und ich teilte mit Rogier all meine Geheimnisse, wovon es damals eine ganze Menge gab. Er wusste von meiner fast unerträglichen Faszination für die wunderbare und unberührbare Nase von meiner Klassenkameradin Klara, von den tödlich charmanten Sommersprossen von Tilly, von meiner höllischen Angst vor dem Zahnarzt, ja, von der Tatsache, dass ich gerade meinen Onkel Herman sehr mochte, obwohl er in unserer Familie aus irgendeinem Grund glatt als daneben galt.

Um Tennisbälle ging es ganz und gar nicht mehr.

Rogier war bei mir angekommen. Oder anders gesagt: er war in meine geheime Welt avanciert. Er war, so könnte ich jetzt sagen, ein richtiger Freund geworden.

Mit dank an Sophie Pannitschka