28.05.2008

Das Kinderhaus. Ein Ereignis im Sandkasten

Der Sandkasten hat fünf Ecken. Im Sand sitzen Sophie und Lucia. Sie spielen. Von der Terrasse, etwa sieben Meter vom Sandkasten entfernt, schaue ich den beiden zu. Ich habe keine Ahnung davon, wohin das Spiel die beiden Mädchen führt. Ich kann aber feststellen, dass die Stimmung heiter & fröhlich & intensiv ist. Obwohl die beiden auf ihrem Po sitzen, scheint es mir, als ob sie tanzen. Denn die Hände und Worte flattern wie Vögel hin und her.

Direkt neben dem Sandkasten steht Malte mit einem Fahrrad. Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen. Mir ist nicht klar, ob er gerade kurz und völlig in sein eigenes Spiel wegträumt, oder ob er Zugang zu der gewichtigen Leichtigkeit der beide Prinzessinnen – denn das sind Sophie und Lucia ja im Grunde genommen rund um die Uhr – gefunden hat. Er steht ganz unbeweglich da, wie ein Mittelpunkt der in sich selber versunken ist.

Dann erscheint Johann. Er ist ein paar Jahre älter. Er schaut kurz auf das Ganze, wartet keinen Moment zu lang und springt in den Sandkasten. Er denkt offensichtlich, dass es im Sand eine klare und dringende Aufgabe gäbe. Er fängt damit an, mit seinen Händen Sand um sich herum zu sammeln und aufzutürmen. Die beiden Mädchen gucken jetzt still & aufmerksam & unsicher auf die Taten von Johann.

Ich sitze auf der Terrasse und warte. Auf was? Ich habe keine Ahnung. Irgendetwas hängt in der Luft. Malte bleibt weiterhin einfach stehen und träumt, Lucia und Sophie schauen auf die großen Taten von Johann, und Johann macht kräftig weiter. Um sich herum hat er mittlerweile einen Wall aus Sand aufgetürmt. Er sitzt da so ein bisschen wie ein um sich herum greifender Buddha, mit einem Fettrand von Sand rund um seine Taille.

Plötzlich sehe ich Thomas rechts von mir. Er ist noch ein paar Jahre älter. Auch er scheint die Szene im Blick zu haben. Wartet er auf etwas? Kann sein. Ich habe das Gefühl, dass es ein Warten ohne eine konkrete Erwartung ist. Spürt er genau wie ich, dass etwas im Kommen ist, ohne zu wissen, worum es genau geht? Oder wartet er einfach auf...

Boris!!!

Also, Boris erscheint. Boris ist groß & rund & vierzehn & lächelt gerne & macht Witze & bringt die Welt gerne in Schwung & beherrscht die soziale Mitte wie ein Meister. Irgendwie richtet Gott immer wieder sein Spotlight auf ihn. Boris sieht Johann im Sandkasten direkt & dazu die Möglichkeit etwas Lustiges zu machen. Und sofort verstehen wir alle worauf wir gewartet haben. Ich stehe auf, gehe zum Sandkasten und setzte mich auf eine Ecke.

Boris nimmt einen Plastikeimer, füllt ihn mit Sand und gießt den Inhalt von oben in das Shirt von Johann. „Du sollst dein Shirt unten zu halten“, beauftragt er Johann. Nach fünf Eimern ist Johann tatsächlich zu dem Buddha geworden, den wir vorher nur erahnt haben. Malte sagt: „Johann, du bist ja fett!“ Und Lucia: „Du bist ja schwanger!“ Und ich denke: Boris hat den Buddha nicht nur als Möglichkeit gesehen, sondern auch tatsächlich hervorgerufen.

Das Spiel dauert eine Weile. Heiterkeit & Leichtigkeit & fröhliche Prinzessinnen machen die Welt aus. Ich mache ganz & gar nichts, bin aber innerlich voll dabei und genieße die Buddha-Gestaltung. Einmal Buddha, zweimal Buddha, dreimal Buddha – immer wieder einen neuen Buddha, noch dicker, noch gewichtiger, noch lustiger. Und jedes Mal steht Johann plötzlich auf, lässt den Sand aus seinem Shirt hinausströmen und lässt den Buddha so verpuffen.

Buddha da, Buddha weg.

Drei kleine Kinder, ein größeres Kind, zwei Jugendliche und ein Erwachsener sind in das Spiel eingebunden. Wir sind an einem Ereignis beteiligt. Und plötzlich nimmt das Spiel auf einmal eine Wendung, erfährt eine Steigerung – es wird ernst. Wie das genau geschehen ist, kann ich nicht erzählen. Es geschah einfach.

Thomas und Boris haben auf einmal Spaten in der Hand, womit sie in der Mitte des Sandkastens einen hohen Sandberg auftürmen, so hoch, dass ich meine, dass es ja höher gar nicht mehr gehen kann. Das Höchste wird gesucht & verfolgt. Boris schuftet und schuftet – ironische Bemerkungen macht er gar nicht mehr. Es ist, als ob der Showmaster auf einmal zurückgetreten ist und Platz für einen Baumeister gemacht hat. „Wir bauen eine Burg!“ sagt er.

Und Thomas? Er kümmert sich um die Schönheit & Richtigkeit der Burg. Als der Berg wirklich nicht mehr höher aufgetürmt werden kann, legt er seine Hände auf den Sand und macht ihn glatt. Er sorgt dafür, dass die Rundungen elegant & gleichmäßig verlaufen. „Das muss man von oben nach unten machen“, sagt er professionell – und uns allen leuchtet ein, dass er, genau so wie Boris, ein Baumeister ist. Wo Boris aber etwas von Masse versteht, beschäftigt sich Thomas mit Feinheiten.

Rund um den Sandkasten stehen Malte (sein Fahrrad ist mittlerweile verschwunden, ja, wann und wohin?), Johann (seine Haare sind noch voll Sand), Sophie, Lucia und ich. Irgendwann ist aber auch Melina aufgetaucht – ich nehme an, dass sie, wie immer, irgendwo im Garten alleine mit etwas unterwegs war, und dann gemerkt hat, dass im Sandkasten ein Ereignis im Kommen war, das man nicht verpassen sollte... Sie steht auf dem Rand des Sandkastens und lehnt sich gegen meinen Bauch. Sie sagt nichts.

Und ich denke: heute Nachmittag, kurz nach fünf, ist die Welt komplett & komplett in Ordnung. Boris schuftet, Johann liebkost den Sand, Malte staunt, Sophie schaut nachdenklich auf das Geschehen und bewegt ihre Lippen, als ob sie jemandem – ja, wem? – auf der Stelle wie eine Reporterin davon erzählt, Licia berät die beiden Jugendlichen mit hilfreichen Vorschlägen und Melina lässt mich merken, dass sie meinen Bauch gar nicht merkt.

Und ich? Ich denke: als Erzieher brauche ich nichts zu tun. Ich brauche nur für mich dabei zu sein.

23.05.2008

Das kleine Kind. Über das Selbst und Schicksalsflechtwerken

Wie können Tagesstätten-für-Kinder-unter-drei zu Orten einer Kultur des Herzens werden? In meinem letzen Blogbeitrag über das kleine Kind habe ich versucht, etwas über die physischen Räumlichkeiten einer Kindertagesstätte zu sagen (siehe 9.5.2008). Heute möchte ich versuchen, den sozialen Raum zu beleuchten.

Das kleine Kind ist eingebettet in eine soziale und familiäre Umgebung. Es gibt eine Mutter, einen Vater (oder nicht), Geschwister, die Großeltern, Onkel, Tanten und Cousinen – die Blutsverwandten also; und es gibt Paten, Bekannte, Freunde und Nachbarn – die sozialen Verwandten.

Oft wird eine Kindertagesstätte als Ersatz für die Familie gehalten. Mit dieser Vorstellung wird das Kind „abgegeben“, was impliziert, dass das Kind eigentlich zu Hause bleiben sollte; weil die Mutter aber arbeiten möchte, werden professionelle Tagesmütter und Erzieherinnen gesucht und bezahlt um das Kind zu betreuen. Diese Art und Weise über Kindertagesstätten zu denken, bleibt meistens unbewusst. Sie kreiert aber spontan eine Kluft zwischen der unmittelbaren Lebensumgebung des Kindes und dem Ort wo es „betreut“ wird.

Und weil der Staat sich in Bezug auf die Einrichtung von Kindertagesstätten stark einbringt und einmischt, entstehen im Sinne von Michel Foucault gesellschaftliche Institutionen, die nicht nur auf die Bedürfnisse der Kinder schauen, sondern auch die Ordnung der Gesellschaft bewahren. Kindertagesstätten stehen damit zwangsläufig in der massiven europäischen Tradition von Schulen, Kliniken und Gefängnissen. Das hierarchische Überwachungssystem dieser Tradition wird unbewusst übernommen.

Die Erziehung & Begleitung & Betreuung von Kindern ist aber prinzipiell eine private Angelegenheit. Die Eltern und nur die Eltern haben an dieser Stelle das Sagen. Ich meine, das dieses Sagen durch alle Beteiligten – Staat, Eltern, Verwandte, Bekannte – nicht ernst ergriffen wird. Gerade die Debatte über das kleine Kind macht deutlich, das etwas grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen ist. Sobald die Eltern meinen, dass ihr Kind tagsüber nicht mehr zu Hause bleiben soll, tritt der Staat kräftig in Erscheinung, so wie das vorher schon mit Schulen und Kindergärten der Fall war. Das professionelle und institutionelle System wird automatisch nach vorne geschoben, bis an die Schwelle der Geburt.

Die Schwelle der Geburt ist aber eine richtige Bewusstseinswand. Je näher man rückwärts an die Geburt heran kommt, umso schwieriger es wird, das System der Steuerung & Rationalisierung aufrecht zu erhalten. In dem kleinen Kind wirkt das reine, noch nicht subjektivierte Selbst – das heißt, dass kleine Kind ist un(an)greifbar. In unserer Gesellschaft fällt der Unterschied zwischen Subjekt und Selbst haargenau mit dem Unterschied zwischen öffentlich und privat zusammen. Für die öffentliche Gesellschaft gibt es kein Selbst, weil so etwas rechtlich nicht zu definieren ist; wenn es um das Selbst geht, ist der Staat per definitionem ungeschickt.

Wenn man sich der Schwelle der Geburt annähert – und ich meine, dass gerade das zur Zeit in der Gesellschaft geschieht – hört man entweder auf zu denken, oder man steigert sein Denken ins Spirituelle. Die Frage, die an der Schwelle der Geburt gilt, lautet: wie wird man dem Selbst des Kindes gerecht? Oder in der Sprache des Alltags: wie kann man das kleine Kind in seiner Offenheit & Unvorsehbarkeit & absolutistischen Lernfähigkeit einerseits schützen, und anderseits aber Freiräume entstehen lassen?

Mir scheint ein wichtiger Schritt in dieser Richtung zu sein, dass die Kindertagesstätten gerade nicht als Ersatz verstanden werden. Die Kindertagesstätten für Kinder unter drei könnten als Dynamisierung & Erweiterung der menschlichen Nähe aufgefasst werden. Ich meine, dass mit dieser Sichtweise zwei Aspekte verbunden sind.

Erstens: Das Schicksalsflechtwerk um das kleine Kind herum wird aktiviert & dynamisiert. Das heißt, dass die Eltern & Nachbarn & Freunde & Großeltern & Onkel & Tanten sich kräftig ehrenamtlich einbringen. Der kranke Onkel zum Beispiel, der gerne im Garten arbeitet, kommt zweimal in der Woche und legt Pflanzenbeete an. Und die arbeitslose Tante kocht Nudeln, macht einen Spaziergang mit den Kindern oder malt in der Ecke ein Bild.

Zweitens: Neben der (so genannten) pädagogischen Arbeit haben die professionellen Mitarbeiter (Erzieher, Pädagogen, Tagesmütter) eine soziale Aufgabe. Sie schauen auf das ganze Schicksalsflechtwerk der Kinder, laden beteiligte Menschen ein aktiv zu werden, organisieren und koordinieren Aktivitäten, planen und leiten Treffen, pflegen Beziehungen, und so weiter. Die Profis küssen die Prinzen und Prinzessinnen wach.

Es wäre eine Illusion zu denken, dass diese Vorgehensweise leichter (und billiger) wäre als die übliche systemorientierte. Das ist klar nicht der Fall. Die Eltern die sich auf diese Art und Weise als freie „Bürger“ zusammen tun und mit Hilfe der Profis einen Weg gehen wollen, kriegen mit intensiven Fragen zu tun. Weil gerade das Geheimnis des Selbst im Mittelpunkt steht, funktionieren Rezepte nicht. Die Tatsachen des Lebens müssen jeden Tag neu entdeckt & die Beziehungen zwischen den Beteiligten jedes Mal neu erlebt und verstanden werden.

So aber wächst ein Selbst nach dem anderen in die Welt hinein.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

17.05.2008

Was Samuel heute Sammy sagt. Über die Welle der Würdigkeit

"Lieber Sammy, ja, du bist noch immer da. Ich sehe dich im Wohnzimmer unserer Eltern stehen – erstarrt & ratlos. Du schaust von rechts nach links, die Ereignisse laufen aber von links nach rechts. Du bist im Gegenstrom der Zeit gefangen, oder besser gesagt: im Stau zwischen Zukunft und Vergangenheit. Nein, ich wüsste noch immer nicht, wie dich zu befreien. Vielleicht fange ich aber an, dich zu erreichen? Ja, du hörst mich.“

„Vielleicht ist es so, dass du immer elf geblieben bist? Oder soll ich mir die Frage stellen: ist Sammy immer elf geblieben? Wer soll eine Antwort geben? Ich oder du? Oder die Person in der Tarnkappe?“

„Sammy, du bist eine Welle. Mir scheint es so zu sein, dass du wie eine Welle in mir immer im Kommen bist, genauso wie Freundschaft & Gemeinschaft & Wahrheit immer im Kommen sind. Einerseits bist du erstarrt und fixiert, andererseits aber trittst du in Erscheinung als eine Bewegung am Horizont. Und wenn ich Angst habe, meine ich: Sammy ist ein Tsunami – er wird mich bald erschüttern!“

„Ich sollte auf dich schauen, wie auf etwas was im Kommen ist. Deine kleine Gestalt im Wohnzimmer unserer Eltern ist höchstens ein Ankerpunkt, ein Signal in der bekannten Welt von etwas Unbekanntem, so wie eine singende Amsel am Abend viel mehr ist, als ein schwarzer Punkt auf einem Schornstein. Das Singen der Amsel deutet auf etwas, das aus der Nacht im Kommen ist. Hören wir nicht die Träume & Sehnsüchte & Vorsätze der Nacht?“

„Was hast du mit mir vor? Oder müsste ich sagen: was habe ich mit dir vor? Was ist die richtige Frage? Heute Morgen beim Aufwachen warst du auf einmal wieder da, wie eine Entzündung in meinem Bauch – eine kleine schmerzende Stelle zwischen Leber & Nieren & Galle. Es tat richtig weh, und ich dachte: Sammy ist wieder da. Und ich dachte wegen des Schmerzes: was ist mit Sammy los?“

„Ja, ich denke wegen des Schmerzes oft an Dich. So ist es mit dem Schmerz: in & durch & über den Schmerz können wir uns selber immer wieder ein bisschen besser kennen lernen. Aber nur wenn wir es wollen.“

„Beim Aufwachen heute Morgen wusste ich auf einmal wieder, dass du damals verliebt warst. Es gab ja Til, die kleine & leichte & rote Til-mit-Sommersprossen, die am Nachmittag nach der Schule immer wieder auf dich gewartet hat. Sie war oft verärgert, weil sie spürte, dass dir nicht klar war, dass sie auf dich wartete. Aber wie hättest du wissen können, dass auf dich gewartet wurde? Du wusstest doch nicht einmal, dass du existiertest?“

„Ist es letztendlich nicht Til gewesen, die dich zu dir gebracht hat? Du wirst dich bestimmt noch erinnern, was an diesem warmen Nachmittag im Mai geschah, als sie wieder auf dich gewartet hatte, und sagte: Komm Sammy, jetzt machen wir es... Und du hattest keine Ahnung wovon sie sprach, sagtest aber: Klar, jetzt machen wir es... Til hat deine Hand genommen und dich in den Park geleitet.“

„Komm, sagte sie immer wieder... Und sie hat dich im Park unter einen riesigen Rhododendron geführt. Erst schaute sie dir in die Augen und du hast gemerkt, dass ihr Blick voll & warm & weckend war. Irgendetwas Wichtiges und Lebendiges, so hast du gemerkt, gab es in diesem Blick. Und dann hat sie langsam deine beiden Hände genommen und auf ihre Brüste – die waren ja im Kommen! – gelegt. Und sie flüsterte: Jemand soll doch merken, dass es meine Brüste gibt! Und: Noch weiß niemand davon!“

„Und du hast die Brüste gespürt. Sie waren klein & glatt & fest. Und sie waren ein Geheimnis. Auch hast du gespürt, dass die Brüste Til gehören, und dass nur sie – nur ihre volle & warme & weckende Anwesenheit – dir die Brüste zeigen konnten. Ohne Til gibt es die Brüste nicht, so wie Til meinte, dass es sie ohne deine Berührung nicht gibt. Ist es nicht so, Sammy, dass du ihre Brüste noch immer im Gedächtnis deiner Hände spüren kannst?“

"Seitdem bist du heilig verliebt, bis zum heutigen Tag. Ja, um dich im Wohnzimmer deiner Eltern zu sehen und zu verstehen, müssen wir auch feststellen, dass du heilig verliebt bist. Du warst und bist noch immer erstart & verliebt. Und heute, Sammy, fallen mir ein paar Worte ein, die über dir und Til schweben. Die Worte sind: Welle der Würdigkeit."





09.05.2008

Das kleine Kind. Über Räume, Träume und Gegenstände.

In meinem Blog am 12.01.2008 habe ich etwas darüber geschrieben, dass in Kindergärten drei „Räume“ zu unterscheiden sind: ein physischer Raum, ein Raum in der Zeit und ein sozialer Raum.

Ich werde in den kommenden Wochen in meinen Blogbeiträgen versuchen die Frage anzugehen, wie die drei Räume für das Kind unter drei gestaltet werden könnten. Mir scheint diese Frage deswegen dringend zu sein, weil ich den Eindruck habe, dass das Denken über Tagesstätten für Kinder unter drei, stark von den Vorstellungen ausgeht, die in Bezug auf Kindergärten leben. Eine Kindertagesstätte scheint wie ein Kindergarten zu sein, der nur in der Zeit nach vorne verschoben ist.

Was aber für Kinder ab drei richtig ist, gilt nicht unbedingt für Kinder unter drei. Zwischen einem Kind von fünf und einem Kind von zwei Jahren liegen ja Welten. Das Denken über die Gestaltung der Tagesstätten für Kinder bis drei müsste beim Kind von null bis drei beginnen.

Ich fange mit dem ersten Raum an, dem physischen. Dabei lasse ich mich durch Henning Köhler inspirieren. In seinem Integrationskurs – das in Zusammenarbeit mit dem Kölner Seminar für Waldorfpädagogik stattfindet – hat er letztes Wochenende über eine „spirituelle Entwicklungspsychologie“ gesprochen. Ausführlich hat er die "Grundbedürfnisse" beschrieben, die in den ersten vier Lebensjahren des Kindes auf dem Vordergrund stehen. Mir wurde deutlich, dass seine Ausführungen interessante Konsequenzen für die Gestaltung der physischen Räume haben.

Ein kleines Kind ist völlig & völlig & völlig orientiert auf das sich Hineinleben in die Welt der Gegenständlichkeit. Seinem Wesen nach kennt das Kind die Wirklichkeit der Gegenstände gerade ganz und gar nicht. Das Kind ist von Gegenständlichkeit weit entfernt. Es „befindet“ sich träumend in einem undifferenzierten Zustand-des-Seins, in dem zum Beispiel Raum und Zeit keine Rolle spielen. Die inneren und äußeren „Bewegungen“ des kleinen Kindes sind völlig frei, ungezielt und ohne eine festgelegte Bedeutung.

Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang aufschlussreich über Träume. Er meint, dass das kleine Kind „am Anfang seine Träume in die Dinge, seine Gedanken in die Anderen verlegt und mit diesen gleichsam einen gemeinsamen Lebensblock bildet, innerhalb dessen die verschiedenen Perspektiven sich noch nicht unterscheiden.“ (Und er meint dazu, dass diesbezüglich die Philosophie sich „dem Problem der Genese ihres eigenes Sinnes“ stellen muss.)1

Man kann das an kleinen Kindern beobachten. Wenn ein Kind auf einem Parkplatz aus dem Auto gehoben und auf seine wunderbar wackelig-stabilen Beine gestellt wird, befindet es sich nicht auf einem Parkplatz, sondern einfach in einem Raum. Es steht eine Weile in seinem Stehen, so wie ein Baum sich in seinem Stehen befindet, schaut herum ohne richtig zu schauen, und fängt dann „auf einmal“ an zu gehen. Das heißt, es bewegt seine Beine in eine unbestimmte Richtung – und „befindet“ sich einfach in seinem Gehen. Dann hört es „auf einmal“ auf zu gehen, plumpst charmant-elegant auf seinen Po, spürt, dass seine Hand „etwas“ berührt und bringt dieses „etwas“ selbstverständlich und wie in einem Traum an seinen Mund – ja, einen runden Stein genauso wie eine saftige Erdbeere.

(Der Vater ist aber schon dabei ihm den Stein abzunehmen, weil Steine auf Parkplätzen einen schlechten Ruf haben – es heißt, sie wären meistens nicht sauber. Das berühmte Reinheitsgebot in Deutschland hat sich mittlerweile über alle Aspekte des Lebens ausgebreitet.)

Was heißt das für die Einrichtung einer Tagesstätte für Kinder unter drei? Es heißt meines Erachtens erstens, dass es da Steine, Äste, Holzblöcke, Kastanien, Kieferzapfen, Wasser, Sand, Töpfe, ja, alte und robuste Schreibmaschinen, Lenkräder und Gießkannen aus Blech geben sollte. Und vieles anderes mehr. Es heißt zweitens, dass die Gegenstände sich frei, aber nicht unorganisiert im Raum befinden. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die Kinder einerseits einen freien Zugang zu den Gegenständen haben, sich aber anderseits nicht in einem sinnlosen Chaos befinden. Vielleicht sind einfache, niedrige Regale hilfreich – möglich wäre aber auch eine Art Blume mit „Blüten“ zu gestalten: in eine Blüte die Steine, in eine andere die Äste, in noch eine andere Wasser, usw. In der Mitte könnte ein Kreis sein, in dem die Kinder sich frei bewegen können.

Etwas Drittes kommt aber dazu. Die Erwachsenen sind gerade NICHT da um die Kinder zu „betreuen“ oder eben zu „bewachen“. Die Erwachsenen sind für sich selber da, das heißt, sie machen ihr eigenes Ding. Ein Mann näht gerade eine Hose oder übt Gitarre, eine Frau schreibt einen Brief oder malt ein Bild oder drückt sich die Daumen. Die Erwachsenen sind tätig. Und die Kinder erleben, dass auch für die Erwachsenen das Leben und die Welt eine sinnvolle & spannende & höchst interessante Angelegenheit ist, genau so wie die vorhandenen Steine & Äste & Schreibmaschinen sinnvoll & spannend & interessant sind.

Ich behaupte, dass auf diese natürliche Art und Weise aus den Kindern intelligente & sorgsame & leidenschaftliche & kreative Naturwissenschaftler, Künstler, Unternehmer, Krankenschwestern, Gärtner und Journalisten werden. Nicht die Erwachsenen und auch nicht die implizit definierten Räumlichkeiten, sondern das Leben & die tausend Möglichkeiten werden zeigen, wozu die Kinder gemeint sind. Die Einrichtung des Raumes müsste erst mal auf dieser Ebene gerade keine Aussage machen, das heißt, dass im Prinzip alles Mögliche vorhanden ist.

Die Kinder werden in & aus & mit der Vielfalt sich selber gestalten.



1 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München, 1986, Seite 28.

05.05.2008

Die Fragestellung der Kleinkindbetreuung ist sexy. Antwort an Michael Eggert

In seinem lesenswerten, oft sehr interessanten und ideologiefreien Blog (www.egoisten.de) reagiert Michael Eggert auf meine Behauptung, dass der gesellschaftliche Wunsch nach Kinderbetreuung in einer Sehnsucht nach anderen Lebensverhältnissen und anderen Beziehungen liegt. Eggert: „Ich denke, die primären Gründe sind schlicht das sinkende Realeinkommen von Familien, die ständig steigenden Anforderungen in den Berufen, aber auch die Gefahren des Abgleitens in den Berufen, bedingt auch durch ständige Umwälzungen darin. Die veränderten Lebenskonzepte und Rollen von Mann und Frau kommen nach meiner Beobachtung erst in zweiter Reihe.“

Michael Eggert macht also die Sache, wie das üblicherweise gemacht wird, an äußerlichen Umständen fest. Nun habe ich aber nicht gemeint zu sagen, dass diese Umstände keine Rolle spielen – sondern mein Anliegen ist es, vom „Kulturpessimismus“ (Eggert) weg zu kommen, der zwangsläufig entsteht, wenn Sehnsüchte ausgeklammert werden und das Handeln von Menschen als ein reines Reagieren auf materielle Parameter verstanden wird. Das heutige wissenschaftliche und politische Denken ist bis in alle Ecken durch diese Ansicht geprägt.

Menschen wollen immer etwas von-sich-aus, auch und vor allem wenn dieses Wollen gerade (noch) nicht in „veränderten Lebenskonzepten“ klar vor Augen steht. Es geht, so meine ich, gerade nicht um definierte Konzepte, sondern um Sehnsüchte. Eine Sehnsucht ist kein Konzept. Ein Konzept ist als solches mehr oder weniger bekannt und muss natürlich noch „umgesetzt“ werden; eine Sehnsucht ist aber auch ein Phänomen, dass mit Jacques Derrida immer wieder und immer wieder nur „im Kommen“ ist, so wie zum Beispiel auch die Freundschaft immer wieder nur „im Kommen“ ist.

Ich behaupte, dass die Fragestellung der Kinderbetreuung SEXY ist. Den Wunsch nach Kinderbetreuung an äußeren Umständen festzumachen, macht die Sache gerade dürr und trocken. Für etwas Saftiges wie Sehnsüchte & Willensrichtungen & Umwälzungen ist in dieser Sichtweise kein Platz. Und so ist es: die Fragestellung der Kleinkindbetreuung muss unter allen Umständen langweilig bleiben.

Michael Eggert nennt meine Sichtweise „pragmatisch“. Nun hatte das griechische „Pragma“ ursprünglich zwei Bedeutungen: Sache und Handlung. Wenn Eggert die zweite Bedeutung im Auge hat, bin ich einverstanden. Mich interessiert brennend, warum Menschen handeln wie sie handeln. Der Gedanke, dass Menschen handeln wie sie handeln, weil sie bestimmte Konzepte im Kopf haben, scheint mir den Ungeist-per-se zu repräsentieren. Was Menschen denken ist in der Regel weniger aufschlussreich, als was Menschen tun.

So etwas wie „reine“ Umstände gibt es im gesellschaftlichen Sinne nicht. In dem, was wir reine Umstände nennen (Karl Marx hat ja das ganze Leben auf reine Umstände reduziert – ich behaupte: in Europa wird zur Zeit marxistisch gedacht), lebt gewollter Widerstand und verborgene Innerlichkeit. Wir akzeptieren zum Beispiel kollektiv, dass jede Person das Recht oder eben die Pflicht hat, ihr Leben auf allen Ebenen in die Hand zu nehmen: kulturell, sozial-politisch und wirtschaftlich. Das Selbstbild – oder vielleicht besser gesagt: die Vorstellung der eigenen Biographie – kriegt dadurch eine völlig andere Bedeutung.

Die Schattenseite ist klar und heißt: jeder für sich und Gott gegen alle (Werner Herzog). Nicht nur die Götter ziehen sich zurück, sondern, auf der wirtschaftlichen Ebene auch der Staat. Die Lichtseite gibt es aber auch, und sie heißt: jeder Mensch ist der Künstler & der Unternehmer seiner Biographie. Ich meine, dass die gesellschaftlichen Veränderungen nur zu verstehen sind, wenn die Sehnsucht nach biographischer Identität bei Müttern & Vätern & Kindern & Freunden & Erziehern als verborgener Drahtzieher anerkannt wird.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

Text von Michael Eggert: http://www.egoisten.de/files/kleinkinder.html