28.05.2008

Das Kinderhaus. Ein Ereignis im Sandkasten

Der Sandkasten hat fünf Ecken. Im Sand sitzen Sophie und Lucia. Sie spielen. Von der Terrasse, etwa sieben Meter vom Sandkasten entfernt, schaue ich den beiden zu. Ich habe keine Ahnung davon, wohin das Spiel die beiden Mädchen führt. Ich kann aber feststellen, dass die Stimmung heiter & fröhlich & intensiv ist. Obwohl die beiden auf ihrem Po sitzen, scheint es mir, als ob sie tanzen. Denn die Hände und Worte flattern wie Vögel hin und her.

Direkt neben dem Sandkasten steht Malte mit einem Fahrrad. Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen. Mir ist nicht klar, ob er gerade kurz und völlig in sein eigenes Spiel wegträumt, oder ob er Zugang zu der gewichtigen Leichtigkeit der beide Prinzessinnen – denn das sind Sophie und Lucia ja im Grunde genommen rund um die Uhr – gefunden hat. Er steht ganz unbeweglich da, wie ein Mittelpunkt der in sich selber versunken ist.

Dann erscheint Johann. Er ist ein paar Jahre älter. Er schaut kurz auf das Ganze, wartet keinen Moment zu lang und springt in den Sandkasten. Er denkt offensichtlich, dass es im Sand eine klare und dringende Aufgabe gäbe. Er fängt damit an, mit seinen Händen Sand um sich herum zu sammeln und aufzutürmen. Die beiden Mädchen gucken jetzt still & aufmerksam & unsicher auf die Taten von Johann.

Ich sitze auf der Terrasse und warte. Auf was? Ich habe keine Ahnung. Irgendetwas hängt in der Luft. Malte bleibt weiterhin einfach stehen und träumt, Lucia und Sophie schauen auf die großen Taten von Johann, und Johann macht kräftig weiter. Um sich herum hat er mittlerweile einen Wall aus Sand aufgetürmt. Er sitzt da so ein bisschen wie ein um sich herum greifender Buddha, mit einem Fettrand von Sand rund um seine Taille.

Plötzlich sehe ich Thomas rechts von mir. Er ist noch ein paar Jahre älter. Auch er scheint die Szene im Blick zu haben. Wartet er auf etwas? Kann sein. Ich habe das Gefühl, dass es ein Warten ohne eine konkrete Erwartung ist. Spürt er genau wie ich, dass etwas im Kommen ist, ohne zu wissen, worum es genau geht? Oder wartet er einfach auf...

Boris!!!

Also, Boris erscheint. Boris ist groß & rund & vierzehn & lächelt gerne & macht Witze & bringt die Welt gerne in Schwung & beherrscht die soziale Mitte wie ein Meister. Irgendwie richtet Gott immer wieder sein Spotlight auf ihn. Boris sieht Johann im Sandkasten direkt & dazu die Möglichkeit etwas Lustiges zu machen. Und sofort verstehen wir alle worauf wir gewartet haben. Ich stehe auf, gehe zum Sandkasten und setzte mich auf eine Ecke.

Boris nimmt einen Plastikeimer, füllt ihn mit Sand und gießt den Inhalt von oben in das Shirt von Johann. „Du sollst dein Shirt unten zu halten“, beauftragt er Johann. Nach fünf Eimern ist Johann tatsächlich zu dem Buddha geworden, den wir vorher nur erahnt haben. Malte sagt: „Johann, du bist ja fett!“ Und Lucia: „Du bist ja schwanger!“ Und ich denke: Boris hat den Buddha nicht nur als Möglichkeit gesehen, sondern auch tatsächlich hervorgerufen.

Das Spiel dauert eine Weile. Heiterkeit & Leichtigkeit & fröhliche Prinzessinnen machen die Welt aus. Ich mache ganz & gar nichts, bin aber innerlich voll dabei und genieße die Buddha-Gestaltung. Einmal Buddha, zweimal Buddha, dreimal Buddha – immer wieder einen neuen Buddha, noch dicker, noch gewichtiger, noch lustiger. Und jedes Mal steht Johann plötzlich auf, lässt den Sand aus seinem Shirt hinausströmen und lässt den Buddha so verpuffen.

Buddha da, Buddha weg.

Drei kleine Kinder, ein größeres Kind, zwei Jugendliche und ein Erwachsener sind in das Spiel eingebunden. Wir sind an einem Ereignis beteiligt. Und plötzlich nimmt das Spiel auf einmal eine Wendung, erfährt eine Steigerung – es wird ernst. Wie das genau geschehen ist, kann ich nicht erzählen. Es geschah einfach.

Thomas und Boris haben auf einmal Spaten in der Hand, womit sie in der Mitte des Sandkastens einen hohen Sandberg auftürmen, so hoch, dass ich meine, dass es ja höher gar nicht mehr gehen kann. Das Höchste wird gesucht & verfolgt. Boris schuftet und schuftet – ironische Bemerkungen macht er gar nicht mehr. Es ist, als ob der Showmaster auf einmal zurückgetreten ist und Platz für einen Baumeister gemacht hat. „Wir bauen eine Burg!“ sagt er.

Und Thomas? Er kümmert sich um die Schönheit & Richtigkeit der Burg. Als der Berg wirklich nicht mehr höher aufgetürmt werden kann, legt er seine Hände auf den Sand und macht ihn glatt. Er sorgt dafür, dass die Rundungen elegant & gleichmäßig verlaufen. „Das muss man von oben nach unten machen“, sagt er professionell – und uns allen leuchtet ein, dass er, genau so wie Boris, ein Baumeister ist. Wo Boris aber etwas von Masse versteht, beschäftigt sich Thomas mit Feinheiten.

Rund um den Sandkasten stehen Malte (sein Fahrrad ist mittlerweile verschwunden, ja, wann und wohin?), Johann (seine Haare sind noch voll Sand), Sophie, Lucia und ich. Irgendwann ist aber auch Melina aufgetaucht – ich nehme an, dass sie, wie immer, irgendwo im Garten alleine mit etwas unterwegs war, und dann gemerkt hat, dass im Sandkasten ein Ereignis im Kommen war, das man nicht verpassen sollte... Sie steht auf dem Rand des Sandkastens und lehnt sich gegen meinen Bauch. Sie sagt nichts.

Und ich denke: heute Nachmittag, kurz nach fünf, ist die Welt komplett & komplett in Ordnung. Boris schuftet, Johann liebkost den Sand, Malte staunt, Sophie schaut nachdenklich auf das Geschehen und bewegt ihre Lippen, als ob sie jemandem – ja, wem? – auf der Stelle wie eine Reporterin davon erzählt, Licia berät die beiden Jugendlichen mit hilfreichen Vorschlägen und Melina lässt mich merken, dass sie meinen Bauch gar nicht merkt.

Und ich? Ich denke: als Erzieher brauche ich nichts zu tun. Ich brauche nur für mich dabei zu sein.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

als Erzieher brauche ich nichts zu tun. Ich brauche nur für mich dabei zu sein.

Traumjob, gelle!!

Gruß Simone

Anonym hat gesagt…

Unbeschwinglich und frei, als hätte man selbst auf der Kante des Sandkastens gesessen, oder vielleicht wird man beim Lesen wieder ganz stark selbst in die Zeit zurück versetzt, als man noch Stunden
Sand als Mittelpunkt der Erde sah.