31.10.2007

Der Tod und die Betroffenheit

Herzwerk und Tod hängen eng zusammen. Die Betroffenheit, die mit dem Tod einhergeht, weckt die Fähigkeit, die Botschaften des Lebens auf eine nicht-triviale Art und Weise zu lesen und zu verstehen. Die immer einzigartigen Ereignisse, die mit einem Sterben zusammenhängen, haben eine Intensität, die auf der Ebene des Herzens wirkt. So ist das mit dem Tod-im-Leben: Er steigert die Fähigkeit zum Leben.

In den letzten Wochen wurde in meinem Leben viel gestorben. Anfang Oktober starb Uwe Gronbach, der Vater meines Freundes Sebastian. Ich bin am 12. Oktober nach Bad Godesberg gefahren um in der Kirche der Christengemeinschaft an der Trauerfeier teilzunehmen. Es war ein wunderschöner Herbsttag mit einem warmen Licht, das sich sanft über uns ausbreitete. Nach der Trauerfeier sagte Sebastian über seinen Vater: „Seine Liebe zur Tat... Seine große, große Liebe zu den Menschen... Zu jedem einzelnen und zu allen... Das wird in diesen Stunden frei und es steht Ihnen und uns zur Verfügung. Bitte bedienen Sie sich. Es ist reichlich vorhanden.“

Genau sieben Tage später war ich in Kosiče in der Slowakei, um Marianka Novak zu kremieren. Ich hatte im August auf meiner Blogsite schon über sie geschrieben (siehe: „Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich“.) Auch in Kosiče konnte man spüren, dass etwas frei wurde. Mit ihrem Tod hat Marianka uns den Mut zum Verzeihen zur Verfügung gestellt, das heißt, die Bereitschaft, auch dann die Menschen aktiv zu lieben, wenn sie uns schwer verletzt haben. Als ich mich am Flughafen von ihren beiden Söhnen Boris und Brano verabschiedete, war uns klar: Der Tod Mariankas hat nochmals bestätigt, dass wir uns gegenseitig als „Stützpunkte“ in unseren Biographien verstehen.

Eine Stunde nach meiner Ankunft spät abends in Deutschland kam die Nachricht, dass mein Vater Harm van der Meulen gestorben war. Als ich am nächsten Morgen in Utrecht ankam, waren meine Geschwister schon dabei, die Beerdigung zu regeln. Wir saßen in seinem Zimmer, rauchten seine letzten Zigaretten und sprachen über sein Leben und sein Sterben. Zwei Aspekte standen immer wieder im Zentrum unserer Aufmerksamkeit: seine tiefe – und in den letzten Jahren auch milde – Liebe für unsere Mutter (die im August 2006 gestorben war) und die entschiedene Art und Weise, wie er sich als Gewerkschafter und Politiker verstanden hat.

Mein Vater meinte, dass Gott der Gestalter seiner Biographie war. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass er selbst sein Leben gestaltet hat, und zwar entschieden und ohne wenn und aber. Gerade mit Kunst hatte mein Vater nichts am Hut – Künstler waren in seinen Augen irgendwie halbwegs schon „subversiv“. Kunst war „flauwekul“. Und die einzige Kunst die er liebte, nämlich die Poesie der Bibel, fasste er nicht als Kunst auf, sondern als Gesetz. Als Lebenskünstler war er aber wie ein Bildhauer, der aus hartem Granit sein Leben gestaltete. Diese Fähigkeit kam frei als er starb: das Leben zu verstehen als eine Skulptur – und vor allem auch die Fähigkeit, am Ende seines Lebens die Skulptur zu verfeinern, glatt und lieb, ja, berührbar zu machen.

Einen Tag nach der Beerdigung meines Vaters in Utrecht kam Aachen. Für den Abend war dort in der Waldorfschule ein Vortrag geplant: „Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens“. Am Vormittag kam dann die unfassbare Nachricht, dass ein Vater seine Frau und seine zwei Kinder mit einem Beil getötet hatte. Der Vater, die Mutter und die zwei Kinder gehörten zum Umkreis der Waldorfschule. Einige meiner Freunde in Aachen kannten die Familie sehr gut. Eine Freundin der getöteten Frau schrieb mir: „Ich kann es immer noch gar nicht begreifen und bin fast nicht in der Lage, es auch nur auszuhalten.“

Am Abend kamen etwa sechzig Leute in der Waldorfschule zusammen um meinen Vortrag zu hören. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor dem Wesen der Betroffenheit so stark und unausweichlich begegnete, wie an diesem Abend. Was in den letzten Wochen in meinem Leben schon fast physisch handgreiflich geworden war, die geistige Substanz der Betroffenheit, vertiefte sich ins Unermessliche. Spürbar war, dass das schreckliche Ereignis eine Bedeutung für die ganze Gemeinschaft hatte. Die Betroffenheit wurde zu einem gemeinsamen Boden. Was aber das schreckliche Ereignis in Aachen freigesetzt hat, ist nicht zu sagen. Mir scheint es an meiner Stelle respektlos zu sein, mir darüber Gedanken zu machen.

Die Betroffenheit ist ein Geschenk. Die Betroffenheit öffnet Türen in das große Da-oben, Da-hinten, Da-unten, Da-drinnen. Die Betroffenheit führt in den weiten Innenraum der Ahnungen. Die Betroffenheit ermöglicht Beziehung. Das Leben lehrt aber, dass es bei diesem Geschenk nicht bleiben kann und nicht bleiben muss. Erst wenn wir aus der Betroffenheit heraus entschieden Entscheidungen treffen, wird sie nachhaltig wirksam. Das Leben als Herzwerk setzt sich über die Betroffenheit hinaus fort in die Bereitschaft, die eigene Biographie und die Gemeinschaft bewusst und tatkräftig zu gestalten. Bleibt das aus, wird der Tod im Nachhinein doch wieder sinnlos.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Mooi verwoord! Ik had je net m'n mail geschreven, toen ik deze tekst ging lezen. Wat je in de eerste en laatste alinea schrijft voel ik ook heel sterk, en ik was verrast om het op 'papier' te zien staan, omdat ik het zelf de afgelopen dagen heb proberen te verwoorden, maar niet het idee kreeg dat ik begrepen werd.
Lfs, E.