20.04.2008

Das Schweben über dem schwarzen Loch. Oder: der Fakir-in-mir

Jemand hat mir letzte Woche per Email das Folgende geschrieben: „Ich habe ein Loch in mir - ich nenne es das Einsamkeitsloch. Meistens kann ich in das Loch hineinsehen. Ich stehe am Rand des Loches, nein besser: ich schwebe über dem Loch und schaue tief hinein. Aber manchmal wächst das Loch. Es frisst sich dann weiter in mich hinein und wird größer und größer. Und es fängt an zu leben, es wird aktiv. Das heißt, es saugt alles zu sich heran und zieht es in sich hinein. Das Loch wird lebendig, wenn Dinge, die außerhalb von mir passieren oder auf mich zukommen und mich beschäftigen, sehr beschäftigen. Dann gibt es keinen Halt mehr und ich werde mit ins tiefe schwarze Loch gezogen. Das ist ein schreckliches Gefühl.“

Diese Sätze haben mich aus zwei Gründen berührt. Der erste Grund liegt in der Tatsache, dass ich aus Erfahrung weiß, wovon da gesprochen wird. Das fressende „Einsamkeitsloch“ hat etwa drei Jahre in meinem Leben – ich war um die vierzig – kräftig gearbeitet. Eigentlich gab es in diesen Jahren nur dieses Loch; alles andere war zweitrangig, unwesentlich und „circumstantial“. Die ganze Welt sah schwarz & schwer & abgründig aus. Der Psychiater, zu dem ich damals ging, sprach von einer „Depression“.

Im Nachhinein würde ich sagen, dass die Wirkung des fressenden Einsamkeitslochs richtig etwas in mir und mit mir gemacht hat. Nach der Erfahrung des Lochs oder des Abgrunds oder des Nichts ist einerseits alles so geblieben wie es war, andererseits ist alles komplett anders geworden. Geblieben sind meine Fähigkeiten & Vorlieben & Gewohnheiten – anders geworden sind meine Erwartungen & Hoffnungen & Zielsetzungen. Um es in einem Satz zu sagen: der Grund des Lebens hat sich als unergründlich erwiesen.

Ich meine, dass die Erfahrung des Abgrunds dazu geführt hat, dass ich gelernt habe zu „schweben“. In gewissem Sinne bin ich innerlich gesprochen ein Fakir geworden. Die entscheidende Erfahrung dabei war, dass ich nach drei Jahren, in denen alles schwarz & schwer & abgründig war, auf einmal festgestellt habe: das Loch frisst ja alles & alles & alles, nur mein Selbst bleibt unangetastet. Mein Selbst oder mein Ich war als teilnehmender Beobachter immer dabei und wurde in dem Akt des Beobachtens unbemerkt immer stärker und stärker. Erst als mir diese Tatsache blitzartig klar wurde – man könnte an dieser Stelle von einer Erleuchtung sprechen – war das Loch keine Bedrohung mehr.

Und so ist es: das Loch ist noch immer da, saugt noch immer, kann noch immer unangenehm sein – erzeugt aber kaum noch Angst sondern bringt eher Freude. Und Erkenntnisse. Die Erkenntnisse beziehen sich auf die grundlegenden & bedeutungsvollen Aspekte des Lebens, weil das Schweben des Selbst’ auf eine unmittelbare Art und Weise zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen unterscheidet. Das, was den Fakir-in-mir versucht herunter zu ziehen, ist ja unwesentlich; und das, was das Schweben-des-Selbst’ ermöglicht, ist ja wesentlich.

Der zweite Grund hat mit Sprache zu tun. Irgendwie ist es daneben hier von „Loch“ zu sprechen. Auf der seelischen Ebene gibt es keine Löcher, da gibt es nur Gefühle. Wir verstehen „Loch“ an dieser Stelle als eine Metapher, ein Bild, eine helfende Vorstellung – ein reales Loch gibt es aber in der Seele nicht. Trotzdem scheint mir das Wort Loch genau stimmig zu sein, so wie Abgrund und Nichts auch. Wenn ich auf meine Erfahrungen schaue, die damaligen und die heutigen, komme ich nicht um das Empfinden herum, dass Löcher, seelisch-geistig gesprochen, tatsächlich existieren.

Was aber ist ein Loch? Die Geschichte des Wortes bringt Bewegung in unsere gefestigten Vorstellungen. Interessant ist, dass das Wort etymologisch eine verdoppelte und zweiseitige Bedeutung hat: es heißt „Verschluss“ und „Öffnung“. In dem englischen Wort „lock“ hören wir das noch; ein Loch-Lock schließt etwas ab, ist aber gleichzeitig eine Öffnung irgendwo hin. In Löcher passen Schlüssel.

Überraschend ist weiter, dass die indogermanische Wurzel „leug“ deutlich macht, dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes auch mit „winden“ und „drehen“ zu tun hat. „Lauch“ (das Gemüse) windet, dreht und kräuselt sich nach unten hin, verschließt und öffnet sich. Damit ist die statische Vorstellung des Loches auf einmal dynamisch geworden. Ein Loch ist kein Zustand und kein Gegenstand, sondern ein Vorgang oder ein Geschehen. Das Urbild des Wortes nimmt gerade die statische Bedrohung, die von dem modernen Begriff ausgeht, weg.

Das alles heißt nicht, dass die Erfahrung des schwarzen Lochs auf einmal weniger dramatisch wäre. Nein, die Wahrheit bleibt nach wie vor so: um zu seinem Selbst zu gelangen, muss man sterben; und sterben heißt auch, dass man nichts mehr vom Aufstehen weiß. Um aber zu seinem Selbst zu gelangen, das heißt schweben zu lernen, kommt man nicht an dem Punkt vorbei, wo man sich wie eine Stange Lauch „umdreht“ und zum innerlichen Beobachter wird. Erst wenn dieser Beobachter aktiv tätig wird, das heißt in Kontinuität aufmerksam wird & aus dem Nichts Vorsätze hervorzaubert & dementsprechende Entscheidungen trifft, ist man frei von den Bedrohungen des Abgrunds.


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für diesen Blog. Ich kenne das Loch in mir auch. Und ich habe eine vage Ahnung davon, wenn du sagst: "Das Loch frisst alles & alles & alles, nur mein Selbst bleibt unangetastet". Aber irgendwie bin ich auch das Loch, das frisst und saugt, denn es ist nicht etwas, was außerhalb von mir ist, sondern in mir und sehr stark spürbar und erlebbar. Viel stärker als das Selbst, das sich anfühlt, als wäre es weit weit weit weg. Und ich frage mich dann: Wer wird siegen? Das Selbst, das nur eine Ahnung ist, oder das Loch, das stark erlebbar ist in diesen Phasen des NICHTS.

Anonym hat gesagt…

Ich habe das Loch früher schon gekannt als Kind mit ungefähr 12 Jahren. Damals war ich Fahrschüler. Und morgens auf dem Weg zur Bushaltestelle war das Loch plötzlich da - das "fressende Einsamkeitsloch". Oder im Sommer, wenn es sehr warm war und ich auf dem Kiesweg vor unserem Haus saß und wartete, immer nur wartete.

Anonym hat gesagt…

Danke, dass du diesen Blog nicht gelöscht hast. Es hat mir ein bisschen geholfen, dass ich ihn heute noch einmal lesen konnte. B.