25.02.2008

Esteecee heute. Über die Unbekümmertheit des Geistes

Im Zug auf dem Rückweg nach Amsterdam saßen wir einander gegenüber. Einen ganzen Abend lang hatte Gloria nichts gesagt, aber nun legte sie auf einmal los. Nein, sie konnte nicht glauben, dass man unbedingt für die Kunst leiden müsse. Warum alles so kompliziert machen? Nimm z.B. die Musik von Schubert, die sie gut kannte, weil sie Klavier spielte. Schubert hatte doch einfach die endlosen Kombinationen genossen, die man mit Klängen machen kann? Seine Hände liefen spielerisch über die Tasten wie ein Kind, das auf dem Gehweg über die Platten hüpft und dabei entdeckt er wie vielerlei Kombinationen möglich sind.

Und Chopin. Ja, Chopin! Das ganze Gerede über sein polnisches Heimweh – das ist doch typisch für schwermütige Europäer, die immer einen tragischen Mythos brauchen, um Kunst schätzen zu können. Nein, Gloria selbst glaubte, dass Chopin vor allem eine Herausforderung darin gesehen hatte, die eine Hand rasend schnell und gleichzeitig die andere feierlich langsam spielen zu lassen. Als Chopin komponierte, dachte er an alles mögliche, nur nicht an Polen.

Gloria liebte das leichte Dasein. Sagte sie, und deshalb wollte sie Eurythmie studieren. Denn in der Bewegungen der Eurythmie wird „die Schwere der Erde aufgehoben“, so wie sie es ausdrückte. „Du lernst, dich über die Verdauung des Alltags zu erheben, über Ängste und Depressionen, über all dieses Getue mit Sex.“ Sie war nun sechsundzwanzig, hatte Sozialgeographie studiert und war fest entschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, die sie zu einer Art Unbekümmertheit des Geistes führen würde.

Während Gloria sprach, hatte ich ihr zugeschaut. Der Blick ihrer grünen Augen war wachsam durch das ganze Abteil gewandert und hatte nur einige Malen kurz meinem Blick begegnet. Auf ihrem Schoß hielten ihre Hände eine Baumwolletasche fest umklammert, als ob darin ein enormer Geldbetrag wäre oder zumindest ein handgeschriebenes Manuskript von Schubert. Ich wunderte mich darüber, dass ihre Kleidung in jeder Hinsicht zu lang war: die Hosenbeinen ihrer Jeans hingen über die Absätze ihrer festen Schuhe, die Ärmel der blauen Batikbluse rutschten bis zum Ansatz ihrer Daumen herunter und die Kragen waren hochgeschlagen. Ihre halblangen strähnigen Haare bedeckten Augenbrauen, Ohren und Nacken.

Am meisten traf mich das Nervenzücken in ihrem Antlitz, das im Laufe des Gesprächs allmählich zunahm. Ich konnte meine Augen nicht davon abwenden, als ob ich etwas sähe, von dem ich zwar nichts verstand, das ich aber, obwohl es mich auch verwirrte, sofort liebte. Auf die eine oder andere Weise erkannte ich diese Zuckungen. Sie zogen blitzartig über ihr Angesicht, besetzten kurz ihre Augen, die sich aufsperrten, schossen unter der haut weiter zu einer Mundecke, die sich daraufhin zusammenzog und wanderten dann in ihre Wange, die zitterte. Während ich schaute und schaute, schien es mir, als ob sich in ihrem Gesicht eine zweite Gestalt auszudrücken versuchte, eine weitere Person, mit einem völlig eigenen Leben, einem eindeutig gequältem Leben, und diese Person schien sich fortwährend auf der Flucht zu befinden.

Auf keinerlei Weise war Gloria anzumerken, dass sie sich dieses Nervenzuckens bewusst war. Es war, als ob es ihr nichts ausmachte, es sie nichts anging. Sie redete einfach darüber hinweg, so wie ein Klavierspieler unbeirrbar weiterspielt, während jemand im Saal einen erstickenden Hustenanfall hat.

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