08.02.2008

50+. Schweben zwischen Abschied und Anfang

Die Lebensphase worin man sich gerade befindet, funktioniert wie ein Okular. Mit jeder Lebensphase geht eine bestimmte Sichtweise auf die Welt einher. Die Lebensphasen sind in gewissem Sinne „Erkenntnisorgane“, das heißt empfindliche & empfängliche & empfindsame Sensoren. Aus den Tiefen des Lebensgangs tauchen geistige Flechtwerke von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen auf, die uns dazu bringen, das Leben und die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu „lesen“. (Michel Foucault würde an dieser Stelle nicht von Flechtwerken, sondern von „Epistemen“ sprechen.)

Ich bin 58 Jahre alt. Vor etwa vier Jahren ist in mir ein Flechtwerk von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen erschienen, das ich erst als rein persönlich aufgefasst hatte. Ich meinte etwa, dass die Tatsache, dass ich älter wurde und damit der Tod näher rückte, in mir meiner Natur entsprechend eine Art melancholische Nachdenklichkeit hervorrief. Mittlerweile meine ich aber, dass das zu linear und psychologisch gedacht ist. Das auf den Tod Zuleben (Heidegger) ist zwar ein wesentlicher Vorgang, der tatsächlich Nachdenklichkeit & Innerlichkeit & Schwermut erzeugt, erklärt aber die Inhalte des Flechtwerks nicht.

Wie sieht das Flechtwerk von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen in mir aus? Mir scheint es so zu sein, als ob sich in mir eine Art Spaltung vollzogen hat. Im Laufe der letzten Jahre sind zwei Perspektiven entstanden. Sie existieren gleichzeitig nebeneinander und suchen eine Wechselbeziehung zueinander. Sie sind, so meine ich, aus einander hervorgegangen. Die Aufgabe wäre, die beiden Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die erste Perspektive hat mit Abschied zu tun. Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass mein Leben & meine Aufgaben & meine Beziehungen nicht mehr selbstverständlich sind. Mein Körper, mein Charakter, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen, meine Vorlieben und meine sozialen Verbindungen haben eine spontane Evidenz verloren. Ich erlebe mich nicht länger als selbstverständlich getragen durch das, was ich denke, fühle und mache. Oder anders gesagt: Das Leben spricht nicht länger die mich gestaltende Sprache der Schöpfung.

Mit dieser Perspektive ist eine tiefe Müdigkeit verbunden. Das Leben sieht aus diesem Blickwinkel so aus, als ob alles schon mal gewesen ist. Mit dieser Müdigkeit geht auch eine Art Untergangsstimmung einher. Die konkreten Träume & Erwartungen & Sehnsüchte, die mein Leben bisher spontan und selbstverständlich bewegt haben, verlieren allmählich ihre spritzige Evidenz. Ein bisschen überspitzt gesagt: In mir gibt es keine bewussten Anliegen mehr. Oder vielleicht besser: Es geht gerade nicht mehr um meine Anliegen. Sie sind irgendwie „alt“ geworden.

Die zweite Perspektive lässt sich viel schwieriger beschreiben, weil sie ungreifbar ist. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder feststellen müssen, dass in mir ein Gefühl von Sinn & Bedeutung & Richtung entsteht, wenn ich die Anliegen von anderen Menschen in mich hereinnehme und als Ausgangspunkt für mein Handeln akzeptiere. Es gibt ein paar Menschen in meinem Leben, die in dieser Hinsicht entscheidend auf mich wirken. Nicht überraschend ist vielleicht, dass die meisten dieser Menschen jünger sind als ich. Diese Menschen haben etwas vor, wollen dringend etwas erreichen, ringen mit bestimmten Fragestellungen, verstehen die Welt auf eine bestimmte Art und Weise, kriechen durch Nadelöhre und erleben eine Krise nach der anderen. Und vor allem: Sie stellen einiges auf die Beine.

Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass diese Menschen in meinem Leben eine Landschaft erörtern, Wege zeigen und Baustellen einrichten, die ich betreten darf, wenn ich will. Wenn ich es nicht will, kann ich es auch lassen. Klar ist, dass ich nachdrücklich gefragt werde, die Baustellen zu betreten. Klar ist auch, dass die Menschen meinen, dass ich etwas beitragen kann. Gleichzeitig lebt in mir aber das klare Gefühl, dass es nicht meine Baustellen sind. Es fällt mir nicht immer leicht, mich gerade mit dieser Tatsache abzufinden.

Mir scheint es so zu sein, dass mit 50+ die Evidenz der Gegenwart auf eine andere Ebene gehoben wird. Ein „Ereignis“ in der Gegenwart ist nicht länger ein Schub aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein, oder umgekehrt ein Zurückgreifen auf die Vergangenheit den sich gestalten wollende Zukunft entsprechend. Das Ereignis in der Gegenwart ist eher ein aufmerksames Schweben zwischen Geschichte und Utopie, ein nachdenkliches Hin- und Herneigen des Herzens zwischen Abschied und neuem Anfang. Und dieser Anfang ist nicht nur deswegen neu, weil er auf die Zukunft bezogen ist, sondern vor allem weil er über mich hinausgeht.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Andrea fragt, wie steht diese Aussage, vom Schweben wischen Anfang und Abschied, die eine Deutlichkeit vermittelt zu der Geschichte was estece in Schweden passiert ist. Da ist doch was Zukünftiges weitreichendes drinnen auch wenn dus noch nicht genau weisst wie und was zu tun ist. Ich bringe das mit den Aussagen vom Quellhofseminar Nov. 2005 in Zusammenhang. Das geht mir nie mehr aus dem Kopf was da alles los war in mir und in den anderen.

Anonym hat gesagt…

"Und dieser Anfang ist nicht nur deswegen neu, weil er auf die Zukunft bezogen ist, sondern vor allem weil er über mich hinausgeht."

Genau. Wunderbar. Und dieses was über Dich hinausgeht, kannst Du erst sein, wenn Du nicht mehr das bist, was Du für Dich hälst.

Stirb und werde.

Es gibt eine Stelle, da muss Jelles Verwandlung zum Ende kommen. Rätsel nicht über den Pfeil, lass ihn wirken was er bewirken will. Jelles Tod.
Die Frage "Warum" beantwortet sich von selber, wenn Du den Pfeil seinen Job machen lässt.

Damit JELLE auferstehen kann muss Jelle nichts tun. Einmal, nur einmal nichts tun.
Jelle hat lange genug am Ich-Gral gearbeitet, jetzt lass ihn gehen, damit der Gral gefüllt wird.
Und dann lebt ES aus Dir.

Du bist so nah. So nah am Licht. Sei das LICHT.

LOVE

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
das ist nicht die normale Erfahrung eines Menschen mit 50+ . Es ist vielmehr die Erfahrung von Menschen, die beinahe ganz real gestorben wären und jetzt noch eine "geschenkte Lebenszeit" leben dürfen.
Kennst Du GA 179? Z.B. die Wirklichkeit der Erinnerung, S.132
Viele Grüße, Barbara 1

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
als "50 Plusser" kann ich das alles nachvollziehen was du schreibst, wunderbare, wertvolle Gedanken. Ansonsten kein weiteres Wort, alles wirkt für sich bzw. für andere.

Offener Mensch, der Jelle (und da ist auch der Gral...der Parzival).

Gruß-Steffen