16.12.2012

Aufbruch mit Scham. Im Zug nach Gummersbach


Mal wieder aufbrechen? Nach fünfundvierzig Jahren? Mich mal wieder in den Fluss der Zeit stürzen? Mich von Melodien leiten lassen? Mal wieder über eine Schwelle gehen? Ohne Scham?
Diesmal nicht ohne Scham.
Der Mann ist noch jung. Er ist unterwegs, im Zug, von Köln nach Gummersbach, lehnt sich bequem zurück, liest ein Buch das ich kenne, das ich durch und durch kenne: „Unterwegs“ von Jack Kerouac, „On the road“ heißt es bei mir, ich habe es vor einer Ewigkeit gelesen, weil, ja, damals war ich unterwegs, ich dachte: gegen den Strom, heute ist mit klar: es war mit dem Strom.
Heimlich beobachte ich den jungen Mann. Er liest über eine Vergangenheit, die nicht seine ist, warum sollte er sonst Kerouac lesen? Mit dem heutigen Tag hat Kerouac nur wenig zu tun, nicht gar nichts, weil eine Vergangenheit nur dann eine Vergangenheit ist, wenn sie die Gegenwart berührt; nur im Nu, im Jetzt gibt es so etwas Irriges wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ich meine: im Hier und Jetzt steigert sich die Gegenwart. Behaupten, dass Kerouac brennend aktuell wäre, käme jedoch der Aussage gleich, dass sich im Zug nach Gummersbach etwas bewegt.
Er liest weiter, ein Drittel des Buches hat er hinter sich. Wie war es auch wieder mit Kerouac? Er war ein Beat. Er wollte mit dem Herzschlag des Lebens leben, das heißt: immer im Bus, nach Frisco, nach Denver, nach NYC. Die Details sind mir nicht mehr so präsent, ich meine jedoch, er brauchte aus Mexiko Papiere, um sich von seiner Frau zu trennen, so etwas... Die Ehe war nicht in Ordnung, zu wenig Beat... Auch Allen Ginsberg kam in dem Buch vor, hieß aber anders, weiß nicht mehr wie; er redete allerdings über das Leben wie Karl Marx über das Kapital schrieb: ziemlich überzeugend.
Aufbruch also, weg vom Hier und Jetzt zu einem anderen Hier und Jetzt. Den Gesundheitsterror gab es damals noch nicht; den Gedanken, dass das Höchste im Leben die Abwesenheit von Krankheiten sei kursierte damals nicht, schlief noch wie ein Jagdhund im Korb. Überall wurde immer geraucht, getrunken, gekifft... Und gefickt... Die Poesie der Beats war irgendwie hart, irgendwie zart, irgendwie dringend, irgendwie grenzenlos... Sie sprach von Aufbruch ohne Scham...
Hit the road, Jack... Der Bummelzug nach Gummersbach kommt an Dierenhausen vorbei, hält ein paar Minuten, niemand steigt aus, niemand steigt ein, der junge Mann liest weiter, verschiebt seinen Po manchmal ein bisschen, die Sitze sind ja auch steif und unbequem. Aber er braucht sich nicht wirklich zu bewegen, Kerouac hat es bereits getan.
Ich schließe meine Augen und bewege mich. Und irgendwo spüre ich eine Sehnsucht nach Aufbruch, dieses Mal jedoch nach einem anderen, nicht einem in Bussen oder Zügen (die sind übrigens längst rauchfrei), nicht von dringenden Texten begleitet (die sind längst veröffentlicht; was gibt es noch zu schreiben?), nicht um Scheidungspapiere aufzutreiben (die Trennung hat längst stattgefunden). Und vor allem: nicht ohne Scham.
Ohne Scham komme ich nicht zu mir.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

.....was gibt es noch zu schreiben?) Ja genau solche Geschichten sind längst nicht alle geschrieben.
Bin froh wieder mal so eine gelsen zu haben: Danke Herzlichst Andrea