12.09.2010

Wunderschöne Verwirrungen. Über konservative und liberale Sackgassen

Menschen die sich konservativ nennen, sind geneigt zu sagen, dass wir im sozialen Leben leider nicht mehr wissen, was richtig und was falsch ist. Aus konservativer Sicht ist etwas verloren gegangen, eine soziale Selbstverständlichkeit, die vor allem in ländlichen Dorfgemeinschaften noch lange standgehalten hat, mittlerweile aber auch dort zerbröckelt ist. Der konservative Geist versucht über Gesetze und moralische Predigten die alte Normen und Werte aufrechtzuerhalten, was längerfristig gesehen ein chancenloses Projekt ist. Der konservative Geist will eine Vergangenheit ohne Zukunft. Jemand wie Thilo Sarrazin versucht im Grunde genommen die Vergangenheit Deutschlands gegen eine prinzipiell unsichere Zukunft, die nur aus Schatten besteht, zu verteidigen.

Wenn man sich progressiv nennt, meint man eher, dass die Begriffe nicht mehr taugen. Vorbildlich sind in dieser Hinsicht einige Philosophen, wie Foucault, Derrida und Sloterdijk, die einerseits mit offenen Augen auf die realen Tatsachen des sozialen Lebens schauen und andererseits die herkömmlichen Begriffe und Ideen dekonstruieren. Sie können und wollen nicht erzählen was „eigentlich“ los ist, weil es so etwas wie „eigentlich“ nicht mehr gibt, oder besser gesagt: nicht geben darf, weil alles „eigentliche“ Denken auf esoterischen oder metaphysischen Annahmen beruht, die letztendlich auf verborgene Machtverhältnisse zurückzuführen sind.

Wo der konservative Geist noch immer bestimmte religiöse Offenbarungen oder moralische Selbstverständlichkeiten akzeptiert und ins Zentrum des Denkens und Handelns platziert, versucht die aufgeklärte Liberalität, sich von Ideen und Idealen, letztendlich von der Geschichte zu befreien. Sie will eine Zukunft ohne Vergangenheit.

Beide Sichtweisen führen in eine Sackgasse, weil die Beziehung zur Vergangenheit traumatisiert ist. Zwischen dem verkrampften Aufrechterhalten und der lieblosen Hinrichtung der Vergangenheit gibt es noch einen dritten Weg, der damit anfängt, dass man beide Gesichtspunkte gleichzeitig für sinnvoll hält: wir wissen nicht mehr was richtig und falsch ist UND die Begriffe taugen nicht mehr. In dieses Paradox einzutauchen, bedeutet so viel wie, sich von der einen oder der anderen Angst zu befreien: der Angst vor den Schatten der Vergangenheit oder der Angst vor den Schatten der Zukunft.

Im Grunde genommen KANN man auch nicht anders, weil die EINE Frage riesengroß im Raum steht: wie kann man überhaupt weiter „denken“, wenn einerseits die Vergangenheit abgehakt ist – ALLES was wir denken, hat seine Quelle in der Vergangenheit – und andererseits die Zukunft als sekundäre und gefährliche Hoheit, die man unbedingt im Griff haben soll, angesehen wird? Man braucht nicht „esoterisch“ zu denken, um einzusehen, dass die Kategorien Vergangenheit und Zukunft von einer höheren Kategorie umfasst werden: nämlich von der Gegenwart.

Mit einer Variante auf eine Äußerung von Goethe: „Vergangenheit und Zukunft, wir sind in der Gegenwart von Euch umschlungen“. Ich habe gerade gesagt, dass man nicht esoterisch denken muss, um die Richtigkeit dieser Aussage einzusehen. Und tatsächlich findet man diesen Gedanken auch öfters bei „nicht-esoterischen“ Philosophen aus dem zwanzigsten Jahrhundert formuliert, etwa bei Heidegger, Foucault und Derrida. Die Konsequenz des Gedankens ist allerdings, dass man anfängt esoterisches Denken ernst zu nehmen – dieser Gedanke ist einer der Türen zur Esoterik.

Vor allem Heidegger hat das auch verstanden, was aus seinem Buch „Beiträge zur Philosophie – Vom Ereignis“ klar hervorgeht. Dort schreibt er zum Beispiel in seiner typischen Sprache: „Die Seinsfrage ist der Sprung in das Seyn, den der Mensch als der Sucher des Seyns vollzieht, sofern er denkerisch Schaffender ist. Sucher des Seyns ist im eigensten Übermaß sucherischer Kraft der Dichter, der das Seyn `stiftet`.“ (S. 11.) Heidegger formuliert hier den Kern des esoterischen Denkens, trivialer und politisch korrekter gesagt: sich kreativ denkend am Leben beteiligen... Jemand wie Rudolf Steiner hätte es nicht besser formulieren können.

9 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle!

Ich muß dabei an Jean-Paul Sartres philosophisches Hauptwerk denken: "Das Sein und das Nichts".
Auch im deutschen Sprachraum finden sich Philosophen, die sich das SEIN zum Thema gemacht haben, etwa Karl Jaspers.

Aber wie man es auch dreht und wendet: die Gegenwart ist der kurze Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, so wie der Strom (z.B. der Rhein zu Köln), den man an der gleichen Stelle zu unterschiedlichen Zeiten betritt, niemals der selbe sein wird.
Seins-Gegenwart ist wie ein Wellen-Surfen im Meer (der Vergangenheit). Wohin uns die Welle eben spült, das ist im Augenblick der Gegenwart noch ungewiß, also entsteht vom Orte der Gegenwart aus ständig etwas Neues, nämlich Zukunft.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

John Wervenbos hat gesagt…

Interessant onderwerp. Houd ook mij bezig. Twee verwijzingen. Zal je artikel later goed gaan lezen, nu ga ik een fijne wandeltocht maken langs de Rotte (Nederland).

1. Het boekwerk Leven het vooroordeel (2007) van Theodore Dalrymple.

2. Drie voordrachten van Rudolf Steiner over dit onderwerp in breder verband (aan de hand van beschrijving van realiteitswaarde Faust epos van de hand van Goethe en Oepidos mythe; Sfinx versus Mefistoteles in het licht van de vierde en het vijfde cultuurtijdperk). GA 158, voordracht 4, 5 en 6.

John Wervenbos hat gesagt…

Kleine toevoeging: bestudering van Dalrymples boek in combinatie met de hier boven aangegeven drie voordrachten van Steiner kan ik zeker aanbevelen.

Anonym hat gesagt…

Bin nicht Lib
Bin nicht Con
Bin nicht nix
Bin Yvonn

Anonym hat gesagt…

Neolib?
Neocon?

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Ich z.B. würde mich heute am ehesten als linksliberal bezeichnen. Aber das sagt eigentlich nicht sehr viel aus.
Gerade musste ich an den bekannten Ausspruch denken: "Wer mit 18 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 80 noch Kommunist ist, der hat keinen Verstand."

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Ruthild hat gesagt…

Lieber Jelle, danke für Deine aktuellen Betrachtungen des seelischen Lebens in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Sie sind einleuchtend. Ich dachte spontan an den Grundsteinspruch: "Menschenseele!
Du LEBEST in den Gliedern,
Die dich durch die Raumeswelt
Im Geistesmeereswesen tragen:
ÜBE Geist-ERINNERN
In Seelentiefen,
Wo in waltendem
Weltenschöpfer - SEIN
Das eigene Ich
Im Gottes - Ich
Erweset;
Und du WIRST wahrhaft leben
Im Menschen - Welten - Wesen...
(R. Steiner)

Die Gegenwart kann Vergangenheit und Zukunft umsschließen.

Liebe Grüße
Ruthild

Andrea hat gesagt…

Ich habe neulich mal wieder den Versuch gestartet die Philosophie der Freiheit zu lesen und im dritten Kapitel dachte ich, dass das Buch Herzwerk von dir im flüssigeren und lebendigeren Schreibstil das Beobachten und Denken beschreibt. So wie auch diese Gedanken von Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft sind ja dort in dem Buch und hier in dem jetzigen Text erlebarer und einleuchtend beschrieben.

Ein Gedicht das ich nie als fertig gefunden habe will ich nun mal hier reinstellen.



Gefangene der Zeiten

Vergangenheit sich unverarbeitet zu Bergen türmt
zerteilter Horizont die Gegenwart erzürnt
die Zukunft seiner innigen Berührung harrt.
das zu ertragen, das ist hart.


Doch wenn Vergangenheit zu Wasser rinnt
immerwährende Gegenwart beginnt
die Zukunft ist dann weich und fliessend
des Feuers Berührung still geniessend.

Liebe durch die Zeiten strömt!

grüsse andrea

Anonym hat gesagt…

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