14.02.2010

Eine Vereinigung für Kindheit. Über eine Lichtung ins Offene

Ich nehme mir diese Woche die Freiheit, auf diesem Weblog ein Thema anzusprechen, dass wahrscheinlich nur ganz wenig Leser interessiert. Es betrifft folgende Frage: welche Aufgabe hat die Vereinigung der Waldorfkindergärten in Deutschland? Mich beschäftigt diese Frage natürlich auch deswegen, weil ich im Rahmen dieser Vereinigung tätig bin. Darüber hinaus aber meine ich allerdings, dass hinter dieser Frage noch eine zweite steckt, nämlich: wie verhalten anthroposophische Einrichtungen sich zurzeit zu ihrem eigenen anthroposophischen Impuls?

Ich möchte anfangen mit einer Aussage von Bernard Lievegoed, einem Anthroposophen aus Holland, der eine ganze Reihe von anthroposophischen Einrichtungen gegründet hat. Er starb 1992. Kurz vor seinem Tod erzählte er mir von einem dieser Institute, dem NPI, einem erfolgreichen Büro für Organisationsentwicklung in Zeist. Sinngemäß sagte er: „Die eigentliche Aufgabe des NPI lag gar nicht darin, Organisationen in ihrer Entwicklung zu helfen. Nein, die spirituelle Aufgabe war diese: den Begriff der Entwicklung in Bezug auf Organisationen in die öffentliche Gesellschaft zu bringen“.

Die Waldorfkindergärtenvereinigung in Deutschland vereinigt zirka 500 Kindergärten. Die Struktur der Vereinigung ist ziemlich kompliziert, lässt sich aber vielleicht so beschreiben: Mitglieder der Vereinigung sind alle Kindergärten, die „Delegierte“ zu den Treffen schicken, wo Entscheidungen getroffen werden. Neben einem Vorstand und einer Geschäftsführung gibt es allerhand Gremien, wie zum Beispiel einen Wirtschaftskreis, eine Seminardelegiertenkonferenz, einen PR-Rat und verschiedene Arbeitsgruppen, die sich auf bestimmte inhaltliche Fragen konzentrieren.

Wichtig ist auch zu wissen, dass die unterschiedlichen Regionen, wie NRW und BW und Niedersachsen, autonom über bestimmte Sachfragen entscheiden können. Die oft unklare Beziehung zwischen Ländern und Bund, so charakteristisch für Deutschland überhaupt, spielt in der Vereinigung eine große Rolle. Die „reichen“ Länder haben dabei oft das Sagen, weil sie die meisten Kindergärten und deswegen die meisten Delegierten haben.

Seit mehreren Jahren wächst die Vereinigung nicht mehr. Es kommen kaum noch neue Waldorfkindergärten dazu. Stärker noch: es gibt schon ein paar Waldorfkindergärten, überall in Deutschland, die sich ernsthaft überlegen, aus der Vereinigung auszutreten. Sie meinen, dass die Vereinigung zu viel kostet, zu wenig leistet oder zu bürokratisch agiert. Im Grunde genommen ist es für Waldorfkindergärten nicht mehr eine Selbstverständlichkeit, Mitglied der Vereinigung zu sein.

Auf die Vereinigung kommen aber neue Aufgaben zu, die in finanzieller Hinsicht jeden Rahmen sprengen. Zu erwähnen sind: die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit, die Vorbereitung der Ausbildung zum Erzieher auf Hochschulebene und die Finanzierung von zehn berufsbegleitenden Seminaren (statt sieben). Die Vereinigung steckt also in einer Klemme: um vorwärts zu kommen, wird mehr Geld gebraucht, was es aber nicht gibt. Das Loch betrifft locker zirka 300.000 Euro jährlich.

Was nun? Ich meine, dass die eigentliche Krise der Vereinigung in der Tatsache liegt, dass sie sich als eine „Vertretung-von-Einrichtungen“ versteht und definiert. Die Hauptsache in der Vereinigung ist immer wieder die Frage: Wie können die Waldorfkindergärten, die Fachschulen und die Seminare als Institutionen überleben? Auf unterschiedlichen Ebenen hat dieses Selbstverständnis eine verheerende Wirkung. Wenn es zum Beispiel um die berufsbegleitenden Seminare geht, kann man oft den Eindruck haben, dass sie sich manchmal wie Konkurrenten verhalten (was in gewissem Sinne natürlich auch stimmig ist).

Mir scheint es aber so zu sein, dass der anthroposophische Erziehungsimpuls eine öffentliche Vertretung braucht, die über die Belange der verschiedenen Einrichtungen hinausgeht. Letztendlich geht es nicht nur um die Frage, wie die Waldorfkindergärten überleben können, sondern vor allem um die „spirituelle Aufgabe“ (Lievegoed), nämlich, die anthroposophische Sichtweise auf aktuelle Erziehungsfragen weiter zu entwickeln und in der Öffentlichkeit FREI zu vertreten. Den Gedanken der Waldorferziehung könnte es überall geben, zum Beispiel auch in Kindergärten und Horten und Tagesstätten, die sich gar nicht als Waldorf-Einrichtung verstehen.

Um diese Aufgabe zu ergreifen, so meine ich, könnte die Vereinigung sich in eine Art „Amnesty International“ für Kindheit verwandeln. Das würde heißen, dass die Grundstruktur der Vereinigung aus individuellen Personen (also nicht aus Einrichtungen) bestehen wird, Privatpersonen also, die aus freiem Entschluss den Impuls der anthroposophischen Erziehung unterstützen. Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, Nachbarn, Erzieher und Erzieherinnen, aber auch Lehrer und Politiker und Journalisten und Künstler und Bäcker und Handwerker und (ja: sogar!) Dichter, können sich in diese neuen Strukturen finanziell und kreativ einbringen.

Ich meine, dass diese Wende auch im Sinne Rudolf Steiners wäre, dem Urheber des anthroposophischen Erziehungsimpulses. Natürlich bleibt die Frage offen, wie die Waldorfkindergärten sich im Rahmen dieser Lichtung-ins-Offene organisieren. Innerhalb der Vereinigung könnte es aber eine Ebene geben, auf der Qualitäts-, Rechts- und Wirtschaftsfragen getrennt angegangen werden. Anders gesagt: die Mitglieder der Vereinigung, die in einer Einrichtung als Erzieher oder Vorstand oder Geschäftsführer eine konkrete Verantwortung tragen, können sich dementsprechend auf gemeinsame Entscheidungsprozesse einigen.

Vieles gibt es noch zu überdenken. Im Kern aber meine ich, dass diese Wende ansteht. Eine Vereinigung, die sich primär als eine Vertretung von Organisationen versteht, kann sich nicht frei an den Nöten in der allgemeinen Gesellschaft beteiligen. Diese Vereinigung ist, wie man es auch kehrt und wendet, ein Auslaufmodel.

Und vielleicht als Hilfe noch eine rhetorische Frage: Sind an diesem Dilemma nicht schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Gewerkschaften gescheitert? Was erst als Instrument einer dynamischen sozialen Bewegung verstanden wurde, verengte sich zu einer Belangen- und Dienstleistungsorganisation.

11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Obwohl wir uns nicht kennen, erlaube ich mir zu schreiben: Lieber Jelle... Also, lieber Jelle, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Waldorfkindergärten gar nicht die Kraft haben, einen Sprung in die Öffentlichkeit zu machen. Sie können es nicht, und sie wollen es nicht. Leider... Aus Hamburg, S. Zl.

Anonym hat gesagt…

sich frei an den nöten der gesellschaft beteiligen...
ja, da stimme ich überein.
Ich merke nicht viel von der vereinigung, hier in whv ist die welt scheints zu ende. an Fortbildungen kann man schon der entfernung wegen schlecht, bzw. garnicht teilnehmen. auch hier könnte sich etwas ändern, sprich: "fortbildung auf Rädern"! denn meist gibt es nur noch teilzeitstellen,zuwenig um eine sinnvolle weiterbildung zu schaffen. so plätschert das ganze dahin. deine gedanken finde ich gut, auch als einzelner kann ich die waldorfpädagogik "leben" lassen.und das es um belange geht über die verschiedenen einrichtungen hinaus, sehe ich auch so. das gilt auch für jede einrichtung selber, sonst verlieren sie ihre handlungfähigkeit.ja als privatperson die waldorfpädagogik weitergeben,ja mit und ohne kraft, die kommt wenn man den weg geht.ich denke schon lange in dieser richtung nach.
gruß. birgit

Christian Grauer hat gesagt…

Obwohl ich nichts damit zu tun habe ist der Eintrag alles andere als uninteressant.
"eine Art 'Amnesty International' für Kindheit" großer Gedanke! Klasse.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
ich arbeite mit Kindern und würde einen mutigen Sprung der Waldorfkindergärten in die Öffentlichkeit begrüßen, aber dazu gehört für mein Verständnis auch ein mutiges Abstauben von Überholten Strukturen, ein sensibles Bewahren der Essenz und ein selbstbewusstes Annähern an den Zeitgeist.
Dann könnte das antroposophische Menschenbild, bzw. das Bild vom Kind, Einzug in andere Arbeitszusammenhänge und Einrichtungen halten. Bisher ist es eher so, dass es belächelt und missverstanden wird. Ich erlebe solche Reaktionen häufig, wenn ich auf den Wert der Waldorfpädagogok hinweise. Darunter verstehen viele Kollegen "Schafwolle, Naturleder, Wichtel, Holzspielzeug und diese niedlichen Stoffpuppen.....usw.
herzlich
Nene

KlausMaria hat gesagt…

Obwohl ich mit Christian Grauer nicht oft im Einklang bin, dieses Mal schon: Wahrlich ein großer Gedanke, lieber Jelle. In solch einer Vereinigung, wie eine Art 'Amnesty International für Kindheit' werde ich sofort Mitglied. Doch ob das Alte sich aus sich heraus wandeln kann bezweifle ich. Vielleicht muss eher neben dem 'alten Baum' schon eine neuer, zukünftiger Setzling herangezogen werden.
Einen herzlichen Gruß ins Jeckenland.
KlausMaria

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Heldentod

Wimpel flattern, frische Brise.

Sonne dringt durch Hängewolken.

Viele Vögel flattern wild.

Möwenschreie schrecken Fische.

Sonntagsgäste liegen plump
auf dem Yachtendeck herum.

Fischer sind schon längst vertrieben,
von der Hast des nahen Mittags.

Kinder, spielend,
- Erbauen neue Welten -
Formen Sand zu festen Türmen,
Ziehen siegreich nach den Feinden,

Stürzen Burgen, trampeln Pfade,

Manch ein Feind fängt
- plötzlich Kind -
dann an zu weinen.

Strandgespenster ziehen um,
sind wie Riesen faul und dumm.

Schreien bloß: Mach dich nicht
dreckig! Sei schön artig!

Putz die Nase! Komm zum
Essen!

Schnell und hurtig, rasch, voran!
Stiefeln dann die kleinen Helden,
Schwerbeladen,
Mit Schaufel und Spaten,
Siegestrunken,
unwillig heran.

Sind entsetzt von der Mama,
die das Strandöl heut vergaß.

Lauf zum Kiosk, lauf
mein Kleiner,
Spielen kannst du nachher
weiter.

(Michael Heinen-Anders)

Maria Becker hat gesagt…

Sind die zukünftigen "Setzlinge" nicht schon da?
Genau auf diese käme es sicherlich mit an, ob so eine gute Idee an Kraft gewinnen könnte, um eine solche Organisation wie die Vereinigung der Waldorfkindergärten von innen und außen und drumherum zu "lichten".
Das wird sehr schwierig werden.
Viele Arbeitsplätze & Arbeitsorte sind ja auch dort innerhalb des Bundes entstanden und wer will das Alles schon aufgeben?
Es müsste sukzessive umgewandelt werden. Puh, es ist das alte Lied...Es kommt auf die Stärke einzelner Persönlichkeiten an, die dort maßgeblich arbeiten; auf die Stärke und den Charakter sozusagen und es wird vor allen Dingen auf die eigene Einsicht ankommen. Diese Einsicht in den von Jelle beschriebenen Tatbestand- alleine da sehe ich schon große Probleme.
Ansonsten wird das Leben es schon ganz von selber richten.-Wenn soviel nötiges Geld an dieser Stelle nicht mehr da ist- rationalisiert es sich von selber weg.
Irgendwie auch schrecklich!
Dann doch lieber ran an den Speck!(vielmehr den angewachsenen Filz)
Wenn ich als Patient erfahre, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, weil meine tragende Physis es nicht mehr machen wird, muss ich dem doch auch begegnen lernen, sonst kommt der Tod mit einem Mal und ich habe meine Chancen, ihn auch als einen großen Wandler anzunehmen vertan. nun, das ist alles leicht dahergesagt und ich habe die Weishaeit auch nicht mit den Löffeln gefressen.
Die Vereinigung als Vereinigung kommt mir derartig unnahbar vor und auch verschanzt hinter all der bemüht gestalteten Organisation, diese verbirgt aber auch Etliches, was schon längst marode ist.
Wie in der Politik- wie gut es wäre, wenn dort und auch hier-einzelne Persönlichkeiten aus den eigenen Intentionen (innerlich wie öffentlich)wirken könnten!
Wunderbare Zukunftsmusik!
Liebe Grüße und Danke! Maria

Anonym hat gesagt…

Bin begeistert. Nitta

Henning Köhler hat gesagt…

Lieber Jelle, da empfiehlst du ja für die Vereinigung der Waldorfkindergärten so etwas Ähnliches wie das, was mir mit der Akademie für Kindheitswissenschaft vorschwebte (und weiterhin vorschwebt)... und wenn ich mich nicht irre, sollte auch die "Allianz for Childhood" ursprünglich mal so was werden, das ergab sich jedenfalls aus den Gesprächen, die ich damals mit Herrn Flinspach (?) hatte. Neuerdings wird mir der Gedanke immer sympathischer, die - bislang - virtuelle Akademie für Kindheitswissenschaft in "European Council (oder Academy?)for Childhood Affairs" umzutaufen.
Das Basis-Netzwerk ist eigentlich wie von selbst entstanden, allerdings sollten nach meinem Dafürhalten nicht nur Waldorfleute dabei sein. Du kennst ja mein Anliegen, die interessantesten
"Strömungen" ins Gespräch zu bringen. Es geht ja letztlich nicht um xyz-Pädagogik (ach, immer diese Lagerbildung!), sondern um "Pädagogik FÜR Kinder" - nach einem Jahrhundert der Pädagogik ÜBER DIE KINDER HINWEG, wenn nicht GEGEN sie. Glückwunsch zu deinem Blog insgesamt, habe heute mal wieder auf einen Rutsch viel gelesen!
Liebe Grüße
Henning

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Henning, schön von Dir auf meinem Weblog zu lesen! Ich glaube schon, dass die Gedanke der Kindheit uns verbindet. Finde ein Council auch gut! Herzlich, Jelle

R. Soltau hat gesagt…

Ich freue mich sehr über die Beiträge dieses Blogs, dass eine Pädagogik bis in die Öffentlichkeit angestrebt, gesucht, ersehnt wird, die ganz von den Kindern ausgeht. Mir scheint, dass sich dann auch "von selbst"(?) die gesellschaftlichen Formen finden können oder anders gesagt: die Engel der Kinder werden diese Formen mit den Menschen, die sie begleiten, schaffen.
Herzliche Grüße
Ruthild