15.06.2009

Sehen und gesehen werden. Über Peter Sloterdijk und Religion

Wir sind durch & durch mit der Erfahrung vertraut, dass uns ein Mensch anschaut. Gesehen werden gehört zum Leben, obwohl wir die Erfahrung manchmal als unangenehm erleben. Angeschaut & gesehen werden, führt zu der merkwürdigen Erfahrung, dass wir uns selber als Objekt erleben – in dem Blick des Anderen werden wir zum Gegenstand. Diese Spaltung zwischen Ich-als-Subjekt und Ich-als-Objekt verunsichert uns.

Am deutlichsten merken wir das, wenn wir einander länger in die Augen schauen. Sofort entsteht ein Spiel von sehen & gesehen werden. Die Augen bewegen sich unruhig hin und her & das innere Erleben springt blitzschnell vom Subjekt-Sein zum Objekt-Sein & wieder zurück. Offenbar scheint es schwierig zu sein, die beiden „Perspektiven“ gleichzeitig gelassen & souverän zu handhaben. Für das normale Bewusstsein stehen sie einander im Wege.

Angeschaut & gesehen werden, so meinen wir, geht nur, wenn das Gegenüber Augen hat. Menschen können uns sehen, Steine & Pflanzen & künstliche Gegenstände & Landschaften können das nicht. Bestimmte Tiere können es auch: manchmal erscheint neben mir im Garten kurz ein Zaunkönig & schaut mich neugierig an. (Aber nein, mit ihm entsteht das Spiel von sehen & gesehen werden nicht. Einem Vogel kann man merkwürdigerweise nicht in die Augen schauen.)

In seinem letzten Buch „Du mußt dein Leben ändern“ (Suhrkamp, 2009, S. 44) meint Peter Sloterdijk zu Recht, dass das religiöse Erleben die Beziehung zwischen Subjekt & Objekt exakt umdreht. In seinen Worten: „Auf der Position, wo üblicherweise das Objekt erscheint, welches ebendarum, weil es Objekt ist, niemals zurückschaut, ´erkenne` ich nun ein Subjekt, das die Fähigkeit besitzt, zu schauen und Blicke zu erwidern“.

Für das religiöse Erleben ist die objektive Welt genau so beseelt, wie die subjektive. Sterne & Wälder & Flüsse & Wolken & Findlinge schauen uns mit unsichtbaren Augen an. Dieses Tauschen (ich glaube, Sloterdijk meint eher ´Täuschung`) spielt sich nicht nur auf der Ebene des Sehens ab – sondern die Positionen wechseln sich auch im Sprechen & Hören. Für das religiöse Leben gilt, dass die objektive Welt uns hört & zu uns spricht.

(Interessant ist, dass diese Umdrehung sich nur auf das Sehen & Hören bezieht – wenn es um Riechen, Schmecken & Tasten geht, scheint die Beziehung zu den Dingen der Welt einseitig zu bleiben. Bäume & Teiche & Planeten riechen & berühren & schmecken uns nicht. Liegt das daran, dass Sehen und Hören irgendwie enger mit dem verwoben ist was wir das Selbstbewusstsein nennen?)

Sloterdijk kommt auf das Thema der sinnlichen Umkehrung, weil er den Titel seines Buches zu erklären versucht. Die Aufforderung „Du mußt dein Leben ändern“ kommt aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke, in dem das poetische Subjekt von einem Torso angeschaut & angesprochen wird. In dem Torso gibt es ein „Schauen“, dass sich „hält und glänzt“ – es gibt „keine Stelle, die dich nicht sieht“. Am Ende des Gedichtes spricht dann der Torso die berühmte Mahnung aus, die Sloterdijk als Titel seines Buches gewählt hat.

Anders als Peter Sloterdijk meinte Rainer Maria Rilke, dass die objektive Welt tatsächlich beseelt sei. Man könnte, wenn man wollte, Rilke diesbezüglich naiv nennen, aber nur wenn man es absichtlich wollte: denn die Frage, was hier genau vorliegt, wird nämlich auch von Sloterdijk nicht beantwortet. Auch wenn man mit Sloterdijk einverstanden ist, dass Religionen eigentlich Übungssysteme sind (ein Gesichtspunkt, der in der Soziologie geläufig ist – dort wird meistens nicht von „Übungen“, sondern von „Kontrolle“ oder „Regeln“ gesprochen) bleibt die Frage stehen: beruht die Verwechselung der Positionen auf einer Täuschung?

Falls ja, dann geht es um eine sehr hartnäckige Illusion, die aber alleine dadurch nicht einfach abgehakt werden kann, weil sie die moderne Sichtweise „ich-bin-das-Subjekt“ & „das-Ding-ist-das-Objekt“ mit hervorgebracht hat. Anders gesagt: ohne die „religiöse“ Disposition ist die „naturwissenschaftliche“ Disposition nicht zu denken. Ohne die Krücke namens Religion, kann das Bein namens Wissenschaft keinen Schritt gehen.

Wenn man nicht auf die geronnenen Religionen und „jüngeren Religionsexperimente“ (Sloterdijk, S. 141) schaut, sondern auf die religiösen Empfindungen die wir Menschen offensichtlich hatten & haben (und die sich in soziale Verhaltenssysteme umgesetzt haben), stößt man unvermeidlich auf die Frage: was sind Gefühle? Die Erfahrung, dass es Objekte gibt, die uns auf irgendeine Art und Weise sehen & dass die Welt auf irgendeine Art und Weise zu uns „spricht“, beruht auf einem Gefühl.

In Gefühlen gestalten sich Beziehungen. In meinen Gefühlen wird „dein“ Dasein nicht nur bejaht & bestätigt & aufgenommen, sondern auch mitgestaltet & vervollständigt. Erst in meinen Gefühlen bist du was du bist. Oder: erst in meinen Gefühlen, wird der Zaunkönig, was er sein will: ein Botschafter der neugierig schaut & tzik tzak spricht.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

ja, einverstanden.welch eine bereicherung an gegenständen, die gesehen werden wollen und gehört. die ganze welt, die sichtbare und die unsichtbare.
eine welt.
der baum wird baum wenn ich ihn wahrnehme, neu in mir erschaffe?
wenn meine enkelin zum ersten mal regentropfen wahrnimmt, dann "atme" ich ihr erleben ein und ich begegne in kleinsten augenblicken mit ihr ganzen welten...
danke, birgit

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Und der holländische Dichter Remco Campert hat geschrieben: Poezie is een daad van bevestiging./ Ik bevestig dat ik leef. / Dat ik niet aleen leef". Jelle van der Meulen

Katharina hat gesagt…

Man könnte auch sagen: lieben und geliebt werden!
...Offenbar scheint es schwierig zu sein, die beiden „Perspektiven“ gleichzeitig gelassen & souverän zu handhaben. Für das normale Bewusstsein stehen sie einander im Wege....
Für mich scheint es so zu sein, dass zu lieben/sehen eher möglich ist, als geliebt/gesehen zu werden.
Oder ist das nur bei mir so?

Andrea hat gesagt…

Liebe Katharina, ich kenne dich von hier auf Jelles Blogsite und sage auf diesem wege spontan, " ich umarme dich" die anderen Gedanken die in meinem Kopf rum schwirren sind mir oft so umständlich mitzuteilen. Grüsse Andrea

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Ich glaube, dass Walter Benjamin sich an deine Überlegungen anschließen würde.

Er hat meines Wissens nicht davon gesprochen, dass "Objekte sehen können" - er hat aber deutlich gemacht, dass "Objekte sich aussprechen können".

Walter Benjamin war sehr mit der Sprache verbunden. Von daher diese Formulierung - nehmme ich an.

Er hat von der stummen Sprache geschrieben, die sich ihm schon als Kind offenbart hat. All die Dinge um ihn herum haben sich ausgesprochen - haben in ihrer Sprache zu ihm gesprochen - haben etwas von sich gezeigt, gegeben.

Wenn Sloterdijk also schreibt, dass uns die objektive Welt mit unsichtbaren Augen anschaut, dann würde Benjamin sagen, dass sich die objektive Welt mit unsichtbaren Mündern ausspricht.

Und auch er schlußfolgert, dass dieses Aussprechen der Objekte erst dann einen Sinn macht, erst dann irgendetwas bewirkt, wenn sich das Subjekt einklinkt, wenn Bezüge entstehen. Wenn eine Melodie zwischen Subjekt und Objekt entsteht - wenn etwas zum Klingen kommt.

Und das wiederum bedeutet, dass es um Gefühle geht, - so, wie du es beschrieben hast - mit Benjamin könnte man es auch die Aura nennen, die zwischen Objekt und Objekt, Subjekt und Objekt oder Subjekt und Subjekt entsteht.

Der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt kann nur auf Grund der Position beschrieben werden - so, wie wenn wir zum Beispiel den Prozess von Geben und Nehmen beschreiben.

Die Positionen wechseln. Ständig.

Und - Objekte sind mehr als kalte, tote oder unselbständige "Gegenstände" - wenn das Subjekt es will.

Herzlich, Sophie

P.S. In meinem nächsten Blog-Beitrag schreibe ich über Walter Benjamin - den ich sehr mag.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Walter Benjamin mag ich auch. Weil man gerade das über Walter Benjamin sagen kann: dass man ihn mag... (Könnte man das über Heidegger sagen? Oder Foucault? Ich würde sagen: nein! Walter Benjamin ist irgendwie "berührbar".) Ich bin gespannt auf deinen nächsten Blog-Beitrag. Herzlich, Jelle

Ruthild Soltau hat gesagt…

Lieber Jelle, gibt es nicht viele Möglichkeiten für uns, berührt zu werden? Gerade auch durch das Sehen? Es gibt Blicke, da habe ich das Gefühl, ich werde abgetastet. oft ist das unangenehm, aber nicht immer. Ich beobachte selbst manchmal Menschen: Ihr Blick ist ein liebevolles Tasten der ganzen Umgebung, und von mir selbst kenne ich das auch: Wenn ich durch den Garten gehe, fühle ich mich so als ob ich mit den Blicken die Pflanzen streichel.
Herzliche Grüße Ruthild

Ruthild Soltau hat gesagt…

Lieber Jelle, gibt es nicht viele Möglichkeiten für uns, berührt zu werden? Gerade auch durch das Sehen? Es gibt Blicke, da habe ich das Gefühl, ich werde abgetastet. oft ist das unangenehm, aber nicht immer. Ich beobachte selbst manchmal Menschen: Ihr Blick ist ein liebevolles Tasten der ganzen Umgebung, und von mir selbst kenne ich das auch: Wenn ich durch den Garten gehe, fühle ich mich so als ob ich mit den Blicken die Pflanzen streichel.
Herzliche Grüße Ruthild

Anonym hat gesagt…

Ich sehe was, was du nicht siehst und das sind deine Augen. Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist deine Mimik. Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist deine Ausstrahlung. Ich sehe was, was du nicht siehst und das BIST DU. Ich erkenne dich, also BIST DU.

Anonym hat gesagt…

Interessant: der Eindruck, dass Dinge / Pflanzen uns sehen, aber nicht schmecken, riechen, tasten... woher kommt er?
Ich glaube, dass das Einssein sich im Sehen am leichtesten erspüren lässt - vielleicht, weil das Sehen (derzeit?)der bewußter genutzte Sinn ist und wir die dazughörigen Eigenschaften am ehesten in uns einlassen können? Ich fühle mich wahrgenommen, wenn ich angenommenen, gerügt, abgelehnt oder geliebt werde - alles meist aus dem Sehsinn resultierend. So kann ich auch einen Baum - und er mich - ansehen. Weniger werde ich als würzig, duftend oder weich definiert.
Danke für die GeDankeN!
Christiane B.