12.11.2008

Die letzte Novemberrose. Eine klassische Liebesgeschichte

Mein Großvater pflegte einen Garten. Er wohnte in Doesburg direkt an der IJssel, dem schönsten Fluss in den Niederlanden. Sein Garten war wie ein Paradies für mich. In meinen Kinderaugen hatte der Garten alles, was ein Garten braucht, um ein richtiger Garten zu sein: einen Apfelbaum, Tomaten, Bohnen & Bohnen & Bohnen, Himbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren, Salat... und rote Rosen.

Ich traute mir damals nicht zu, in den Garten zu gehen. Pflanzen & Sträucher & Bäume waren mir fremd. Jetzt würde ich sagen, dass ich meine Innenwelt – mit meinen Träumen & Phantasien & Stimmungen & Überlegungen – ganz und gar nicht mit den stillen & schweigenden & regungslosen Erscheinungen in Verbindung bringen konnte, die mein Großvater so liebte. Die Pflanzen sollten mir selber nicht zu nahe kommen. Übrigens: mit Blumen hatte ich diese Befangenheit nicht.

Ich liebte es aber, von außen in den Garten hinein zu schauen. Und weil es am Rand eine Bank gab, setzte ich mich immer wieder hin, und schaute in den Garten. (Ich weiß noch, dass meine Beine zu kurz waren und herunter baumelten.) Vor allem dann, wenn mein Großvater im Garten arbeitete, saß ich gerne dort. Ich folgte seine Bewegungen und erlebte indirekt eine Berührung mit den fremden grünen Wesen. Eines Tages geschah das Folgende:

Mein Großvater kam auf mich zu und sagte: „Jelle, öffne deine Hände, so wie eine Schale...“ Ich verstand sofort was er meinte. (Auch daran erinnere ich mich: ich verstand immer sofort was mein Großvater meinte.) Als ich meine Hände geöffnet hatte, holte er hinter seinem Rücken eine Rose hervor, so rot und so groß, wie eine Rose rot und groß sein soll, um eine richtige Rose zu sein. Er legte sie in meine Hände – sie passte dort gerade hinein, und er sagte: „Für dich“.

Und ich wurde eine Rose. Drei, vier, fünf Tage lang gab es in der Welt nur noch diese Rose für mich, diese wunderbare rote-samtweiche-duftende Erscheinung, dieses „Ding“, das gar kein „Ding“ war, sondern ein musikalisches Bild, das zwar in meinen Händen lag, in Wirklichkeit mich aber durchflutete & vereinnahmte & beherrschte. Die ganze Welt war zur Rose geworden.

Seitdem habe ich eine Liebesbeziehung zu Rosen. Ein paar Jahre später stellte ich aufgeregt fest, dass es über Rosen eine Menge zu wissen gab. Ich fing an Bücher über Rosen zu lesen, einfache für Kinder, schwierige für Biologen. Und ich legte Rosen auf meinen Tisch, nahm sie auseinander, zählte die Blätter, ordnete die unterschiedliche Teile. Ich wurde ein kleiner Rosen-Spezialist.

Und ich merkte nach einer Weile: der Rose war gestorben. Die anfängliche & überrumpelnde Erfahrung, dieses von der Rose „erobert“ zu sein, kam nie wieder. Statt dessen war die Rose tatsächlich ein „Ding“ geworden, eine Erscheinung außerhalb von mir, worüber es ganz viel zu wissen gab, und die höchstens gemütlich-ästhetisch in einer Vase auf meiner Fensterbank stand. Ich stellte fest, dass ich die Rose verloren hatte.

Der Schmerz des Verlustes kam. Wie sieht das Leben ohne eine Rosen aus, ich meine: ohne eine Rose in mir? Als Erinnerung war die Rose noch da, und immer wieder erlebte ich wie ein Echo eine Art Hauch, ein Nachklang der Liebe für die Rose. (Ja, mein Großvater: noch immer sind meine Erinnerungen an ihn mit solchen Verlusten verbunden. Ich war sechzehn als er starb. Mit seinem Tod ging ein Ära definitiv zu Ende.) Lange & lange & lange lebte ich mit diesem melancholischen Wissen: irgendwann gab es mal etwas, das nie mehr zurückkehren würde.

Es dauerte eine wüste-weite-Ewigkeit bevor ich noch etwas feststellte, nämlich, dass irgendwo in meiner Melancholie auch ein Wunsch steckte, eine Sehnsucht, ein Verlangen nach der Rose. Ich nahm den Wunsch aber nicht ernst, weil ich meinte: dass es keinen Weg zurück geben werde. Ich verstand meine Sehnsucht also als die unerreichbare Rose selber. (Ist das nicht das Herz der sogenannten Modernität: eine Sehnsucht zu haben, die wir für unrealistisch halten? Womit wir also nichts tun haben wollen?)

Jetzt bin ich auf der Suche. Und pflege Rosen in meinem Garten in Köln. Letzte Woche noch hat sich – ich hatte gar nicht damit gerechnet – eine Rose entfaltet, ich nenne sie „die letzte Novemberrose“. Sie schwebt hoch in den Wind und scheint selbstbewusst zu sagen: „Ich trage dich weit in den Herbst hinein. Auch wenn du nicht mit mir rechnest, bin ich da“. Ich stelle mir den Song „Novemberrain“ von Guns N` Roses vor und verstehe die Rose in meinen Garten als ein Solo von Slash.

Ich bin auf der Suche nach vorne. Ich kehre also nicht zurück in die Vergangenheit. Ich versuche gar nicht, meine Erinnerungen aufzuwärmen. Ich versuche das Suchen zu verstehen als einen nächsten & vorsichtigen Schritt nach vorne in einer Liebesbeziehung, die schon lange existiert. Ich versuche mich delikat & unspektakulär & taktvoll & lauschend & spürend an die Rose neu heran zu tasten.

Diesmal werde ich die Rose erobern. Aber langsam.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

6 Kommentare:

Jasna Caluk hat gesagt…

Schön, ich bin grad mal in meine Teenagerzeit zurückgegangen, wo mich der November-Regen durch einige liebeskummernde Nächte begleitet hat.

http://www.youtube.com/watch?v=siBoLc9vxac

"Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd. Sie sind dauernd und ewig, weil sie nicht sich selber leben. Deshalb können sie ewig leben. Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan, und sein Selbst kommt VORAN. Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten. Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, darum wird sein EIGENES VOLLENDET?" LAOTSE

Und dann blühen NovemberRosen.

Herzliche Grüsse
Jasna

Anonym hat gesagt…

Eine schöne stolze Rose steht bei mir im Zimmer, so schön rote Blütenblätter, so kräftig der Stiel und die Blätter und ein so schöner zarter Duft und auch so schön, sie ist von meinem Schatz.

Er ist auch ein Gärtner er pflegt das Grüne und Bunte vor unserem Fenster. DANKE KNUUTSCH!

Anonym hat gesagt…

Lieber großer Jelle (& und auch inkl. der kleine Jelle von damals.., alles im jetzt zusammen vorhanden!ich könnte auch sagen: liebes Zwiebelchen)
Also: Um Deine Liebesbeziehung zu bekräftigen, sende ich Dir ein Rosengdicht:
Das Rosen-Innere
Wo ist zu diesem Innen
ein Außen? Auf welches Weh
legt man solches Linnen ?
Welche Himmel spiegeln sich drinnen
in dem Binnensee
dieser offenen Rosen,
dieser sorglosen, sieh:
wie sie lose im Losen
liegen, als könnte nie
eine zitternde Hand sie verschütten.
Sie können sich selber kaum
halten; viele ließen
sich überfüllen und fließen
über von Innenraum
in die Tage, die immer
voller und voller sich schließen,
bis der ganze Sommer ein Zimmer
wird, ein Zimmer in einem Traum.
(von RainermariaRilke)
ist das nicht herrlich?
sincerly maribe

CP hat gesagt…

Ich arbeite seit einiger Zeit mit Menschen im Krankenhaus und es pasiert so schnell, das Menschen zur Niere, zur Leber o.ä werden.
"Ah, sie meinen die Leber in Zimmer 292!" ,,Nein, ich meinen den Illeus in 310"
Der Mensch wird zu einem Ding und es wird schnell vergessen, das er schon eine lange Reise hinter sich hat, das er ein Wesen ist. Das "wesentliche" in den Dingen wieder zu erfahren ist, wie Sie wohl schreiben, unsere tiefste Sehnsucht.

Es grüßt herzlichst aus der Ferne,
Christoph Prange

gabriela hat gesagt…

hallo jelle ,
lichtjahre scheint´s bin ich von euch da oben nun entfernt , inselartig leis , mit flor (katze) , meiner rose , die eine "katzenrose" ist- sooo schön ist sie - innen , aussen , überall, wenn ich sie berühre mit dem augenherzen und mit dem fingerspitzenherzen.
das ist so wichtig hier in meinem neuen leben am bodensee.

davor einmal war da die so ach so weisse , so unglaublich weisse melodierose.
6 wochen lang , bis weihnachten jenes jahres , bis zum heiligen abend , blühte sie , als ich mich verband vor jahren mit meinem indischen lehrer und meister und ich sang diese elementemelodien und berürte sie dabei mit dem augenherzen , mit dem fingerspitzenherzen.
das war so wichtig für mich in meinem damals neuen leben.

noch weiter zurück in den biographischen etappen empfing ich jeden tag eine samtige dunkelrote zauberrose, so sanft , wie die sanftheit , mit welcher mich der mensch wertschätzte , der sie mir reichte tag für tag, weil meine lieblingsmeditation war:"eine rose ist eine rose ist eine rose".(das hatte einmal st.exupery,s kleiner prinz gesagt....oder doch die anna in :hallo mr.gott?).
auch die zauberrosen berührte ich mit dem augenherzen und dem fingerspitzenherzen,wenn ich tanzte und sang und mich "frei zu tanzen versuchte"aus zwängen.
das war so wichtig für mich in meinem damals ganz neuen leben.

es ist grossartig , wo und wann und wie rose auftaucht in meinem leben und immer ist es , wie die farbe purpur auf mich wirkt.

da kann und darf ich so ganz sprachlos sein - so ganz jenseits der wortwelt einen raum kurz berühren.

was für ein geheimnis die rose!

danke jelle , für deine wunderbare rosengeschichte

liebe grüsse ,
gabriela

Anonym hat gesagt…

Liebe Gabriela, schön von Dir zu hören! Herzlich, Jelle van der Meulen