20.10.2008

Die Machtfrage in einer Kultur des Herzens. Über das Tier in uns.

Populär ist die Auffassung, dass man sich vom Willen zur Macht befreien soll. Irgendwie soll man diesen dunklen Trieb-zum-Herrschen loswerden & hinter sich lassen & auflösen. Man soll frei von Macht werden, sich „gewaltfrei“ verhalten (zum Beispiel „gewaltfrei kommunizieren“). In dieser wohlwollenden Vorstellung schwingt immer irgendwie der Gedanke mit, dass Menschen keine Tiere (mehr) sind. Tiere sind noch den Trieben unterworfen – Menschen haben die Möglichkeit, sich davon zu befreien - und sollten das auch tun.

Was ist aber eigentlich Macht? In alten mythischen und religiösen Vorstellungen werden die Götter als „Machtinhaber“ vorgestellt. Donar hatte Macht & konnte deswegen richtig donnern & das war auch gut so. In der christlichen Lehre der göttlichen Hierarchien gab es Engel & Erzengel & Throne & eben auch „Mächte“ (Dynamis), die laut Dionysos der Areopagit fünf Stufen über dem Menschen stehen. Und dass die Mächte mächtig waren, hieß noch nicht, dass sie auch schlecht waren. 

Das Wort Macht (alt-germanisch „maht“) bedeutete ursprünglich „können“. Macht haben heißt, etwas können, vermögen. Wenn jemand es also vermag ein Haus zu bauen, hat er die Macht dies zu tun. Und wenn Angela Merkel es vermag ein neues Gesetz durchzusetzen, hat sie die Macht dies zu tun. Und wenn ich einen Blogbeitrag schreibe und veröffentliche, habe ich die Macht dies zu tun. (Was wäre ein Leben ohne Häuser & Gesetze & meine Blogs?)

In der Philosophie (vor allen durch Schopenhauer, Nietzsche & Foucault) ist der Begriff Macht schon längst „neutralisiert“ worden, genau so, wie das in den alten mythischen Vorstellungen war. Michel Foucault zum Beispiel hat sich sehr bemüht, den Machtbegriff von der komischen Vorstellung zu befreien, dass bestimmte Menschen Macht haben, und andere nicht. Er meinte, dass Macht immer eine Rolle spielt, in allen möglichen menschlichen Beziehungen. So bald zwei Menschen zusammen sind, gibt es eine Machtfrage. Und das ist auch gut so, weil ohne Macht nichts zustande käme. (Wir würden nicht einmal gemeinsam Urlaub machen.)

Die Frage ist also ganz und gar nicht, wie wir uns von der Macht befreien können. So etwas Wohlwollendes wie ein „machtfreies“ Verhalten kann es gar nicht geben, und soll es auch nicht geben. Der einzige Zustand der Machtfreiheit, ist der Zustand des gelähmt Seins. (Dass der Zustand der Lähmung & der Ohnmacht auch Wunderbares bringt, nämlich Bewusstsein, ist ein anderes Thema.) Stärker noch: der Gedanke, dass man sich von der Macht befreien sollte, ist nicht ganz ohne Gefahr, weil die wohlwollende Intention letztendlich auf Naivität (nicht Wissen) basiert. Und gerade naiv soll man, laut Foucault, der Macht gegenüber nicht sein.

Vor allem die freundschaftliche Beziehung macht deutlich, dass wir uns nicht von der Unbequemlichkeit der Macht befreien sollten, sondern eher umgekehrt: uns mit dem Potenzial der Macht anfreunden müssen. So zu tun, als ob ich keine Macht über meinen Freund (meine Verwandten, meine Geliebte, meine Kollegen) habe, oder haben will, heißt eigentlich, dass ich die Beziehung nicht ernst nehme. Die Macht ist da, wird aber von mir nicht ernsthaft „verwaltet“, oder freundlicher gesagt: in der Hand genommen.

Den Willen zur Macht kann man schon mit einem Tier vergleichen. Das Tier gibt es in jedem von uns, einfach weil wir leben, einfach weil wir zum saturnalen Sein gehören, einfach weil die unendliche & unbekannte & dringende & abgründige & vulkanische „Welt“ sich in uns fortsetzt. Einfach deshalb, weil wir einen Körper haben, und einen Willen & Füße, die uns unbewusst dorthin bringen wo wir hin-oder-doch-nicht hin wollen. Der Gedanke, dass wir nur das tun, was wir uns bewusst überlegt haben, ist nicht nur absurd, sondern vor allem abgehoben und arrogant. Nein, das Tier in uns, der Wille zur Macht also, ist nicht mit einem netten Grinsen weg zu suggerieren.

Das Tier soll nicht in einen Käfig eingeschlossen werden. (Dann geschieht das, was Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht ‚Der Panther’ beschreibt.) Das Tier soll auch nicht in einem Zirkus gezähmt werden und schöne Spiele machen. Und das Tier soll nicht getötet werden, weil wir mit dem Tier auch unsere Lebensenergie töten. Dem Tier soll, wie Dante es am Anfang seiner Göttlichen Komödie beschreibt, begegnet werden. Dem Tier soll in die Augen geschaut werden. Und vor allem: das Tier, der Wille zur Macht also, soll anerkannt werden als eine Kraft-für-sich, die manchmal stärker ist, als unser Wille zur Bewusstheit.

In einer Kultur des Herzens verabschiedet man sich von der Illusion, dass wir uns immer im Griff haben & im Griff haben können & im Griff haben müssen. Was die Wikinger schon wussten: in einer Kultur des Herzens rastet man manchmal auch aus. Oder, was in den dionysischen Mysterien schon bekannt war: auch ein Rausch kann sinnvoll sein.

Mit Dank an Sophie Pannitschka  

18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
danke für diesen Bericht, der mich einlädt meine Gedanken zu formulieren.
Wie ist das mit dem Schweigen? Schweigen als "machtfreies Verhalten"? Oder Schweigen als Ausdruck von Macht. Schweigen als lautloses Ausrasten! So ein Ausrasten ist zwar nicht zu hören aber als Stimmung oder als Welle zu spüren, was für den Anderen nicht einzuordnen ist und daher sehr belastend sein kann.
Kann Macht überhaupt verborgen bleiben? Sie kann unterdrückt werden - aber verborgen?
Schweigen als Ausdruck einer Lähmung, hervorgerufen durch die Angst vor der eigenen Macht und die Reaktionen der Anderen darauf?
Herzliche Grüße, Katharina

Anonym hat gesagt…

Und was ist mit: "Stellt euch dem Bösen nicht entgegen" Schweigen gegenüber dem Bösen? Genügt es in der heutigen Zeit noch es "gut zu denken" oder muss ich im Rahmen meiner Möglichkeiten nicht versuchen es zu verhindern, z.B. aufzuklären, statt zu schweigen?

Anonym hat gesagt…

Ich finde auch nicht, das Schweigen eine sinnvolle Kommunikationsmöglichkeit ist! Es geht mir darum, zu sagen, dass selbst Schweigen Macht sein kann und dass wir uns unserer Macht wohl nicht entziehen können. Jedoch aber versuchen sollten, wie Jelle schreibt "sie in die Hand zu nehmen" oder "zu verwalten". K.

Anonym hat gesagt…

Ich glaube, dass es hilfreich ist, die benachbarten Begriffe von "Macht" zu dieser Betrachtung hinzu zu nehmen. So z.B. "Gewalt" in der einen Richtung - das hast du schon getan - und in der anderen Richtung z.B. "Kraft". Wir kennen so viele Märchen, in denen von "mächtigen, GUTEN Königen" erzählt wird - und die braucht es auch!
Die Negativbesetzung des Wortes "Macht" ist zwar gebräuchlich, aber irgendwie ungerecht. "Macht" kann doch wirklich auch etwas sehr positives sein, denken wir nur an die "Guten Mächte" in der großen Erzählung: "Herr der Ringe". Wenn es da nicht so viele gute Kräfte gegeben hätte, dann wäre die Geschichte wohl anders ausgegangen...
Warum haben wir Deutschen, oder auch, wir aufgeklärten Mitteleuropäer so viel Angst vor "Macht"?
Noch immer geschädigt durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts?
Mit liebem Gruß! Ch.

Anonym hat gesagt…

Ich bin geneigt zu schreiben:
Wenn ich es schaffe, meine Macht zu verwalten und mich nicht davon treiben lasse oder sie versuche wegzudrücken, dann entsteht daraus Kraft.
Auch die guten alten Könige bekamen die Kraft aus ihrer Macht.
Aber was bedeutet es denn konkret, wenn ich meine Macht in die Hand nehme? Wie entsteht genau die Kraft? K.

Jasna Caluk hat gesagt…

“Angst vor der Macht”
-Ich denke, dass ist ein wichtiger Ansatzpunkt, und zwar nicht nur bezogen auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch in Bezug auf persönliche Erlebnisse mit sogenannten “Machthabern” im alltäglichen Leben.

Um die Kraft der guten Macht nutzen zu können, muss ich mir erst einmal bewusst werden, weshalb ich diese Kraft bisher nicht genutzt habe und dafür muss ich mich wohl erst einmal damit beschäftigen, wen ich in meinem Leben als Machthaber bzw. als jemanden erlebt habe, der Macht über mich oder andere hatte. Zum Personenkreis der Machthaber zählen wohl Eltern, Lehrer, Chefs, hierarchisch gesehen, Menschen, die über mir stehen, von denen ich in irgendeiner Form abhängig bin oder war. Wenn ich nun den Ausdruck dieser Macht durch diese Menschen als etwas für meine Person negatives oder schmerzvolles erlebt habe, dann werde ich mich wohl im späteren Leben zunächst dagegen sträuben, diese Macht (oder wie es hier eben beschrieben ist: das Tier) durch mich auszudrücken, so wie ich sie erlebt habe.

Die Macht in die Hand zu nehmen bzw. sie zu verwalten bedeutet ja auch die volle Verantwortung zu übernehmen dafür, was die Konsequenz sein wird. Oder anders gesagt, im Bewusstsein zu haben, dass «Was du auch tust, tust du an dir – was du auch an dir tust, tust du an der Welt».


Kommt es nicht in dem menschlichen Ausdruck von Macht IMMER zu Zerstörung?
Und ist dann nicht vielmehr die Frage, was da eigentlich immer zerstört wird?

Und ich denke, dass gerade der Ausdruck der schweigenden DaSeinsMacht noch die größte Zerstörerkraft hat. Findet ja niemand besonders nett, angeschwiegen zu werden, wenn man grad reden mag…

Na, was ist denn mit “Wissen ist Macht”?
Manche Mensche, die viel Wissen in sich haben und auch damit Kämpfe gewinnen könnten, bringen dieses aber nicht zum Ausdruck, weil dieses Tier nicht befreit ist, nicht wahr? Wissen, ohne Wille zur Macht.

Also ist nicht Wissen Macht sonder Macht ist einfach Macht und das Befreien und Ergreifen des Tieres ist der menschliche Ausdruck der Macht.

Hmm… hab ich das so richtig verstanden??

In den Star-Wars-Filmen (die sind Euch ein Begriff??) wird ja auch immer der Satz verwendet: “Möge die Macht mit Euch sein” und die Macht ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als Gott, oder die göttliche Kraft…

Wie diese Kraft zum Ausdruck kommt, hängt doch im konkreten Moment dann auch davon ab, worauf sich mein Wollen noch gerichtet hat, außer auf die Macht, oder?

Herzliche Grüsse
Jasna

Anonym hat gesagt…

Irgendwie erzeugt das Thema Macht eine Macht in mir weiter darüber nachzudenken.
Macht in die Hand nehmen oder sie verwalten könnte man als Mut bezeichnen. Damit ist dann auch nicht nur der negative Anteil der Macht gemeint (Mut zur Wut), sondern auch der Mut zur Liebe und zum Leben. Mut tut gut! K.

Anonym hat gesagt…

Aus Nelson Mandelas Antrittsrede als Präsident von Südafrika, Mai 1994

Licht

Unsere tiefste Angst ist nicht,
unzulänglich zu sein.
Unsere tiefste Angst ist,
über alle Maßen mächtig zu sein.

Unser Licht,
nicht unsere Dunkelheit,
erschreckt uns am meisten.

Wir fragen uns:
Wer bin ich denn, daß ich brillant, zauberhaft,
begabt und fabelhaft sein soll?

Aber mal ehrlich, gibt’s einen Grund, es nicht zu sein?

Du bist ein Kind Gottes.
Wenn du vorgibst, klein zu sein, dient es der Welt nicht.
Es ist kein Zeichen von Erleuchtung, zu schrumpfen,
nur damit andere sich bei dir nicht unsicher fühlen.

Wir wurden geboren um den Ruhm Gottes lebendig werden zu lassen,
der in uns ist.

Er ist nicht nur in einigen,
sondern in jedem einzelnen von uns.
Und wenn wir unser eigenes Licht leuchten lassen,
geben wir unbewußt anderen Menschen die Erlaubnis,
es uns gleich zu tun.

So wie wir von unserer Angst befreit werden,
befreit unsere Gegenwart automatisch andere.

Anonym hat gesagt…

Macht über mich

Die Hände verkrampft,
den Bauch voll Kringel,
den Puls am Hals spüren,
die Augen unruhig hin und her
alles vergessend - den Kopf leer.
So hättet ihr mich gern; so willst du mich;
doch so viel Macht gebe ich dir nicht - mehr!
Denn so gebe ich mich aus der Hand.
Ich will diese Gefühle haben - für mich und dennoch frei sein zu reagieren.
Ich will meine Reaktionen und nicht die der anderen Leute.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Die Fragen und Bemerkungen haben mich richtig angeregt zum Weiterdenken. Schweigen als Ausdruck von Macht... Kann Macht verborgen bleiben? (Ich meine: nicht.) Macht und Geschichte - Geschichte als "negative" Erfahrung... Hitler, Stalin, Mao... Und dann: was heißt es, seine Macht in der Hand zu nehmen? Foucault: erst wenn ich Macht über mich ausübe, kann ich Macht von außen widerstehen. Auch das heißt: Meditieren! Und: Askese! Der Text von Neslon Mandela begleitet mich schon lange. In diesem Text wird richtig etwas GESAGT. Ja, auch ich bin geneigt, den Herr der Ringe als ein modernes Epos über Macht zu verstehen. Das heißt: über Wissen & Können & Wollen. Herzlich, Jelle

Sebastian Gronbach hat gesagt…

Den Mandela-Text hat Marianne Williamson verfasst - Mandela hat ihn bekannt gemacht.

Herzlich
Sebastian

Anonym hat gesagt…

Das "Gespräch" über Macht hat mich "mächtig" ergriffen und nun einen "machtvollen" Beitrag aus dem DUDEN 8. Unter "mächtig" werden folgende Bedeutungen angegeben:

1. allmächtig, einflussreich, gewaltig, maßgebend, tonangebend, wichtig, wirkungsreich; (geh.): allgewaltig; (bildungsspr.): [omni]potent; (geh. veraltet): großmächtig.

2. gewaltig, gigantisch, imposant, kolossal, kräftig, kraftvoll, machtvoll, massig, riesenhaft, sehr groß, überdimensional, übergroß, von beachtlichem/ungeheurem Ausmaß, wuchtig; (geh.): kolossalisch; (bildungsspr.): monumental, titanisch; (oft emotional): monströs, riesig.

3. außergewöhnlich [groß], außerordentlich, beträchtlich, enorm, erheblich, gehörig, gewaltig, immens, sehr groß/stark, ungeheuer, ungemein, unsagbar, unwahrscheinlich; (ugs.): höllisch, irrsinnig, ordentlich, unglaublich, wahnsinnig; (oft emotional): riesig; (ugs. emotional): kolossal, sagenhaft; (ugs. emotional verstärkend): mordsmäßig, riesengroß.

Vielleicht könnten wir in den Beiträgen differenzieren, wann welche Bedeutung gemeint ist?
Ch.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
das mit dem Rausch weiß ich nicht, aber vielleicht bin ich auch zu ängstlich was das angeht und vielleicht lebe ich auch (noch)zu stark in der "im-Griff-Welt". Aber ich suche nach der Tat aus dem Herzen, die jenseits jeder Beliebigkeit steht. Und dann stehe ich an deiner Seite, weil die Frage nach Macht und Ohnmacht sich ergießt in die nach Vertrauen und Verantwortung in einer rythmischen Atembewegung. Was meinst du? von ganzem Herzen Katharina

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Katharina, mit "Rausch" ist nicht unbedingt die Wirkung von Drogen gemeint. Ich meine zum Beispiel, was die Humanisten der Renaissance "furore" nannten, nämlich sich durch Begeisterung führen lassen. Es ist wie du sagst: wenn man aus Vertrauen etwas macht, ist immer ein bisschen "furore" dabei. Weil wozu bräuchten wir Vertrauen & Mut, wenn wir das Leben im Griff hätten? Und was heißt im Griff haben anders, als ein Kurzschluss zwischen Denken und Wollen? Vielleicht ist der unbewußte Machtbegriff ein Ergebnis davon, dass die Mitte fehlt? Das Herz also? Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

lieber jelle,
der Kurzschluss ist für mich der Kurzgriff - und der geht, ja, so finde ich, am Herzen vorbei. Wirkt die Macht des Herzens in Wahrhaftigkeit und im Bewußtsein?
Wenn ich deine Fragen und Kommentare höre fühle ich plötzlich: ich liebe dich - du hast Macht! Und ich auch, oder?

Nicole hat gesagt…

Habe den Text von Marianne Williamon gesucht und gefunden.
Da steht mittendrin ein Satz, der in der bekannten Fassung nicht vorkommt (warum?) Er lautet:

"We are all meant to shine, as children do."

Die Sätze drumherum: “You are a child of God. Your playing small does not serve the world. There is nothing enlightened about shrinking so that other people won't feel insecure around you. We are all meant to shine, as children do. We were born to make manifest the glory of God that is within us.

Der (auch mir als Mandela-Zitat) bekannte Text hat mit dem Satz über die Kinder eine andere Richtung für mich bekommen.
Mehr CHILD of God als child of GOD... Mehr Kind, mehr Spiel, mehr Ausprobieren, mehr Freude, weniger würdig, weniger Angst, mehr Chaos, mehr Subversivität, mehr Kraft, mehr Leuchten.

Das Leuchten der Kinder hat zu tun nach meiner Ansicht mit ihrer Fähigkeit zum freien Spiel (wenn die noch da ist). Huizinga beschreibt das in "homo ludens" als anthropologische Konstante. Wenn die verlorengehe, so zitierte Christopher Clouder in Köln (Kölner Kongress) vor ein paar Wochen Huizinga, dann nähern wir uns dem Zustand des Krieges.

Ich will versuchen, etwas zum Ausdruck zu bringen, das ich nicht fasse, verstehe, indem ich um ein freies Feld herum ein paar Sätze aus diesem Bloggeschehen zitiere und etwas danebensetze. Vielleicht kann es in diesem Zwischenraum aufblitzen?

"Schweigen als Ausdruck einer Lähmung, hervorgerufen durch die Angst vor der eigenen Macht und die Reaktion der Anderen darauf?" (Katharina)
"Manche Mensche, die viel Wissen in sich haben und auch damit Kämpfe gewinnen könnten, bringen dieses aber nicht zum Ausdruck, weil dieses Tier nicht befreit ist, nicht wahr?"
(Jasna Caluk)


Das nicht befreite Tier, die Lähmung.
Das gelähmte Tier?
Ich verstehe das gelähmte Tier jetzt so: Als die nicht gezähmte, sondern dressierte, durch Kontrolle (z.B. durch Lob und Tadel) korrumpierte Schaffenskraft des Menschen: als Kind widerfährt ihr das; da wird das Unverfügbare eingedrückt und eingelullt und lahm gemacht und in seiner Spannkraft enttäuscht und bloßgestellt und angepasst (lieb) gemacht. Das geschieht dem kindlichen Menschen zum Beispiel manchmal im Kindergarten (Basteln fasse ich auf als Beleidigung seiner Kreativität). Die Selbstbestimmung im Sinne Foucaults (zitiert in Herzwerk) verstehen wir für den Menschen ab wieviel Jahren eigentlich? Ein paar aufdeckende Redensarten in dem Zusammenhang: "das ist kein Kinderspiel", "das ist doch kinderleicht", "das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen...", "die Kinderkrankheiten sind noch nicht überwunden..." und: "sind wir denn hier im Kindergarten?"
Die Tage las ich einen alten Blogeintrag hier noch einmal nach über die Zukunft der (Waldorf) Kindergärten... da ging es darum, in das Schicksal der Kinder einzusteigen... Und darum, so wie ich mich daran erinnere, dass Kinder Menschen um sich herum brauchen, die ihr Ding machen - das, was sie sinnvoll finden, was ihnen Freude macht, womit sie zu tun haben...

Dem Leuchten der Kinder Aufmerksamkeit widmen... das Tier in mir will die Aufmerksamkeit aber für sich! Während ich das hier schreibe, kämpft meine Jüngste auf meinem Schoß um meine Aufmerksamkeit....
Ich erlebe das wie einen Gegensatz mit der Tendenz zur Selbstverdunklung. Mein Bedürfnis nach Selbstausdruck in Opposition zum Bedürfnis des Kindes... Indem ich das denke als Gegensatz oder Kampf, schaffe ich eine Vorstellung, die sich zwischen mich und das Kind schiebt.
Kann ich das so denken, dass das Kind und ich uns begegnen? Nur das?

Nochmal: "Schweigen als Ausdruck einer Lähmung"
Was genau ist da gelähmt? Was drückt sich aus in dieser Lähmung? Was passiert, wenn das, was da gelähmt war, in Bewegung kommt? Hat das etwas zu tun mit Jelles furor? Mit der mitreißenden Begeisterung, dem Rausch als Gegensatz zur Bewegungslosigkeit? Hat das etwas zu tun mit dem Leuchten, das denjenigen Menschen (Kindern oder Anderen) zu eigen ist, die ganz aufgehen nin dem, was sie tun, die damit eins werden, die die Sache selber SIND?

Ich kenne ein Schweigen, das Ausdruck einer Erstarrung ist. Eine Verkümmerung oder Verweigerung (?) der Bewegung, des Vermögens zu spielen, "autonom" (im Sinne von Iris Johansson) etwas zu tun.
Ich kenne ein Schweigen als Ausdruck der Selbstverhinderung. Und eines als Zurückhalten der Aggressivität.
(Weil diese Kraft mit Angst belegt ist? - Zur Wortbedeutung von Aggressivität etwas Zwischengeschobenes, weil ich es im Zusammenhang mit der Frage nach dem Tier in uns raumschaffend finde:
aggressus sum (lat.) hat vier Bedeutungen:
1. ich schreite heran, ich nähere mich, ich begebe mich,
2. (freundlich) ich wende mich an jemanden, ich suche jd. für mich zu gewinnen
3. a) (feindlich) ich greife an, ich überfalle
b) ich verfolge gerichtlich
4. ich schicke mich zu etwas an, ich unternehme, beginne, versuche etwas)

Und zuletzt das Schweigen aus der selbstgewählten Position des Opfers heraus, das beredte Schweigen. Die beim Opfer liegende Macht im Täter-Opfer-Spiel, das derjenige, der zum Täter gemacht wird, nicht beenden kann. (Beispiel von gestern auf dem Schulhof: (Mädchen): Die Jungs da drüben wollen mit Steinen nach uns werfen... Das war in der Gestik verbunden mit der Erwartung, dass ich jetzt etwas unternehmen soll. Als ich deutlich machte, dass ich nicht mitmache bei dem Spiel, trollten sie sich.)

Wann tritt die Lähmung auf und worin besteht sie genau und was kann das Ich schaffen, das anders ist und wodurch etwas anderes gilt, plötzlich?
Verschiedene Gedankenstränge...

Das Tier. Kein Ungeheuer. Es kennenlernen, in Kontakt kommen mit ihm. Ob es schrecklich ist oder schön (oder beides) und was es auf sich hat mit seiner Kraft, das will ich wissen.



“Our deepest fear is not that we are inadequate. Our deepest fear is that we are powerful beyond measure. It is our light, not our darkness that most frightens us. We ask ourselves, Who am I to be brilliant, gorgeous, talented, fabulous? Actually, who are you not to be? You are a child of God. Your playing small does not serve the world. There is nothing enlightened about shrinking so that other people won't feel insecure around you. We are all meant to shine, as children do. We were born to make manifest the glory of God that is within us. It's not just in some of us; it's in everyone. And as we let our own light shine, we unconsciously give other people permission to do the same. As we are liberated from our own fear, our presence automatically liberates others.”

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Nicole Cadenbach, danke sehr für deine ausführliche Bemerkungen! Hannah Ahrendt würde vielleicht sagen: die Machtfrage hängt direkt mit Kindheit & Geburtlichkeit zusammen: die Fähigkeit immer wieder im Kommen zu sein. Und schön, dass du Huizinga erwähnst. Herzlich, Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Danke sehr an den Autor.

Gruss Elena