12.08.2008

Über die Waldorfkindergärten. Wo sind die Anthroposophen geblieben?

In einem nicht veröffentlichten Text über die Situation der Waldorfkindergärten in NRW schreibt Wolfgang Saßmannshausen: „In den Waldorfkindergärten haben gegenwärtig Menschen die Verantwortung, die keinen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben.“[i] Ich meine, dass die Bewertung dieser Aussage entscheidend für die Zukunft der Waldorfkindergärten ist.

Mit der genannten Aussage scheinen mir drei Fragen verknüpft zu sein. 1. Auch wenn Saßmannshausen nur halbwegs Recht hat, entsteht die Frage, wie diese Situation entstanden ist? 2. Wo sind die Menschen, die tatsächlich einen Bezug zum eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben? (Oder gibt es diese Leute nicht mehr? Sterben sie aus? Haben jüngere Leute diesen Bezug nicht?) 3. Was ist gemeint mit dem Kern der Waldorfpädagogik?

Der „Kern“ der Waldorfpädagogik kann auf der inhaltlich-intellektuellen Ebene nur verstanden werden, wenn man sich inhaltlich-intellektuell mit der Anthroposophie beschäftigt. Ich bin geneigt zu denken, dass nur ganz wenig Menschen sich in der heutigen Zeit auf dieser Ebene mit der Anthroposophie beschäftigen. Die Werke Rudolf Steiners werden kaum noch gelesen und auch andere relevante Literatur wird wenig zur Kenntnis genommen. Ich glaube aber nicht, dass hier das Hauptproblem liegt.

Wolfgang Saßmannshausen schreibt nicht, dass der Kern der Waldorfpädagogik nicht „verstanden“ wird – nein, er meint, dass die gegenwärtigen Menschen „keinen Bezug“ zu ihm haben. Was heißt es, einen Bezug zu haben? Wie kann ein Bezug zum Kern der Waldorfpädagogik aussehen? Kann man zum Beispiel einen Bezug zum Kern der Waldorfpädagogik haben, ohne sich erst intellektuell-inhaltlich ausführlich mit der Anthroposophie zu beschäftigen? Ich meine: ja.

Bezüge (sind ja Beziehungen) leben sich auf drei „seelischen“ Ebenen aus: im Denken, im Fühlen und im Wollen. Es ist durchaus denkbar – und in unserer postmodernen Zeit eben sehr sehr sehr denkbar – dass jemand etwas will, ohne es auf der intellektuellen Ebene zu verstehen; oder dass jemand eine Beziehung auf der Ebene der Gefühle spürt, ohne die dementsprechenden Gedanken dazu zu haben.

Einen Bezug zu „etwas“ haben, ist nur selten eine eindeutige Sache. Klar ist aber, dass es in Bezug auf Bezüge eine klare Hierarchie-der-Intensität gibt: gewollte Bezüge sind kräftiger als gespürte Bezüge und gespürte Bezüge sind kräftiger als gedachte Bezüge. Ich meine, dass diesbezüglich sich in den letzten vierzig Jahren etwas verändert hat.

Der klassische anthroposophische Aufbau von Imagination (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene der Vorstellung), Inspiration (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene der Gefühle) und Intuition (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene des Willens) hat sich umgedreht – umgangssprachlich gesagt: ist in die Seele gekippt. Bernard Lievegoed hat diese Umkehrung schon in den achtziger Jahren wahrgenommen und „den Saturnweg“ genannt. Zu diesem Weg gehört, dass es anfänglich keine imaginativen Vorstellungen gibt, die das Bewusstsein tragen. Die Seele ist spontan auf Handlungen orientiert, die intuitiv ausgeführt werden und erst nachher über die Inspiration und die Imagination verstanden & bewertet & eingeordnet werden. (Philosophisch gesprochen, bedeutet dieser Weg einen radikalen Bruch mit dem Denken der Aufklärung. Er schließt eher bei Nietzsche an.)

Für die Art und Weise wie Anthroposophie „erscheint“, hat diese Umkehrung große Folgen. Der Bezug zur Anthroposophie liegt anfänglich gar nicht vordergründig im Denken, sondern im Fühlen und vor allem im Wollen. Anthroposophie wird gewollt und erstmal ganz und gar nicht gedacht. Stärker noch: zu dem Saturnweg gehört in gewissem Sinne eine spontane Abwehr gegen das Denken, weil die Seele über die Inspiration in der Imagination landen will. Das Denken tritt in der neuen Reihenfolge erst dann ein, wenn die Imaginationen gebildet sind – und nicht umgekehrt. Ich meine, dass diese Einsicht ein klares Licht auf den Umstand, den Wolfgang Saßmannshausen beschreibt wirft.

Nicht der Umstand ist bedauerlich, sondern die Tatsache, dass wir den Umstand nicht erkennen. Wenn wir „Anthroposophen“ („Menschen, die einen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben“) suchen, müssen wir auf die Ebene der Intuitionen & Intentionen & Willensrichtungen schauen. Der „postmoderne Anthroposoph“ offenbart sein Wesen nicht durch das was er sagt, sondern durch das was er tun will. Seine Sehnsüchte beziehen sich auf mögliche Handlungen.

So gesehen, bin ich mir gar nicht sicher, ob es stimmt, dass die Mitarbeiter in den Waldorfkindergärten keinen Bezug mehr zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben. Ich halte es für möglich, dass ein tragisches Missverständnis vorliegt: die Generation der Sechziger und Siebziger kennt vor allem „Spezialisten“ im Bereich der „erlebten Vorstellung“; auf der Ebene der Handlung sind sie aber oft noch in institutionelle und funktionelle Gegebenheiten eingebunden, die für unveränderliche Tatsachen gehalten werden.

Das Missverständnis liegt darin, dass spontan unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Die spätere Generationen spricht eine andere Sprache: sie kennen „Spezialisten“ in kleinen Handlungsbereichen des Alltags und lesen – so wie es einer meiner Söhne einmal ausgedrückt hat – die Art und Weise, wie wir zum Beispiel zusammen in der Küche stehen. Diese „Spezialisten“ wollen über etwas sprechen, was tatsächlich geschieht und nicht über das, was geschehen müsste, sollte oder könnte. Die Welt der kleinen und großen Handlungen ist für sie zur Sprache geworden. Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln stelle ich immer wieder staunend fest, wie stark diese Fähigkeiten in den jüngeren Menschen vorhanden sind.

Die beiden Perspektiven (vielleicht gehört noch eine Dritte dazu, die seine Verankerung vor allem in die Inspiration findet?) brauchen einander. Die weise Ordnung-der-Zeiten hat eine uralte philosophische Fragestellung – die Spannung zwischen Idee und Tat – auf der sozialen Ebene programmatisch eingeschrieben. Mir scheint es deswegen nicht fruchtbar zu sein, zu behaupten, dass die verantwortlichen Menschen in den Waldorfkindergärten keine Beziehung zu dem Kern der Waldorfpädagogik haben. Für einen, der es für wichtig hält, die Welt zu verstehen, ist die Frage fruchtbar: wie kann ich diese Beziehung verstehen?

Was ansteht ist deswegen Begegnung. Und die fängt mit der Frage an: habe ich einen Bezug zum eigentlichen „Kern“ dieser Menschen?

(Fortsetzung folgt)



[i] Wolfgang Saßmannhausen hat mir die Veröffentlichung dieses Satz freundlicher Weise erlaubt.


10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, mit den Kommentaren ist das so eine Sache...
Bisher habe ich mich einfach nicht getraut, habe Dir mal ab und zu, wenn wir uns gesehen haben etwas dazu gesagt.
Nun öffentlich- ich bin immer wieder absolut fasziniert davon, dass Du gerade dann über die Dinge schreibst die mich selber sehr beschäftigen(zeitgleich) und bin immer wieder berührt von Deinen Worten.Herzliche Grüße Katrin

Michael Eggert hat gesagt…

Lieber Jelle, für mich besteht noch eine Frage darin, ob sich für die "Saturniker" nicht auch der Schulungsweg selbst verändert. Der klassische Aufbau, die schrittweise Folge ist vielleicht so nicht mehr gegeben oder sogar umgekehrt. Die Dominanz der Imaginationen und "Inhalte" trifft auf Unverständnis. Möglicherweise ist die dialogische Fähigkeit selbst, die unmittelbare Begegnung mit dem Anderen, der Initiationspunkt. Das Imaginative stellt sich später oder gar nicht ein; es wird sogar mit Befremden abgelehnt. Aber es ist auch denkbar, dass der Willensweg nicht einmal als "Einweihungsgeschehen" wahrgenommen wird, obwohl man sich seit langem darin befindet. Überraschend kann das bewusst werden und führt dann zu abrupten Veränderungen im Bewusstsein, die den Charakter von Spontaninitiation annehmen. Die klassisch ausgerichtete AG misstraut dergleichen. In Wirklichkeit ist die "Schulung" sehr wohl vollzogen worden, aber eben in ganz anderer Art.
Herzlich
Michael

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michael: ich meine: Ja. Der Schulungsweg selbst ist damit verändert. Und was die dialogische Fähigkeit angeht: könnte die nicht in der Inspiration verankert sein? Ist Inspiration nicht letztendlich: Begegnung, Tanz, ja: Reigen? Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, Sagt Andrea zu später Stunde, nach dem Dvd gucken von "Der Pianist" und tiefgehenden Gefühlen erlebt, als sie Dein neuesten-Über Waldorfkindergärten - Artikel gelesen hat, sogar laut ihrem Mann vorgelesen hat; ob man demnach die Anthroposohie nun "Anthropowilli" nennen könnte. Smiliezeichen.
Also echt gut der Text! Liebe Grüsse Andrea

Michael Eggert hat gesagt…

Lieber Melle, könntest Du über den "saturnischen Schulungsweg" bei Gelegenheit etwas schreiben?
**
Michael

Michael Eggert hat gesagt…

Jelle, natürlich, Tippfehler.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michael, in seinem Buch "Schulungswegen" hat Bernard Lievegoed über den Saturnweg geschrieben. Vielleicht könnte ich auch mal etwas schreiben. Mal schauen... Jelle

Anonym hat gesagt…

Tun, was man sagt.
Sagen, was man denkt.

Herzlichen Dank für diesen Beitrag, der zu einem neuen Blick auf die Dinge einlädt!

Anonym hat gesagt…

der kern der anthroposophie ist doch der mensch ,wie er in die welt gestellt ist ,zwischen allen widersprüchen, oder ?
die begegnung ist die möglichkeit einer einweihung?
wieviel begegnung, wieviele bruchstellen zu versagen?
belehrt sind die kinder, sie hinterfragen unsere wahrheiten, die sagen klar wo du stehst.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,

als ich vor 2 Jahren Ihren Hinweis auf den Saturnweg gelesen habe, habe ich dann gleich bei Lievegoed dazu weiter gelesen. Das Thema ist bei mir auf große Resonanz gestoßen, hat mich sehr angesprochen.
Aktuell lese ich ein Buch von Robert Powell, welches ich hierzu gern weiterempfehlen möchte: "Die Allerheiligste Trinosophia und die neue Offenbarung des Göttlich-Weiblichen".
Auch da wird unterschieden zwischen unterschiedlichen Wegen (eigentlich unterschiedlichen Lehrern bzw. Generationen oder Gemeinschaften): dem des Denkens, dem des Fühlens und dem des Wollens - wenngleich natürlich jeder Mensch alles zugänglich hat, nur, woher er kommt und wohin er geht, mag jeweils unterschiedliche Schwerpunkte haben.
Liebe Grüße.
Simone