Mut zu Lücken (2). Wenn ein Kind tot geboren wird
Wenn Menschen sterben, hinterlassen sie Lücken. Sie sind nicht mehr da, wenn wir morgens aufstehen, uns mittags an den Esstisch setzen und abends wieder ins Bett gehen. Dieses Nicht-mehr-da-sein entsteht dadurch, dass die Präsenz der verstorbenen Person keinen Fokuspunkt mehr auf der physische Ebene hat. Der Körper ist verschwunden, einfach „weg“. Das schöne deutsche Wort „weg“ hängt mit dem Mittelhochdeutschen „enwec“ zusammen, was „auf dem Weg sein“ bedeutete; es heißt also: nicht mehr hier, sondern irgendwo anders zu sein.
Die hinterlassenen Lücken sind von Erinnerungen erfüllt. Am Esstisch erinnern wir uns zum Beispiel an die Geschichten, die der Verstorbene uns immer wieder erzählte, wir hören dann den Nachklang seiner Stimme (die immer noch in uns vibriert), erleben nochmals und nochmals wie er mit seinen schmalen Fingern das Brot aus den Korb nahm, es bedächtig brach, es langsam zwischen seinen Zähnen zermalmte... Und wir brauchen nur unsere Augen zu schließen, um wieder zu „sehen“, wie er nach dem Essen behutsam die Teller einsammelte und in die Küche trug.
Ganz anders sind die Lücken, die von jung-all-zu-jung Verstorbenen hinterlassen werden. Wenn ein Kind tot geboren wird – auf Englisch: „still born“ – spüren wir eine Lücke, die nur ein Fragezeichen beinhaltet. Sie macht uns sprachlos, bietet uns keine Festpunkte, stößt uns ins Offene und Unbestimmte. Die Lücke ist widersprüchlich, einerseits ist sie unfassbar klein und still – ein winzig kleiner Körper, der regungslos in unseren Armen liegt, die Augen zu, die Hände nur augenscheinlich zum Greifen bereit, ohne Leben, ohne Bewegung.
Andererseits ist die Lücke unfassbar groß, sie weitet sich aus bis in eine Ferne, die grenzenlos ist und über alle Worte hinausgeht. Und in dieser Spannung zwischen Nähe und Distanz werden unsere Gefühle erweckt, werden ALL unsere Gefühle erweckt: Wir erleben Traurigkeit und irgendwie auch Freude, Erschütterung und Hoffnung, wir spüren ein Versprechen, dessen Einlösung ungewiss ist. Wenn Geburt und Tod zusammenfallen, werden Denken und Wollen erstmals ausgeschaltet; es sind unsere Gefühle, die – wie ein Regenbogen – die innere Landschaft bestimmen.
In dieser Lücke gibt es keine Erinnerungen, keine handfesten Erwartungen oder eben Ansprüche, keine Erklärungen und keine Pläne. Sie ist als eine Lichtung in Raum und Zeit zu betrachten, bezieht sich nicht auf Vergangenes, auch nicht auf Zukünftiges, ist nur – wie das immer mit Gefühlen so ist – auf die Gegenwart ausgerichtet. Sie ist ein Ort, wo Vergangenheit und Zukunft in einer vertieften und erhöhten Gegenwart umfasst werden, in einer gesteigerten Gegenwart also.
Diese Lücke zu betreten erfordert Mut, gerade weil sie keine geplanten oder eben gewollten „Umsetzungen“ zulässt. Die einzigen Vorsätze, die man in ihr handhaben kann, beziehen sich auf das große Kleine und das kleine Große, dass man „Sein“ nennt. Das Fragezeichen in dieser Lücke ist gleichzustellen mit der Frage nach dem Rätsel des Menschen. Die Antwort auf diese Frage – Was ist der Mensch? – liegt darin, dass wir sie in Raum und Zeit stehen lassen, vielleicht besser gesagt: Dass wir sie erstmals gerade nicht beantworten.