31.12.2010

In den zwölf heiligen Nächten (2). Über das Lauschen, Fragen und Wollen

In den heiligen Nächten steht das Lauschen an. Im Lauschen, so schrieb ich letzte Woche, werden wir still. „Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können“. In den Kommentaren auf meinen Text entstand darauf eine interessante Wendung, die mich seitdem beschäftigt.

Die Wendung hat mit einer Frage zu tun, und zwar mit dieser: Liegt dem inneren Lauschen nicht immer eine – vielleicht verborgene – Frage zu Grunde? Kann man lauschen, ohne zu fragen? Bedeutet Lauschen nicht einfach: Eine Frage zu haben, die sich darin zeigt, dass wir etwas hören wollen? Oder vielleicht anders gesagt: Wenn ein Wollen vorliegt, in diesem Fall ein Wollen zum Lauschen, können wir dann sagen, dass somit in uns immer auch eine – vielleicht verborgene – Frage lebt?

In dieser Wendung vom Lauschen zum Fragen öffnet sich ein ganz großes Thema, das nicht nur mit dem Lauschen, sondern überhaupt mit dem Wollen zu tun hat. Man könnte das Wollen als eine unbewusste seelische Tätigkeit verstehen – im Wollen schlafen wir, erst im Denken sind wir komplett wach – die überhaupt als die Quelle unserer Fragen zu definieren wäre. Die Wendung beinhaltet also drei Schritte: der erste Schritt führt zum Lauschen, der Zweite zum Lauschen-als- Frage, der Dritte zur Frage-als-Wollen.

Ich will immer ETWAS hören. Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, kommen wir zwangsläufig zu Platon, der meinte, dass wir uns nur nach etwas sehnen können, was wir schon kennen – wir haben es nur vergessen. Alles Wollen und somit alles Fragen geht aus Sicht des griechischen Philosophen darauf zurück, dass es einmal eine Verbindung gab, eine Art einheitliche und runde Beziehung, die allerdings verloren gegangen ist. Platon zufolge sind wir immer auf der Suche, das zu heilen, was zerbrochen ist. Diese Sichtweise gehört zu den Kerngedanken einer spirituellen Lebensauffassung, und sie bedeutet im Grunde genommen, dass mich nur dasjenige berührt, was (schon) zu mir gehört.

Der (aristotelische) Einwand liegt nahe: In der platonischen Sichtweise kann es so etwas wie das „Neue“ nicht geben. Ich lasse die Spannung zwischen Altem und Neuem für heute einfach im Raum stehen. Um Platon allerdings nicht nackt dastehen zu lassen, diesbezüglich nur eine Bemerkung: das Neue liegt für Platon gerade in der Wiederkehr des Alten. Neu ist aus seiner Sicht, was wir aus dem Bereich des Verlustes bewusst zurück erobert haben.

Was ist aber eigentlich eine Frage? Spannend ist, was die Sprachwissenschaftler über das Verb „fragen“ zu sagen haben. Das Wort kommt so nur in der deutschen und niederländischen Sprache vor (vragen), und ist überraschenderweise mit „Furche“ (Ackerstrecke) verwandt. Die Grundbedeutung des Verbs ist also: „wühlen und aufreißen“, und damit sind wir in der Tat im Bereich des Wollens angekommen: erstens weil das unbewusste Wollen uns immer wieder aufwühlt, zweitens weil der Akt des Fragens zu etwas Aufgewühltem führt. Es ist wie mit einem Acker: Um neues Leben zu ermöglichen, muss er aufgewühlt werden.

Das innere und äußere Lauschen könnte also gleichzeitig in zwei Richtungen gehen: ich lausche auf „Etwas“ (eine zarte Stimmung in mir, das Singen einer Amsel beim Sonnenuntergang) und versuche mich so in meine Ohren hinein zu begeben, dass ich wirklich bei und mit und in diesem „Etwas“ bin. Um dies zu erreichen, muss ich mich irgendwie in etwas „Fremdem“ (was allerdings vielleicht gar nicht so fremd ist) verlieren. Und ich bewege mich gleichzeitig nach innen, zu diesem Ort, wo ich bei und mit und in mir bin, wo mein „sanfter Wille“ (Georg Kühlewind) sich bemerkbar macht.

Der vollkommene Akt des Zuhörens bedeutet so gesehen zweierlei: ich schlafe in „Etwas“ ein (verliere mich) und wache in einer Frage auf (finde mich wieder), die schon vorher meine unbewusste Frage war, im Aufwachen aber zur bewussten Frage wird. Wenn es zum Beispiel um das bezaubernde Singen einer Amsel geht, fällt mit sofort ein, was meine lebenslange Frage beinhaltet: Was macht die passionierte Mischung von Melancholie, Vertrauen und Dankbarkeit aus, diese herzzerreißende Hingabe zum Abschied? Und ich weiß, warum ich meine Freunde und Verwandten nicht gerne zum Bahnsteig begleite: Mit dieser leidenschaftlichen Art des Abschieds tue ich mich immer schwer. Ich sage lieber einfach: Tschüs!

Mit welcher Frage lebe ich aber in diesen heiligen Nächten? Ich sitze gerade in meiner Küche, schreibe diesen Text und höre auf Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“. Ich weiß nie, ob ich Bach hasse oder liebe, auf jeden Fall berührt er mich immer wieder. Und meine Frage ist auf einmal klar: Ich möchte so schreiben und leben, wie er Musik gemacht hat. Die unendlichen und vielseitigen Motive des Lebens trotz aller Dissonanzen transparent machen, das ist das, wonach ich mich heute sehne, da liegt meine Frage, das ist das, was ich will. Ich danke meinen Leserinnen und Lesern für diese schöne Wendung und hätte noch die Frage: was wollt ihr?

25.12.2010

In den zwölf heiligen Nächten. Die Entzündung einer Kultur des Herzens

In den zwölf heiligen Nächten, so besagt die Tradition, öffnen sich die Türen zur geistigen Welt. Die Schwelle zwischen Himmel und Erde, so heißt es, wird durchlässig. In der Verinnerlichung, die mit Weihnachten einher geht, wird ein gesteigerter Dialog zwischen mir und Mir, zwischen dir und Dir und – würde ich sagen – zwischen Dir und Mir möglich. Und weil es sich um einen geistigen Dialog handelt, der über die üblichen Erkenntnisse hinaus geht, steht die Tätigkeit des Lauschens an.

Lauschen gehört zu den schönsten Wörtern der deutschen Sprache. Lauschen ist eine Sache der Ohren, diese wunderbaren und eleganten Wölbungen an unseren Häuptern, die sanft das greifen, was eigentlich nicht zu ergreifen ist. Wenn man versucht die Laute des Wortes zu „schmecken“ – Wörter zu schmecken ist eine poetische Haute Cuisine – gerät man innerlich spontan in eine Bewegung, die irgendetwas mit schleifen und rauschen und tasten und auch mit fangen zu tun hat – einem Fangen allerdings, das eher passiv funktioniert, so, als ob es gelänge, Schmetterlinge dazu zu verführen, freiwillig ins Netz zu flattern.

Lauschen ist eine ganz leise und ganz zarte Implosion. Die Ohrmuscheln wölben sich nach außen, werden von Klängen berührt, die sie in sich aufnehmen und nach innen leiten, man könnte vielleicht besser sagen: nach innen begleiten, und dort – wo ich bei Mir bin – eine neue Form anbieten, eine wesentliche Existenz. Rainer Maria Rilke dichtete: „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!/ O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!/ Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.“

Im Lauschen werden wir still. Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können. Ohne stilles Lauschen - keine Geburt. Das Bild ist uns ja vertraut: man setzt sich bei einer Kerze nieder, wird still wie die sanft flackernde Flamme, und lauscht... Und im Lauschen gelangt man in sich selber an eine Schwelle, wie im Winterwald: schüchtern wagen sich Rehe aus dem Dunkel auf die Lichtung.

Es geht beim Lauschen nicht um klare Gedanken, sondern um Gefühle, die wir manchmal ein bisschen unbeholfen mit Ahnungen, Sehnsüchten und Träumen gleichsetzten. Eigentlich müssen wir allerdings einräumen, dass uns die richtigen Worte fehlen. Die Stimmungen, die an der Schwelle zur geistigen Welt auf uns zu kommen, sind eher als Gestalten zu verstehen, mit denen man „sprechen“ kann – ein Sprechen, das eigentlich ein gegenseitiges Lauschen bedeutet. Gefühle – nicht Emotionen sind hier gemeint – sind tatsächlich wie Rehe: sie haben eine eigene Gestalt, einen eigenen Willen, eine eigene Domain.

In den heiligen Nächten geht es also um Natalität, um das ständige und meistens unbewusste Geschehen in uns, das uns leise nach vorne bringt. In den ersten heiligen Nächten bieten sich die Ahnungen und Sehnsüchte an, die uns berühren und verführen, dann folgen die Vorsätze, die wie Navigationsinstrumente im Reich-des-im-Kommen-Seins wirken: ein Vorsatz ist genau das, was das Wort ausdrückt: ein Vor-Satz, man kann sich immer statt nach links doch noch nach rechts bewegen. Und wenn die heiligen Nächte durch den Jahreswechsel geschritten sind, taucht das Bedürfnis nach Entscheidungen auf. Die Gestaltung des kommenden Jahres beruht auf der Aktivierung dieser großen Drei: Sehnsucht, Vorsatz und Entscheidung.

Interessant: beim Lauschen werden Sehnsüchte, Ahnungen und Träume aktiv. Sie bekommen einen Raum, einen inneren Ort, in dem sie in Erscheinung treten können, in dem sie ihre eigene Geschichte erzählen können, eine Erzählung, die es nur gibt, wenn wir ihr lauschen. Erzählungen, die nicht gehört werden, gibt es nicht, (so wie es auch keine Texte gibt, die nicht gelesen werden). Wäre es nicht schön, die verborgenen Erzählungen der heiligen Nächte ins Licht zu heben? Mit unserem Versuch entzündet sich eine Kultur des Herzens.

18.12.2010

Praktiken einer Kultur des Herzens (2). Über die Unternehmung Sil

In meinem vorletzten Weblog (05.12.2010) schrieb ich Folgendes über einen guten Freund, den ich als Schicksalsgefährten betrachte: „Sein Begabungsprofil besteht daraus, dass er konkret spüren kann, welche Potenziale zwischen den Menschen verborgen liegen. Man könnte nicht einmal sagen, dass er ein NETZWERKER ist, weil seine erweckenden Tätigkeiten weit darüber hinaus gehen. Ich betrachte ihn als einen SCHICKSALSWERKER“.

Auf der finanziellen Ebene, so berichtete ich weiter, kriegt er sein Leben allerdings nicht organisiert, was auch damit zu tun hat, dass die öffentliche Anerkennung für seine Begabung fehlt. Dazu schrieb ich: „Letztendlich müssen und können und dürfen es doch die „freien“ Bürger sein, die „Freunde“ also, die sich aus Freiheit dieser Verpflichtung stellen? Praktisch gesagt: zwanzig mal fünfzig Euro im Monat würden tausend Euro bringen. Und davon könnte ein erfahrener Schicksalswerker, der gewohnt ist, mit wenig Geld auszukommen, für eine Weile gut leben, sagen wir erst einmal: für ein Jahr?“ In den Kommentaren auf meinen Vorschlag entstand eine interessante Debatte – ich empfehle den Lesern, die neu dazu stoßen, die Beiträge nachzulesen.

Ich möchte an dieser Stelle von mir aus Folgendes sagen. Erstens sei gemeldet, dass viele Menschen per Email oder am Telefon auf den Vorschlag positiv reagiert haben. Es sieht so aus, dass Menschen aus drei Ländern – Belgien, Holland und Deutschland – sich an dem Projekt beteiligen werden. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: manche Menschen haben geahnt oder erkannt, um wen es hier konkret geht, und halten die Arbeit meines Freundes für wichtig. Andere meinen, dass die Zeit für solche Projekte reif sei. Warten auf „politische Entscheidungen“ (zum Beispiel in Bezug auf das Bedingungslose Grundeinkommen) würde nicht nur heißen, dass Chancen verpasst werden, sondern vor allem auch, dass an der persönlichen Verantwortung von freien Bürgern vorbei gegangen würde.

Ich werde in der nächsten Zeit von diesem Projekt auf meinem Weblog weiter berichten. Ich nehme mir die Freiheit, dem Projekt einen Namen zu geben: „Unternehmung Sil“. Dieser Titel kommt von einem Strandgutsammler aus Terschelling namens Sil. Er hatte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Mut, seinen Sehnsüchten zu folgen, entgegen den moralischen Gepflogenheiten seiner Zeit. Wie der Strandräuber Sil wandert mein Freund ständig zwischen sozialem Festland und dem Meer der Zukunft: die soziale Brandung ist sein weites Arbeitsfeld.

Zweitens möchte ich ein paar Missverständnisse wegräumen. In einer Kultur des Herzens wird nicht von „helfen“ gesprochen, sondern von „unterstützen“. Es geht ganz und gar NICHT darum, karitativ zu sein: von dem Gedanken, dass es „arme“ Menschen gibt, die von den Wohlhabenden Hilfe bekommen, ist eine Kultur des Herzens weit entfernt. Man sollte dazu an dieser Stelle auch verstehen, dass mein Vorschlag, 50 Euro pro Monat beizusteuern (was für manche Menschen viel Geld ist), nicht entscheidend ist. Einige Menschen haben dies auch erkannt, und sich auch mit einem geringeren Betrag gemeldet. Letztendlich könnte man auch EINEN Euro pro Monat beitragen – es geht nicht um die Menge, sondern um die Beteiligung. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man diesbezüglich eigentlich – wie üblich – von „Schenkgeld“ sprechen kann.

Es geht um die Beteiligung an der Biographie eines anderen Menschen, und die geht ja nicht ausschließlich über eine finanzielle Ebene. Wenn wir von „neuen“ Gemeinschaften reden – und sehnen wir uns nicht danach? – bleibt alles Gerede nur Gerede, wenn der Ausgangspunkt nicht in den konkreten Beziehungen zu konkreten Menschen gefunden wird. Es sind die individuellen biographischen Fragestellungen, die zeigen wo es lang geht, nicht die gesellschaftlichen, ideologischen und politischen Ziele – die doch immer abstrakt sind – und den heutigen Diskurs beherrschen. Die Achsen neuer Gemeinschaften bestehen aus freien und gewollten Beziehungen, und aus entsprechenden Entscheidungen die von Angesicht zur Angesicht getroffen werden.

Der französische Beziehungsphilosoph Emmanuel Lévinas beschrieb die aktuelle Lage in der europäischen Gesellschaft so: „Man möchte [in der heutigen Gesellschaft; JvdM] ein Verständnisprinzip, das den Menschen nicht mehr umfasst, dass das Subjekt ein Prinzip aufstelle, das nicht mehr von der Sorge um das Schicksal des Menschen umfasst werde.“ An die Stelle konkreter Beziehungen sind Staaten, Banken und karitative Stiftungen getreten, die – so besagt das Dogma – „objektiv“ urteilen können. In einer Kultur des Herzens existiert diese Objektivität nicht, weil Schicksal immer eine persönliche-überpersönliche Angelegenheit ist.

Mit konkreten Schicksalen sind konkrete Aufgaben, Anliegen und Vorsätze verbunden. Andere Aufgaben, Anliegen und Vorsätze gibt es nicht. Die Zeit, dass Menschen sich im Rahmen einer politischen Partei, einer Gewerkschaft oder einer wohlwollenden Stiftung auf abstrakte Ziele einigen konnten, ist längst vorbei. Die Knotenpunkte in einer Kultur des Herzens beruhen auf der gegenseitigen und freien Anerkennung der Begabungen und Intentionen von Menschen, die sich als Schicksalsgefährten verstehen. (Und es muss nicht einmal sein, dass man seine Schicksalsgefährten auch privat kennt.)

Eine große Frage bleibt allerdings, wie solche Projekte gestaltet werden. Ich werde die „Unternehmung Sil“ in der nächsten Zeit als Anlass nehmen, auf die Frage des Geldes und seiner Existenz in einer Kultur des Herzens zu schauen. Ich würde mich über Beiträge, Kommentare und Vorschläge sehr freuen, weil in einer Kultur des Herzens der Weg nur gemeinsam gefunden wird. Ich würde sagen: was wir brauchen sind Konferenzen an der Brandung.

12.12.2010

Ein unsichtbares Komitee. Der kommende Aufstand

Ich räume ein, der Text hat mich elektrisiert. Vor allem die ersten siebzig Seiten sind brillant geschrieben, die Analysen scharf und manchmal sehr überzeugend, die rhetorischen Flammen heiß, Ton und Inhalt souverän. Der Text nennt sich ein Manifest, die Autoren kommen aus Frankreich, bleiben allerdings anonym. Ein Aufstand wird nicht ausgerufen, sondern einfach angekündigt. „Wir befinden uns schon jetzt in der Untergangsbewegung einer Zivilisation. Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss“, schreibt das Komitee, das aus strategischen Gründen „unsichtbar“ bleiben will…

Die Probleme sind bekannt: Arbeitslosigkeit, Finanzkrisen, Umweltkatastrophen, Migration, das Auseinander fallen von Europa... Das unsichtbare Komitee meint allerdings, dass die eigentliche Krise eine andere ist. „Die Erhaltung des Ichs in einem Zustand des permanenten Halbverfalls, in einem chronischen Halbversagen, ist das am besten gehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge“, schreibt es.

Und: „Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesensmäßig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität begründet“. Hier wird also nicht auf die „anerkannten“ Probleme geschaut, sondern auf die Stelle des individuellen Menschen in einer Gesellschaft, die mit dem individuellen Menschen nicht rechnet.

Der Mensch, so meint das Komitee, ist von jeder Zugehörigkeit losgerissen: von seiner Familie, seinen Freunden, seinem Viertel, seiner Geschichte, seinem Beruf und seiner Berufung, nichts gehört ihm mehr. Durch die Zwänge der Wirtschaft ist er „enteignet“ von seinem Selbst: er soll nicht arbeiten um sein Leben zu leben, sondern sein Leben aufgeben, um zu arbeiten. Was sein Leben ausmacht, innerlich und äußerlich, ist schon längst nicht mehr relevant. Der Mensch ist sich selber fremd geworden, und „sein Hass gegen den Fremden verschmilzt mit dem Hass gegen sich selbst als Fremden“.

Das sind kräftige Sätze, die viel Wahrheit beinhalten. Ganz stark sind auch die folgenden: „Es gibt keine Umweltkatastrophe. Es gibt diese Katastrophe, die die Umwelt ist. Die Umwelt ist das, was dem Menschen übrig bleibt, wenn er alles verloren hat.“ Und: „Was als Umwelt erstarrt ist, das ist eine Beziehung zur Welt, die auf der Verwaltung aufbaut, das heißt auf der Fremdheit“. Rudolf Steiner würde an dieser Stelle sagen, dass die Katastrophe keine Katastrophe, sondern eine Chance der jungen Bewusstseinsseele ist. Die Katastrophe bestünde aus seiner Sicht eher daraus, dass sie nicht als Chance wahrgenommen wird.

Als letzter starker Satz: „Zu jedem Leben gehört eine Dosis Wahrheit, die das abendländische Konzept nicht kennt.“ Weniger stark scheinen mir allerdings die revolutionären Vorschläge zu sein, die auf den letzten dreißig Seiten des Manifestes gemacht werden. Die erste Empfehlung ist immer noch stark: fange bei deinen Wahrheiten an. „Eine Wahrheit ist nicht etwas, das man besitzt, sondern etwas, das einen trägt“. Auch die zweite Empfehlung trifft zu: nimm deine Freundschaften ernst. „Jede Begegnung ist Begegnung IN einer gemeinsamen Affirmation“. Das klingt nach einer Kultur des Herzens.

Mit ein paar Aspekten habe ich allerdings Probleme. Das erste ist, dass in den Text immer wieder der „Partisan“ romantisiert wird. Der Kämpfer wird als eine Art Widerstandssoldat beschrieben, der machen darf, was er will, solange er der Sache dient und außerdem nicht erwischt wird. Schmerzen darf er den dummen oder gerade schlauen „Anderen“ offenbar zufügen, das ist man in revolutionären Bewegungen gewohnt. Wer mit den dummen Anderen gemeint ist, wird in dem Text klar: die sich anpassenden Bürger, (nicht WIR, die gerade das Manifest lesen!)

Anonym bleibt der schlaue Andere, der Feind, der in dem Text immer wieder „man“ genannt wird, der mit Erfolg seine offenbar unwürdigen Ziele verschwörerisch durchsetzt. Er scheint sich unsichtbar auf den Chefetagen großer Unternehmungen aufzuhalten. Ich glaube, dass so ein „man“ nicht existiert. Wenn es einen Feind gibt, so meine ich, dann müsste er in uns selber gesucht werden. Revolutionen, in ihren Ausgang darin finden, dass die Anderen Schuld haben, brauchen wir nicht mehr…

“Wenn wir einmal in die Sichtbarkeit eingetreten sind, sind unsere Stunden gezählt“, schreibt das Komitee. Diese Haltung ist verständlich, bedeutet allerdings einen Schritt zurück. Was eher hilft, sind strahlende „Iche“, die sich souverän ins Lichte der Öffentlichkeit stellen. Ein unsichtbares Komitee macht sich selber zum Geschwür, den angeblichen Komplizenschaften der großen Unternehmungen nicht unähnlich. „Man“ macht sich auf diese Art und Weise zu einem Feind, den es nicht gibt.

Dem Komitee zufolge müssen Gemeinschaften (in dem deutschen Text wird irreführend von „Kommunen“ gesprochen: romantisch-revolutionäre Rhetorik!) entstehen, die sich „nicht durch ein Drinnen und ein Draußen definieren, wie Kollektive es im Allgemeinen tun, sondern durch die Dichte der Verbindungen in ihrem Innern“. Das ist sehr richtig, eben entscheidend. Dieses Innen durch Anonymität zu schützen, führt allerdings zwangsläufig zu einer Trennung zwischen innen und außen. Und damit kreiert „man“ gerade das, was „man“ bekämpfen will: die Fremdheit.

05.12.2010

Praktiken einer Kultur des Herzens. Über die Finanzierung neuer Begabungsprofile

Wenn in der heutigen Gesellschaft von „Arbeit“ gesprochen wird, ist damit immer „bezahlte Arbeit“, eine Erwerbstätigkeit gemeint. Arbeiten bedeutet heute nicht mehr primär, etwas Sinnvolles zu tun, oder eben überhaupt etwas tun, was man von sich aus auch wirklich tun will, sondern, ein Einkommen zu generieren. In diesem Sinne ist arbeiten in unserer Gesellschaft eine heilige Pflicht: jeder mündige Bürger hat in dieser Hinsicht quasi eine souveräne Verantwortung für seine eigene Existenz.

Wenn jemand, warum auch immer, nicht im Stande ist, diese Verantwortung erfolgreich zu verwirklichen, dann kriegt er Geld vom Staat. In diesem Zusammenhang wird dann von so etwas wie „Solidarität“ gesprochen, was so viel heißt wie: In unserer aufgeklärten Gesellschaft lassen wir die Unglücklichen und Ungeschickten und „Arbeitsbehinderten“ nicht im Stich. Im Grunde genommen beruht diese Solidarität allerdings auf einer Angst: Zu viele Menschen mit gravierenden Existenznöten bringen Unruhe in die Gesellschaft, was letztendlich die aufgeklärte Ordnung der Dinge bedrohen könnte.

Von dem Gedanken, dass „freie“ Menschen das tun müssten, was sie von sich aus – auf der Basis von „freien“ Entscheidungen – tun wollen, sind wir diesbezüglich weit entfernt. Um zu dieser Freiheit zu gelangen, gibt es in der heutigen Gesellschaft eigentlich nur einen Weg, nämlich, sich als freier Unternehmer zu definieren. Mit allen anderen Formen der bezahlten Arbeit geht eine Einbindung in unfreie Zusammenhänge einher: man arbeitet für McDonalds, für das Ministerium, für eine Waldorfschule oder für Greenpeace. Dass die konkreten oder abstrakten Ziele der einen Organisation vielleicht „gut“ und die der anderen vielleicht „weniger gut“ sind, ändert daran nichts.

Ein freier Unternehmer zu werden, bedeutet allerdings nicht, dass man unbedingt das macht, was man machen will. Ich brauche an dieser Stelle nicht alle Faktoren zu beschreiben, die einen Unternehmer daran hindern, seine „Arbeit“ frei zu gestalten – sie sind bekannt. Dazu kommt noch die grundsätzliche Frage, ob die zu Grunde liegende Entscheidung wirklich frei war; der Impuls ein „freier“ Unternehmer zu werden, beruht manchmal auf unbemerkten Unfreiheiten.

Mir geht es in diesem Text vor allem um die Tatsache, dass es eine ganze Menge von Menschen gibt, die etwas wollen, etwas wirklich WOLLEN, was als Arbeitsmotiv – vielleicht besser gesagt: als Tätigkeitsmotiv – von der öffentlichen Gesellschaft nicht verstanden und anerkannt wird. Um einen pädagogischen Begriff des Heilpädagogen Henning Köhler in einen sozialen zu modifizieren: es gibt „neue Begabungsprofile“, die nicht als solche wahrgenommen werden. Anders gesagt: Menschen KÖNNEN etwas, was allgemein nicht als sinnvolle Tätigkeit anerkannt ist.

Ein Beispiel bietet ein guter Freund von mir. Es ist nicht leicht zu beschreiben, was er genau macht. Er ist ständig unterwegs, arbeitet an sogenannten „ökologischen“ und „sozialen“ Projekten, verbindet Menschen miteinander, kann „lesen“ was Menschen wollen, öffnet Türen, setzt erreichbar-unerreichbare Ziele, begeistert durch seine positive Lebenshaltung. Um es genauer zu sagen: sein Begabungsprofil besteht daraus, dass er konkret spüren kann (was nicht heißt, dass er es immer in Worte fassen kann), welche Potenziale zwischen den Beteiligten verborgen liegen. Man könnte nicht einmal sagen, dass er ein „Netzwerker“ ist, weil seine erweckenden Tätigkeiten weit darüber hinaus gehen. Ich betrachte ihn als einen „Schicksalswerker“.

Auf der finanziellen Ebene kriegt er sein Leben allerdings nicht organisiert. Er steht diesbezüglich vor einem Abgrund, den er übrigens mit einer gewissen Leichtigkeit akzeptiert. Trotzdem ist dieser Abgrund das, was ein Abgrund ist: ein Abgrund. Sich als „Arbeitsloser“ vom Staat durchfüttern zu lassen, das will er nicht, nicht weil er dann zu wenig Geld bekäme – er kommt mit ganz wenig aus – sondern weil mit dem Geld die Verpflichtung verbunden ist, sich für Jobs zu bewerben, die er nicht machen will. Er steht also vor einer Frage, die keine Frage ist: weitermachen mit dem, was er wirklich machen will, oder damit aufhören und sich beim Arbeitsamt melden.

In einem Blogtext kann man solchen biographischen Situationen nicht gerecht werden, weil immer hundert Sachen auch noch eine Rolle spielen, für die hundert Seiten nötig sind. Ich meine allerdings, dass diesbezüglich eine dringende Frage vorliegt, die für die Entfaltung einer Kultur des Herzens entscheidend ist. Einfach darauf zu warten, bis das bedingungslose Einkommen eingeführt wird, geht nicht, stärker noch, um einmal so weit zu kommen, werden schon heute gerade die angedeuteten neuen Begabungsprofile gebraucht. Was heißt das?

Das heißt meiner Meinung nach, dass die konkreten Schicksalsflechtwerke um den Beteiligten herum, eine Initiative ergreifen müssen. Letztendlich müssen und können und dürfen es doch die „freien“ Bürger sein, die „Freunde“ also, die sich aus Freiheit (man könnte auch sagen: auf Basis eines Verständnisses) zu einer Verpflichtung stellen? Praktisch gesagt: zwanzig mal fünfzig Euro im Monat würden tausend Euro bringen. Und davon könnte ein erfahrener Schicksalswerker, der gewohnt ist, mit wenig Geld auszukommen, für eine Weile gut leben, sagen wir erst einmal: für ein Jahr?

Sich an der Biografie eines „Freundes“ zu beteiligen, ist ein wichtiger Aspekt einer Kultur des Herzens. Ohne diese praktische Beteiligung gibt es keine Kultur des Herzens. Zu der Entfaltung einer solchen Kultur gehört eben, dass diesbezüglich Erfahrungen und Vorstöße gemacht werden. Mit dem Einstieg in diese Beteiligung werden die sozialen Orte der Zukunft, die auf gegenseitiger, freier Anerkennung basieren, kreiert. Mit einer alten solidarischen Unterstützung hat das nichts zu tun.

27.11.2010

Die Freundschaft als Gebet

Ich habe das Zitat von Jacques Derrida schon einmal als Motto rechts oben auf meinen Weblog gestellt. Und weil die zwei Sätze mich nicht loslassen, zitiere ich sie heute noch einmal. In seiner „Politik der Freundschaft“ schreibt Derrida: „Freundschaft ist nie eine gegenwärtige Gegebenheit, sie ist der Erfahrung des Wartens, des Versprechens oder der Verpflichtung anheimgegeben. Ihr Diskurs ist der des Gebets, er konstatiert nichts, er stiftet, er beruhigt sich nicht bei dem, was ist, er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in der Zukunft öffnet“.

Der erste Satz beinhaltet ein Paradox. Erst wird gesagt, dass die Freundschaft „nie eine gegenwärtige Gegebenheit“ sei, dann jedoch, dass sie eine „Erfahrung“ sei, was darauf hin deutet, dass sie in der Gegenwart erlebt wird. Die Erfahrung bezieht sich auf das Warten, das Versprechen oder die Verpflichtung – solange wir in der Gegenwart (auf die Freundschaft? auf den Freund? auf meine Bereitschaft auch wirklich ein Freund zu sein?) warten können, solange wir an einem Versprechen festhalten, ist die Freundschaft als Erfahrung da.

Ihr Diskurs ist der des Gebets... Im Gebet richten wir uns auf etwas Größeres, etwas, dass über uns hinaus geht, auf etwas Göttliches. Wir glauben (nehmen an, ahnen, hoffen?), dass das Größere auch tatsächlich existiert, uns bemerkt, uns hört, auch wenn es nicht gegenständlich und handgreiflich in der Gegenwart vorhanden ist. Beten ist der Versuch einer Wiederverbindung, was das Wesen der Religion ausmacht: Im Gebet versuchen wir eine verloren gegangene Beziehung wieder herzustellen.

Er (der Diskurs der Freundschaft) konstatiert nichts... Konstatieren bedeutet auf schönem Deutsch: feststellen, also FEST STELLEN, etwas fixieren, etwas eine eindeutige Bedeutung zuschreiben. Im Diskurs der Freundschaft bleibt alles in der Schwebe, einem Zustand, der manchmal schwer auszuhalten ist, weil er uns in unseren Unsicherheiten nicht gerade bestärkt. Wir sind immer wieder geneigt, uns mit Urteilen (über Freunde und Feinde) Sicherheiten zu verschaffen.

Er stiftet... Derrida sagt nicht: der Diskurs der Freundschaft „gründet“, sondern „stiftet“, was eher eine luftig-feurige Angelegenheit ist. Die etymologische Herkunft des Wortes ist laut Duden 7 unbekannt, verrät in alten Wörtern wie „Stiftskirche“ und Redewendungen wie „Unheil stiften“ allerdings noch die ursprüngliche Bedeutung. Stiften heißt so etwas wie „verursachen“ – in der gegenwärtigen Erfahrung des Wartens wird etwas verursacht, das sich als Wirkung erst in der Zukunft entfaltet.

Er beruhigt sich nicht bei dem, was ist... Auch wenn man in Ruhe wartet – Gelassenheit ist eine hohe Tugend – bleibt man nicht bei dem, was ist, sondern bei dem, was noch nicht ist, anders gesagt: das was ist, wird als etwas Unvollkommenes vollkommen in seinem Im-Kommen-sein genommen. Das was ist, wird nicht genommen als etwas, das beruhigt, sondern es wird umgekehrt in Ruhe genommen als etwas, das in seiner Unvollständigkeit auf etwas Kommendes hinweist.

Er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in die Zukunft hinein öffnet... In der Freundschaft (die eine nie gegenwärtige Gegebenheit ist) wird eine Verantwortung gespürt, die es noch nicht gibt, sondern sich erst in der Zukunft öffnet. Die Verantwortung, die es noch nicht gibt, so verstehe ich Derrida, bedeutet in der Gegenwart allerdings schon eine Verpflichtung. Noch ganz abgesehen von der wunderbaren Formulierung, dass Verantwortungen sich ÖFFNEN, überrascht an dieser Stelle der definitive Sprung Derridas in die Zukunft. Unbekannte Verantwortungen, die es in der Gegenwart noch nicht gibt, führen zu Verpflichtungen in der Gegenwart, einer Gegenwart jedoch, die es eigentlich nicht mehr gibt, sobald man „unterwegs“, das heißt: im Kommen ist.

Die Sichtweise Derridas auf die Freundschaft öffnet eine Verantwortung, die es noch nicht gibt. Sie geht somit mit einer konkreten und höchst aktuellen Verpflichtung einher, die vor allem bedeutet: nicht festlegen wollen, nicht urteilen wollen, ja, stattdessen: warten wollen, versprechen wollen und beten wollen. In der Freundschaft wird über eine hartnäckige Differenz hinaus die offene Zukunft zelebriert. Und weil Derrida von einem Gebet spricht, verstehe ich ihn so, dass es dabei aus seiner Sicht erst einmal um eine innere Tätigkeit geht, erst einmal...

21.11.2010

Fragment über die Feindschaft. Das Schicksal von Kain und Abel

Waren Kain und Abel Feinde? Ja, sie waren genauso Feinde, wie sie Brüder waren. In nächster Nähe hat Kain auf Abel und Abel auf Kain gewartet, in der Vertrautheit der Familie, dort wo Jacques Derrida zufolge „einzig der Freund willkommen ist.“ Weil die berühmte biblische Erzählung gerade in ihren Details sehr aussagekräftig ist, zitiere ich aus Genesis 4:

„Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder an und erschlug ihn“.

Aus dieser Erzählung geht nicht zwingend hervor, wie man vielleicht meinen könnte, dass die Feindschaft zwischen Kain und Abel asymmetrisch war, als ob Kain seinen Bruder Abel gehasst hätte, und nicht umgekehrt. Was in Abel vorging, wird in der Genesis nicht erzählt; in alten jüdischen Legenden wird allerdings berichtet, dass vor dem Mord ein Gespräch zwischen Kain und Abel stattgefunden hat, in dem Kain versucht hat, seinem Bruder Abel, seinen Schmerz-von-Gott-abgewiesen-zu-sein, zu vermitteln.

Kain meint, dass Gott die Welt mit „willkürlicher Macht“ regiert, was aus seiner Sicht „nicht gut“ ist. Abel lässt sich auf die Argumente von Kain nicht ein und beharrt darauf, dass Kain offenbar „schlecht“ ist, sonst hätte Gott dessen Opfer doch nicht abgelehnt. Das Urteil Gottes, so wie er es versteht, ist Abel also wichtiger, als die Nähe zu seinem Bruder; ein Umstand, der Kain zusätzlich tief verletzt. Die Legende ist nur so zu verstehen: Aus Abels Sicht war Kain, wegen des Urteils Gottes, schon zum Feind geworden.

Was geschieht? Die Geschichte ist doppelt zu lesen. Einerseits ist deutlich, dass Kain nicht ertragen kann, dass seine „Möglichkeiten“ von der Seite Gottes und somit auch Abels, offenbar nicht anerkannt werden. Aus Neid – oder Enttäuschung? – tötet er Abel und wird dafür bestraft; andererseits scheint es gar nicht um eine Strafe zu gehen, sondern um eine große Aufgabe, die ihm zugeteilt wird: Herr über die Dämonen zu werden.

Die Geschichte zeigt, dass beide von Anfang an und jeder für sich, getrennte Wege gingen. Kain wollte Ackerbauer sein, was im Grunde genommen bedeutet, dass er aktiv in die natürlichen Gegebenheiten einzugreifen hatte; Äcker sind in der Natur nicht einfach so vorhanden, sie müssen aus der Natur erobert, jedes Jahr neu bereitet werden. Mit dem Ackerbau fängt in der Geschichte der Menschheit dasjenige an, was wir Kultur nennen: eine von Menschenhand gestaltete Kreation, in der von Gott gegebenen Wirklichkeit. Mit dem Ackerbau begibt sich der Mensch anfänglich aber grundsätzlich in den Bereich der Technik, die eine Instrumentalisierung der Schöpfung bedeutet. Mit dem Ackerbau ist eine Geisteshaltung verbunden, die als Emanzipation zu verstehen ist: der Mensch macht sich frei von einem unbewusst Eingebettet-Sein in Gottes Werk und kreiert von sich aus ein zusätzliches Werk.

Kains Bruder Abel wollte jedoch ein Schafhirt sein, das heißt, in der Nähe zu Gott bleiben. Er hütete, was Gott den Menschen gegeben hatte, ohne in die Natur einzugreifen oder von sich aus etwas Eigenes gestalten zu wollen. Er wollte einfach bei den Schafen SEIN und in diesem Sein bei Gott sein. Das Wollen Abels und das Wollen Kains waren somit polar: wo der jüngere Brüder sich in einem vertikalen Einklang mit Gott befinden wollte, das man im Sinne von Martin Heidegger als Sein beschreiben könnte, suchte der Ältere eine horizontale Spannung zur gegebenen Welt, die eher als das Seiende zu deuten wäre.

Der schicksalsträchtige Mord fand, laut den Legenden, gerade an dem Ort statt, wo später der Tempel von Salomo gebaut wurde, das Heiligtum also, das als sakraler Brennpunkt des jüdischen Volkes galt. In dem späteren Bau des Tempels wiederholte sich die Spannung zwischen Kain und Abel, was an der Tatsache sichtbar wurde, dass der König und Bauherr Salomo mit seiner religiösen Weisheit als ein Repräsentant Abels und der Architekt Hieram Abiff mit seinen technischen Fähigkeiten als ein Nachfahre Kains angesehen wurde. Das Herz der alten jüdische Kultur, so wurde es verstanden, lag also gerade in der Spannung zwischen den beiden Geisteshaltungen – der Weg des Volkes Israels ging aus dem Konflikt der beiden Brüder hervor, oder anders gesagt: Die Feindschaft, die eine Bruderschaft war, konstituierte die jüdische Gemeinschaft.

14.11.2010

Ein zweites Fragment übers Scheitern. Nochmals zu Elias und Adventura

Scheitern ist nur dann erfolgreich, wenn rückblickend aufrecht versucht wird, die Gründe die dazu geführt haben zu verstehen. Und mit einem Verständnis steht es so: um über die eigenen Beschränkungen hinwegzukommen, vor allem, wenn man an einem BESTIMMTEN Scheitern direkt beteiligt war oder ist, wird eine Lichtung benötigt, in der auch die Positionen der anderen Beteiligten beleuchtet werden können. Gehen wir also in den Wald und suchen eine Lichtung, die groß genug für einen Kreis von vielen Menschen ist.

Wie viele Menschen waren eigentlich an der Elias-Initiativgemeinschaft und an Adventura beteiligt? Das ist schwer zu sagen, weil sich zwischen Kern und Umkreis viele Übergänge befanden, viele intentionale Modalitäten, viele einzigartige und besondere Arten der Verbindung, die das Ganze recht vielfältig machten. Ich behaupte allerdings, dass der Kern – die Menschen also, die tatkräftig mit den Vorbereitungen der Treffen beschäftigt waren – aus etwa zwanzig Leuten bestand. Diese Menschen kamen aus Deutschland, Holland, Frankreich und der Schweiz.

Der Umkreis wird allerdings etwa 500 Menschen umfasst haben, vielleicht eben noch ein bisschen mehr. Von diesen Beteiligten kann gesagt werden, dass sie in ihrem eigenen Leben ein Anliegen hatten, das mit den Zielen der Elias-Initiativgemeinschaft und von Adventura erkennbar korrespondierte. Alleine die Liste der Herkunftsländer der Beteiligten (wahrscheinlich unvollständig) macht deutlich, dass Umkreis und Kern nicht identisch waren. Neben den vier oben genannten Ländern wären zu nennen: die Vereinigten Staaten, Canada, England, Schottland, Schweden, Finnland, Tschechien, die Slowakei, Österreich, Italien, Luxemburg, Belgien, Peru...

Der Impuls der Treffen lag ohne Wenn und Aber in dem Buch „Über die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed, den darin dargestellten Impuls genau zu beschreiben, ist allerdings nicht einfach. Ich würde sagen, dass die Inhalte des Buches eine große Idee transportierten, die sich vielleicht folgendermaßen in Worte fassen lässt: in jeder einzelnen Biographie gibt es Wunden, die zu geistigen, sozialen und künstlerischen Fähigkeiten verwandelt werden können. Das Ziel der beiden Gemeinschaften – Elias und Adventura – lag darin, in der Begegnung zwischen Menschen eine Nähe und ein Vertrauen zu ermöglichen, die diese Verwandlung mit bewirkt. Die Leitlinie war: deine Probleme sind Weltprobleme, die Weltprobleme sind deine Probleme.

Das ist eine richtig GROßE Idee, die auf GROßE Gestalten der Geistesgeschichte zurückzuführen ist: Mani, Christian Rosenkreutz, Elias, Zarathustra, Rudolf Steiner – ich würde auch hinzufügen: Mahatma Gandhi, Joseph Beuys und Nelson Mandela... Die „manichäische“ Idee ist allerdings nicht nur groß, sondern auch brisant, weil sie einen ungewöhnlichen Blick auf sogenannte menschliche Defizite wirft. Dieser Blick lässt sich vielleicht in dem Satz: „Ohne meine (deine) Wunden, wo bliebe meine (deine) Kraft?“ halbwegs andeuten. Gerade dort wo unsere Schwächen liegen, verbirgt sich offenbar Gestaltungspotenzial.

Wie man diese Idee über das Persönliche hinaus in einer Gemeinschaft lebt, ist nicht eine schwierige zusätzliche Frage, die sich auf irgendeine eventuelle praktische „Umsetzung“ bezieht, sondern die Hauptfrage schlechthin, man könnte auch sagen: die einzige Frage, die sich erst einmal gar nicht umsetzen lässt. Ein Sich-offen-und-frei-in-dieser-Frage-„Befinden“, sie aushalten zu können, macht die Hauptsache aus. Die Neigung an dieser Stelle, auf bestimmten Lösungen zu beharren, führt zwangsläufig dazu, dass die Gemeinschaft auseinanderfällt.

Wenn man Treffen (Tagungen, Seminare, Vorträge) organisiert, fließt Geld – und wenn Geld fließt, wird auf der rechtlichen Ebene eine transparente Struktur gebraucht. Diesbezüglich gab es im Laufe der Jahre immer wieder zwei Positionen, die spontan als richtig empfunden wurden. Die erste Position war kommerziell-unternehmerisch ausgerichtet: ein paar Leute würden eine Unternehmung gründen, die die verschiedenen Treffen organisiert. Die Beteiligten könnten dann von den Gewinnen leben.

Die zweite Position gewann die Debatte. Sie war auf die ganze Gemeinschaft orientiert: es wurde ein Verein (die Elias-Initiativgemeinschaft e.V.) gegründet. Alle Beteiligten konnten Mitglied werden. Die Mitglieder wählten Vorstände, die im Namen der Mitglieder die tägliche Verantwortung für die Verwirklichung der Ziele übernahmen, so wie das in Vereinen üblich ist.

Einmal im Jahr fand eine Mitgliederversammlung statt, in der über Richtung und Tätigkeiten abgestimmt wurde. An dieser Stelle ist allerdings wichtig zu bemerken, dass die Treffen von Adventura, die erst später entstanden, im Elias-Verein keine Einbettung fanden, einfach weil nicht alle Elias-Mitglieder sich bei der Arbeit von Adventura wohl fühlten. Nach einigen Jahren wurde deutlich, dass der Verein als Rechtsträger an ein Ende gekommen war – immer weniger Treffen wurden organisiert, es fand weniger statt, „die Sache“ lief aus.

Mir scheinen heute beide Vorschläge zu schmal gewesen zu sein. Die sehr große „manichäische“ Idee braucht eine bewegliche Struktur, die von beidem etwas hat: unternehmerische Gesinnung und gemeinschaftliche Besinnung. Und mir ist es immer noch eine große Frage: wie sind Wirtschaft und Gemeinschaft im Rahmen eines geistigen Impulses sinnvoll und fruchtbar aufeinander zu beziehen? Ich behaupte, dass es noch immer keine konkrete Antwort auf diese Frage gibt.

Daran ist jedoch die Zusammenarbeit aus meiner Sicht nicht gescheitert. Der eigentliche Punkt lag darin, dass zu wenig Beteiligte, inklusive ich selber, den Blick auf der Lichtung der großen Idee aushalten, erwarten, ertragen und in sich halten konnten. Sich zumindest für eine Weile von den eigenen Vorstellungen und Erwartungen zu verabschieden, um einen offenen Raum zu kreieren für dasjenige, was im Kommen war, war nicht ausreichend möglich. Und das heißt letztendlich, dass die große Idee in all ihren Konsequenzen nicht hinreichend verstanden wurde.

07.11.2010

Ein Fragment übers Scheitern. Die Elias-Initiativgemeinschaft und Adventura

1993 weitete sich mein Leben schlagartig aus. Der Grund lag in der Veröffentlichung des letzten Buches von Bernard Lievegoed, erst in den Niederlanden – mit dem Titel "Over de redding van de ziel" – dann, noch im gleichen Jahr, in Deutschland: "Über die Rettung der Seele". Ich war am Schreiben des Textes beteiligt, weil Lievegoed krank auf dem Sterbebett lag und nur noch sprechen konnte. Er erzählte mir die Inhalte, die ich mit einem Tonband aufnahm und zu einem Manuskript verarbeitete. Auch bat er mich, eine Einleitung zu schreiben, um zu erklären, wie das Buch zustande gekommen sei. Als das Buch 1993 erschien, war Bernard Lievegoed bereits verstorben; er starb am 12. Dezember 1992.

In meinen Büchern "Mittendrin" und "Herzwerk" habe ich beschrieben, wohin die Publikation des Buches mich führte. Über die Inhalte brauche ich an dieser Stelle nichts zu sagen: wer interessiert ist, kann die Bücher lesen. Es reicht für heute zu schreiben, dass Lievegoed der Meinung war, dass die Anthroposophie im Laufe ihrer Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert in eine spirituelle Isolation geraten ist, die er mit seinen esoterischen Ausführungen in "Über die Rettung der Seele" versuchte zu durchbrechen. Er stellte die Anthroposophie als eine Bewegung mit einer spezifischen Aufgabe dar, die nur im Rahmen eines übergeordneten geistigen Impulses zu verstehen sei, nämlich dem manichäischen. Eine Orientierung auf diese Geistesströmung sei nötig, um die „untergeordneten“ Aufgaben der Anthroposophie besser zu verstehen und zu ergreifen.

Nur zehn Tage bevor er starb, sagte Bernard Lievegoed mir noch, dass er sich viel von dem Buch verspreche. Und er hatte recht: Direkt nach dem Erscheinen des Buches erreichten mich Anfragen für Vorträge und Seminare in ganz Europa. In den Jahren die folgten, reiste ich fast jedes zweite Wochenende irgendwo hin, um über die Inhalte des Buches zu sprechen: in Holland, Belgien, Deutschland, Österreich, der Schweiz, England, Frankreich, Griechenland, Finnland... Die meisten Anfragen kamen allerdings aus Deutschland. Entscheidend waren jedoch die ersten Seminare, sieben insgesamt, jeweils eine Woche lang, die in Griechenland stattfanden.

Auf der griechischen Insel Santorini traf ich Menschen, die seitdem und bis heute zu meinen Weggefährten gehören. Die Seminare in Griechenland wurden von der Elias- Initiativgemeinschaft organisiert, einer Initiative von Cornelia Härtelt und Brigitte Rauth aus Stuttgart. Im Rahmen dieser Gemeinschaft wurde ein paar Jahre später ein Verein gegründet, der als Ziel hatte, die inhaltlichen und sozialen Konsequenzen des Buches "Über die Rettung der Seele" weiter zu verfolgen, zu vertiefen und zu gestalten. Freundschaften, Bekanntschaften und Verbindungen entstanden, die sich wie ein Flechtwerk über viele Länder verbreiteten.

Die Arbeit in der Elias-Initiativgemeinschaft richtete sich stark auf die persönlich-biographischen Bedürfnisse der Teilnehmer. Es ging darum, die Wunden in der eigenen Biographie zu heilen, ohne sich auf eine therapeutische Ebene begeben zu müssen. Der Ausgangspunkt lag in der von Bernard Lievegoed vermittelten manichäischen Sichtweise, dass das Böse und die Folgen des Bösen „durch Milde verwandelt werden können“. In den Treffen hatten Gesprächsformen und künstlerische Tätigkeiten, die eine Nähe zwischen den Teilnehmern ermöglichen, eine große Bedeutung. In einem Buch, 2005 von der Elias-Initiativgemeinschaft herausgegeben, wird von einem dieser Treffen (Juli 2002, in Neukirchen bei Flensburg) ein dynamisches Protokoll unter dem programmatischen Titel: Ohne meine Wunde, wo bliebe meine Kraft? gegeben.

Nach ein paar Jahren entstand innerhalb der Elias-Initiativgemeinschaft eine zweite Initiative, die sich weniger auf die persönlichen Nöte der Menschen richtete und eher die öffentlich-gesellschaftlichen Fragen ins Auge fasste. Nicht alle Beteiligten der Initiativgemeinschaft machten dabei aktiv mit, weil bei manchen das Empfinden vorherrschte, dass ein gesellschaftlicher Ansatz nicht mit der Atmosphäre eines persönlichen Vertrauens zu vereinbaren sei.

Die zweite Initiative wurde „Adventura“ genannt, was bedeutet: „Was auf uns zukommt“. Ab 1997 fanden über Jahre hinweg größere Veranstaltungen statt, wo Menschen aus ganz Europa von ihrer sozial-gesellschaftlichen Arbeit berichteten. Der Beginn war in Bad Gandersheim auf einem Gelände, wo vor tausend Jahren Roswitha von Gandersheim gearbeitet und gewirkt hat und im Dritten Reich von den Nazis eine Außenstelle von Buchenwald betrieben wurde. Eine kleine Gruppe von Menschen bereitete die Treffen intensiv vor. Die großen Treffen wurden „umgekehrte Konferenzen“ genannt, das heißt: die Themen und Inhalte kamen von der Seite der Teilnehmer.

Nach drei Veranstaltungen in Bad Gandersheim, einer vierten in Brügge und einer fünften in Aachen ging uns die Kraft aus. Die Anzahl der Teilnehmer nahm ab: waren es das erste Mal in Bad Gandersheim noch 180, in Aachen waren noch etwa 40 übrig geblieben. Mit der Abnahme der Teilnehmer nahmen allerdings die Spannungen in der Kerngruppe zu. Die Meinungsverschiedenheiten betrafen unter anderem die Finanzen; in der offenen und nicht festgeschriebenen Struktur von Adventura gelang es uns nicht, die Geldströme transparent zu machen.

Nach etwa sieben Jahren löste Adventura sich allmählich auf. Adventura war eine Initiative, die sich eine Biographie leistete: sie wurde geboren, lebte leidenschaftlich und starb. Die Landschaft meiner Beziehungen, Bekanntschaften und Freundschaften wurde wieder überschaubar. Dazu kam, dass ich mittlerweile müde geworden war, vom Reisen, von endlosen Gesprächen, von organisatorischen Sachzwängen... Ich hatte mich über Jahre verausgabt. In mir kam das Bedürfnis hoch, meine Erfahrungen zu reflektieren, die Elias-Initiativgemeinschaft und Adventura als Ereignis für mich zu bewerten. Ich stellte mir die Frage: ist Adventura gescheitert?

31.10.2010

Das höhere Ich. Über die Hoheit des individuellen Menschen

Die jeweilige Hoheit eines Menschen verstehe ich als Bildhauer, der in der Gestaltung der Persönlichkeit ständig Entscheidungen trifft. Sie steht nicht nur für die positiven Ergebnisse ihrer Entscheidungen, sondern genauso für die negativen, was also bedeutet, dass sie die Urheberin der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines Menschen ist, und damit auch von den grundlegenden Spannungen, die sich in einer Persönlichkeit ausleben wollen.

Die Hoheit kreiert in jedem Lebensgang eine Art Knoten, man könnte auch sagen: eine Frage, die meistens nur unterschwellig wirkt, allerdings in allen Aspekten der Persönlichkeit und des Lebens präsent ist. Ihre Handschrift ist nicht zu übersehen, genauso, wie ein Bild von Pablo Picasso nicht mit einem von Marc Rothko zu verwechseln ist. Das Anliegen der Hoheit ist es NICHT nur eine Statue auf ein Podest zu heben, eine Persönlichkeit also, die mit lauter Fähigkeiten behaftet ist, sondern ihr Anliegen ist es, ein körperlich-seelisch-geistiges Gefüge in Raum und Zeit hervorzurufen, das sich auf die Welt, auf die anderen Menschen und auf sich selbst zubewegt.

Die Hoheit eines Menschen hat also ein Anliegen. Sie will etwas ganz Bestimmtes, und sie will es so, dass dasjenige, was wir unsere widersprüchliche Persönlichkeit nennen, die Gesamtheit von Statue und Brocken etwa, sich nicht als ein fertiges Ergebnis versteht, als ein mehr oder weniger gelungenes in die Welt „Geworfen-sein“ im Sinne von Martin Heidegger, sondern als ein bestimmter-unbestimmter Vorgang im Raum und in der Zeit, der gestern schon im Gange war, heute im Gange ist und morgen im Gange sein wird.

Sich unbefangen auf die Welt, andere Menschen und sich selbst zuzubewegen, bedeutet nichts anderes, als sich auf das Anliegen der eigenen Hoheit einzulassen. Der Akt der Bejahung vollzieht sich in der Persönlichkeit, die sich in der Bewusstseinsseele (Rudolf Steiner) von ihrer Hoheit emanzipiert hat. In der Bewusstseinsseele wird der Mensch ein „freier Bürger“ im Reich seiner eigenen Hoheit.

Die höhere Instanz, die wir das Selbst oder das höhere Ich nennen, braucht die freie Anerkennung von der Seite der Persönlichkeit, die durch sie hervorgerufen wurde. Wenn die Perspektive der Hoheit von der Persönlichkeit ausgeklammert wird, was leicht geschehen kann, bedeutet das unmittelbar, dass das Anliegen in dem Lebensgang nicht ergriffen wird.

Die Hoheit ist – und hier liegt ein Paradox – zwar souverän, jedoch abhängig von den Taten und Untaten der eigenen Persönlichkeit. Ein Widerspruch ist das allerdings nicht: Auch die Hoheit eines politischen Souveräns, beispielsweise eines Königs, ist an das Wollen seiner Untertanen gebunden. Kein König kann lange gegen sein Volk regieren. Und auch: ein König ohne Untertanen ist kein König, das heißt: kann nicht werden, was er ist.

23.10.2010

Roter Text. Über Foucault und die Mission der Freundschaft

Drei Jahre vor seinem Tod, 1984, äußert sich Michel Foucault folgendermaßen über seine Beziehung zu seinem Freund Daniel Defert: „Ich lebe in einem Zustand der Leidenschaft zu jemandem. Vielleicht ist diese Leidenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt in Liebe umgeschlagen. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Zustand der Leidenschaft bei uns beiden, einen permanenten Zustand, der keinen anderen Grund hat zu endigen als sich selbst und dem ich vollkommen verfallen bin, der durch mich hindurchgeht. Ich glaube, dass es nichts auf der Welt gibt, nichts, was immer es sei, das mich hindern würde, wenn es darum ginge, ihn wiederzusehen, mit ihm zu sprechen.“

Diese Wortwahl ist für Foucault in den letzten Jahren seines Lebens bezeichnend: Er erwähnt die große Idee der Liebe, distanziert sich davon leise mit dem Wort „vielleicht“, evoziert in seinen Beschreibungen allerdings eine Intensität und Nähe, die keine Fragen bezüglich seiner Gefühle für Daniel Defert offen lässt. Sein Biograph Didier Eribon fasst schlicht und einfach zusammen: „Foucault hat ihn bis zum Ende geliebt“.

Foucaults Denken über die Freundschaft wurde von dem Umstand geprägt, dass er homosexuell war. Für Foucault bedeutete dies vor allem, dass die Gestaltung der Beziehung gesellschaftlich nicht vorprogrammiert war; eine homosexuelle Beziehung befand sich in einem dunklen und düsteren Bereich, in dem einerseits Geheimnisse gepflegt werden mussten – wir sprechen von den frühen sechziger Jahren – und andererseits eine homosexuelle Beziehungsform noch nicht festgelegt war. Schwule und Lesben „müssen von A bis Z eine Beziehung erfinden, die noch formlos ist: die Freundschaft“.

Foucault entwickelt eine Sichtweise auf Beziehungen, die im Grunde genommen eine hoffnungsvolle Prognose bedeutet: in seinen Augen dürften Beziehungen zwischen Menschen, zwischen zwei Menschen, immer mehr und mehr von dem Bedürfnis bestimmt werden, interne und externe Freiheiten zu erobern und zu pflegen. Foucault verallgemeinert die spezifische Position der homosexuellen Beziehung; für alle intimen Beziehungen, die sich auf der Basis einer persönlichen Nähe gestalten wollen, gilt, dass sie sich gesellschaftlich in einer besonderen Lage befinden.

Francisco Ortega fasst diese Sichtweise folgendermaßen zusammen: „Foucault zufolge leben wir in einer Welt, in der die sozialen Institutionen dazu beigetragen haben, die Zahl der möglichen Beziehungen zu begrenzen. Der Grund dieser Beschränkung liegt darin, dass eine Gesellschaft, welche die Zunahme der möglichen Beziehungsformen zuließe, schwieriger zu verwalten und zu kontrollieren wäre“.

Zugreifen auf die Freundschaft bedeutet „Minoritäten entstehen zu lassen, die der Macht Widerstand leisten“. Inspirierend an dieser Erweiterung der Idee der Freundschaft ist, dass sie eine Brücke zwischen Privatem und Öffentlichem schlägt. Sie verleiht der Freundschaft eine positive Würde, nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für das soziale Leben und die Gesellschaft.

Diese Brücke wird für mein Verständnis von drei Pfeilern getragen: 1. Der Selbsterkenntnis und der „selbstbildenden Praxis“, das heißt: der souveränen und kreativen Beziehung von mir zu mir; 2. der Verbindung von mir zu dir, mit der eine gemeinsame Verantwortung für die souveräne Gestaltung der Beziehung einhergeht; 3. der Bedeutung der EINEN und der ANDEREN Freundschaft für das Leben von viel mehr Menschen, für die Menschen um die Freundschaftspaare herum, letztendlich für das öffentliche Leben mitsamt seinen Institutionen.

17.10.2010

Vögel als Freunde. Über die Elster, das Rotkehlchen und die Kohlmeise

Ich bin durch und durch ein Stadtmensch, und habe für mich festgestellt, dass ich damit auch gerne kokettiere. Mir geht es nach längerem Verweilen auf dem Land oder im Wald so, dass ich mich wieder nach der Großstadt sehne. Ich mag die Welt der Kioske, Kneipen, Straßenbahnen und Supermärkte. Die Nähe zu Bäumen, Pflanzen, Wiesen, Bächen und Tieren ist mir nicht gegeben; um eine innere Beziehung dazu herzustellen, muss ich in der Regel etwas tun. Um es auf einen Punkt zu bringen: Land und Wald wirken auf mich (leider) wie Museen: dort findet man schöne-aber-alte Sachen, die mit der Gegenwart nur wenig zu tun haben.

Eine klare Ausnahme sind die Vögel. Seit meiner Jugend pflege ich eine intensive Beziehung zu beispielsweise der Amsel (für mich heißt sie noch immer „merel“). Wenn ich als Kind abends am offenen Fenster saß und vor mich hin träumte, sang sie vom höchsten Punkt der Dächer aus ihren leicht melancholischen Gesang. Sie schien sich von demjenigen zu verabschieden, was auch mich ein bisschen traurig machte: dem Tag der hinter uns lag. Gleichzeitig sehnte sie sich nach etwas, was gerade im Kommen war: der Nacht. Mein Großvater nannte die Amsel, den „Singvogel der Stadt“. Es wäre denkbar, allerdings wahrscheinlich nicht ausführbar, mein Leben als eine Reihe von stillen „Sitzungen“ mit der Amsel zu beschreiben.

Vögel... Vor ein paar Wochen schickte mir eine gute Freundin aus der Schweiz (Andrea, sei herzlich gegrüßt!) drei kleine Büchlein mit drei kleinen Titeln: „Das Rotkehlchen“, „Die Kohlmeise“ und „Die Elster“. Die Büchlein, nur ein wenig größer als Bierdeckel, beinhalten kurze Texte und kleine Zeichnungen, die allerdings Türen zu großen Welten öffnen. Als ich sie gelesen hatte, war ich nicht nur begeistert, sondern auch bereichert: ich hatte ein paar neue Freunde bekommen. Die Büchlein sind als „adamitische“ (Walter Benjamin) Beschreibungen von „Wesenheiten“ zu bezeichnen. Kleine Welten werden auf einmal groß, einfach dadurch, dass zwei Menschen (Text: Wolter Bos; Zeichnungen: Johanne Hoek) sich liebevoll um etwas kümmern, was meistens nicht beachtet wird.

Zur Elster hatte ich schon eine Beziehung, das wird im zwanzigsten Kapitel meines Buches Herzwerk beschrieben. Mir war schon bekannt, was in mir geschieht, wenn ich den stolzen und frechen Bewegungen und krächzenden Geräuschen der beiden Elstern – man sieht sie meistens in Paaren – in mir „wiederhole“: sie verknüpfen Ignoranz mit Souveränität, eine fast unmögliche Leistung... Die Elstern sind beides: scheu und brutal, und auch in den Farben ihrer Erscheinung verraten sie, dass sie Widersprüche vereinen: tiefes Schwarz und klares Weiß beziehen sich konfus auf einander.

Das Rotkehlchen war mir bislang noch nicht so richtig begegnet. Wolter Bos: „Eine Weile sitzt das Rotkehlchen fast regungslos da (auf einem herunterhängenden Ast einer Buche. JvdM), dann fliegt es plötzlich zielsicher zum nächsten Strauch, von dort zum Boden. Flink und gewandt durchquert es die im Bewuchs ausgesparten Zwischenräume. Aber immer legt es eine Bewegungspause ein. So geht es wach, aber ohne Hast und Lärm, seiner Beschäftigung nach“. [...] Während wir es dabei beobachten, zieht auch in uns Ruhe ein. Es ist, als wären wir in einen stillen, beseelten Raum eingetreten“.

Neben diesem Text gibt es eine Zeichnung von Johanna Hoek: einen herunterhängenden Ast mit zartem Grün, wie aus dem Frühling des Himmels – und auf dem Ast sitzt (steht entschieden, müsste man eigentlich sagen) das Rotkehlchen, mit einem Raum um sich herum, der dadurch als Raum erlebt wird, weil das Vögelchen sich so klar und still als „Zentrum“ anbietet. Nein, die Zeichnungen sind keine Illustrationen zum Text: sie bieten eine Übung für die Augen. Mein Tipp an Leser: versenkt euch erst in die Zeichnungen, und lest dann erst den Text.

„Das Rotkehlchen [...] macht, bei aller Beherrschung und Distanz, niemals einen kühlen Eindruck. Zwar lebt es in einem eigenen Raum, und ist darin sich selbst genug. Aber im Gegensatz zum Neuntöter schimmert bei ihm immer eine Art innere Beteiligung an seine Umgebung hindurch“. Und: „Der reichhaltige Gesang des Rotkehlchens [...] nimmt einen mit in eine innere Provinz, in der es Schweres und Dunkles gibt; aber das immer wieder aufgehoben wird in Leichte und Helligkeit“.

Der Autor und die Künstlerin sind bescheiden. Sie stellen sich in den Dienst einer Sache, der Sache der Vögel nämlich, oder besser gesagt: der Sache der Beziehung zwischen uns und den Vögeln. Was sie erlebbar – und damit auch „denkbar“ – machen, ist die Nähe als ein Raum geistiger Natur.

Was philosophisch ein schwieriges Thema ist, nämlich die Bedeutung unserer feinen Gefühle (ich meine nicht unsere Emotionen), ihren Status und ihre Aussagekraft zu zeigen, kurz: ihren „Wahrheitsgehalt“ zu beleuchten, kriegt in den einfachen aber treffenden Zeichnungen und Beschreibungen eine unmittelbare Evidenz. Es macht deswegen richtig Spaß, sich die Zeichnungen anzuschauen und die Texte zu lesen. Sie machen die Welt ganz schön weit.

Und die Kohlmeise? „Ein Mensch, der sich die Fähigkeit aneignen will, sich rasch im Raum umzustellen, muss zunächst alles Schwerfällige ablegen. [...] Vor allem muss er lernen, im Loslassen der bisherigen Bewegungsform bereits die nächste gegenwärtig zu haben. Das gelingt ohne Nervosität, wenn er innerlich schon vorher am Ziel ist. Gerade das ist die Präsenz im Umraum, welche für die Kohlmeise so bezeichnend ist. Es sind dies alles Fähigkeiten geistig-seelischer Art, die ein Mensch sich erüben müsste. Der Kohlmeise sind sie fertig gegeben. Sie fließen ihr aus der Zugehörigkeit ihrer Art zu. Ja, sie sind die Art“.

Die Büchlein können unter wolterbos@zonnet.nl bestellt werden, es gibt sie auf Holländisch und auf Deutsch.

09.10.2010

Altwindeck: ein Dorf ohne Vergangenheit. Über Körbe und Texte

Ich war vor kurzem in Altwindeck, einem kleinen Dorf nicht weit von der Sieg. Entlang den schmalen windigen Straßen stehen dort Fachwerkhäuser, ganz große und ganz kleine, die sich ruhig und bescheiden verhalten, als wäre es nicht ihre Aufgabe, laut von einer Vergangenheit sprechen zu müssen. Die alte Mühle, das Bürgerhaus, der Dorfplatz und der Gasthof „Zur Linde“ bieten sich unaufdringlich an, sind für dich da, brauchen allerdings deine Aufmerksamkeit nicht, um das zu sein, was sie sind: in sich ruhende Erscheinungen.

Die Vergangenheit von Altwindeck scheint nicht groß zu sein. Ich meine, bedeutende Dichter, Musiker, Philosophen, Staatsmänner oder Unternehmer sind dort nicht geboren worden. Und entscheidende Schlachten haben im hügeligen Abseits dieses Dorfes, soweit ich weiß, nicht stattgefunden – ja, soweit ich weiß: von Altwindeck gibt es offensichtlich nicht viel zu wissen. In einer Broschüre über das Dorf wird nur von der „Gegenwart“ und der „Zukunft“ des Örtchens gesprochen.

Heute leben in diesem Dorf etwa 300 Menschen, nur wenige davon befinden sich an einem Samstagabend im Gasthof „Zur Linde“, trinken ein Bier, rauchen Zigaretten (das Rauchverbot hat Altwindeck noch nicht erreicht), und reden gelassen über die kleinen-großen Ereignisse der vergangenen Woche. Die Bewohner des Dorfes scheinen ganz gut miteinander auszukommen; drei Stunden lang verlaufen die Gespräche ohne Beschwerden oder Vorwürfe. So etwas wie „Politik“ scheint nicht zu existieren. Und die Schnitzel, die mit einem Haufen Zwiebeln und Bratkartoffeln serviert werden, schmecken vorzüglich.

Zusammen mit meiner Lebensgefährtin übernachte ich bei Karl und Annemie, zwei Windeckern, die eine ganze Etage für Gäste bereit halten. Unten im Keller des Hauses gibt es eine Bar mit heftigen Flüssigkeiten aus der ganzen Welt: ich entdecke sogar eine Flasche Jonge Jenever aus Holland. Anderthalb Stunden reden wir zu viert über die ganze Welt: kein Kontinent wird ausgelassen. Karl war mal als Ingenieur tätig, ist heute in Rente und hat „ganz viel“ um die Ohren. Wenn ich mich richtig erinnere, steht demnächst eine Reise nach Brasilien an. Annemie genießt vor allem den Umstand, dass sie mit meiner Freundin spanisch reden kann: „quiero espagñol“, sagt sie ständig fröhlich.

Dann wird vom Leben gesprochen: von Verantwortungen, Anliegen, Krankheiten, Stress, familiären Angelegenheiten – aber auch hier: keine Vorwürfe oder Beschwerden. Das Leben scheint grundsätzlich in Ordnung zu sein, man solle sich nur nicht verausgaben... Eine Art traditionelle Selbsterkenntnis prägt die Erzählungen, die nicht frei von Dramen sind, allerdings in einem „realistischen“ Rahmen betrachtet werden. Es ist eben so, dass das Leben manchmal weh tut, darüber solle man sich doch nicht wundern. Sind wir nicht alle „Menschen“?

Am nächsten Sonntagvormittag gibt es in Altwindeck einen traditionellen Handwerkermarkt. Mehr als zehntausend Besucher werden erwartet. Die Einfahrtstraßen des Dorfes werden von freundlichen Jugendlichen streng bewacht: kein fremdes Auto darf hinein fahren. Rund um das Bürgerhaus – dort kriegt man Kaffee, Bier, Reibekuchen und Süßigkeiten – sind Handwerker zu finden: Uhrmacher, Weber, Schmiede und Korbflechter, Besenbinder und Brotbäcker. Und: Ein Pferdchen ist beauftragt, die Mühle in Betrieb zu setzen.

Der Korbflechter, etwa vierzig Jahren alt, sitzt auf einem Hocker, hält in seinem Mundwinkel eine Zigarette, und befindet sich in einem langsamen Arbeitsrhythmus, den es nicht zu unterbrechen gilt. Um ihn herum liegen mindestens hundert wunderschöne Körbe die man kaufen könnte, wäre der Mann nicht gerade dabei zu flechten. Mir ist sofort klar welchen Korb ich kaufen will, ja kaufen muss, weil ohne ihn mein Leben leer und aussichtslos bliebe. Ich weiß auch bereits, wo ich den Korb hinstellen will, und zwar auf die breite Fensterbank direkt neben dem Küchentisch, wo ich immer meine Texte entstehen lasse.

Als seine Zigarette zu Ende ist, schaut der Korbflechter um sich her, bemerkt mich dann endlich, sagt nichts, bietet sich allerdings anscheinend irgendwie doch an, wie ein Fachwerkhaus, das unerwartet eines seiner winzig kleinen Fenstern öffnet... Ich darf also etwas fragen, zum Beispiel ob ich vielleicht einen Korb kaufen KÖNNTE. Als ich meine Frage schüchtern gestellt habe, nickt er mit seinem Kopf, was so viel bedeutet wie: na ja, wenn du magst... Ich kaufe also einen Korb, ich glaube aus Weidenruten (bin mir aber nicht sicher, traue mir allerdings auch nicht zu, das zu fragen – so etwas sollte man doch einfach wissen!) und lasse den Mann in Ruhe. Er hat kein Wort gesprochen. In seinem Mundwinkel steckt bereits eine nächste Zigarette und seine Hände haben den Rhythmus sofort wieder gefunden.

Jetzt steht der Korb neben mir in der Küche. Und ich schreibe. Und ich denke: ich möchte mich auch mal als Handwerker auf einem Markt anbieten, ich nehme dann meinen Küchentisch, meinen Hocker von Ikea und meinen Laptop mit, setzte mich hin und flechte betagt Texte. Und falls jemand vorbei käme und für neunzehn Euro einen Text kaufen möchte, würde ich nichts sagen. Ich würde nicht einmal wissen wollen, auf welcher Fensterbank in seiner Seele der glückliche Käufer meinen Text zu würdigen gedenkt. Ich würde mir sagen: Jelle, du bist ein traditioneller Handwerker, mehr nicht. Das reicht doch, oder?

03.10.2010

Nochmals Station 4. Über Stimmen in einer finsteren Nacht

Station 4 neigt sich der Nacht entgegen. Auf den Fluren wird alles langsamer. Die Schritte der Krankenschwestern werden träger, die Stimmen gedämpfter, das Klingeln der Patienten seltener. Der lautlose Übergang ins Dunkle & Unbestimmte & Unbewusste erfüllt mich mit dem Verlangen, mich von meinen Gedanken zu befreien & mich der unsichtbaren Hand Gottes anheimzugeben.

Heute gibt es Gott aber nicht. Gott ist weit weg. Und dadurch, dass er mich entschieden alleine lässt, erscheint mein Leben zerstückelt. Ich sehe nur noch Brocken & Fetzen & Splitter. Und ich verstehe: für die Tätigkeit, aus meinem Leben eine Einheit zu gestalten, bin ich auf mich selbst angewiesen. Ich werde heute Nacht nicht einschlafen & morgen nicht wieder neu aufstehen. Und vor allem: ich werde nicht begeistert sein.

Gedanken brauche ich mir in dieser Nacht nicht zu machen – sie kommen von alleine, wie hungrige Wölfe. Sie stürzen sich auf mich, zerfetzen mich. Ich kann sie nicht leugnen, nicht elegant aus ihrer Bahn werfen, nicht ausblenden, nicht mit Argumenten ablenken oder gar stoppen. Sie hören nicht auf mich.

Kurz erscheint vor meinem geistigen Auge mein Freund Jan Frans, der vor mehr als zwanzig Jahren starb – er war gerade fünfunddreißig geworden – weil seine Aorta platzte. Einfach so. Eines Tages hatte er mir gesagt: „Wenn die Nacht kommt, sollst du besser schlafen gehen, sonst kommen die Dämonen.“ In Sachen Dämonen wusste mein Freund Bescheid. „Unkontrollierbare Gedanken,“ so meinte er, „ferngesteuerte. Sie werden zu dir geschickt, um Ängste zu erwecken. Und weißt du warum? Weil deine Angst für die Dämonen Nahrung ist.“

Die Gedanken, die auf mich zukommen, sagen mir, dass das Leben eigentlich ganz einfach ist. Ich müsste einfach nur verstehen, dass es verantwortungslos ist zu rauchen, zu trinken, mich nicht sportlich zu bewegen, mich nicht auf die Rhythmen von Tag & Nacht zu orientieren, Briefe & Emails nicht zu beantworten, wichtige Post vom Finanzamt nicht zu öffnen, die Pflanzen in meiner Wohnung nicht zu wässern & den Kühlschrank nicht zu reinigen.

26.09.2010

Station 4. Die doppelte Macht der praktischen Überlegung

Ich bin aus meinem Bett gestiegen & stehe wie eine Säule auf dem Flur. Die Krankenschwestern halten sich hinter Glas auf, reden & lachen, lesen Papiere & gehen ans Telefon. Es beruhigt mich, dass Krankheiten für sie einfach ein Tagesgeschäft sind. Als Schwester Monika auf ihren Crocs vorbei kommt, sagt sie heiter: „Ach, Herr Moilen, sie sind wieder auf den Beinen?“

Ich schaffe es nicht, zu reagieren. Ich schaue um mich her, wie durch ein Kaleidoskop. Alle Einzelheiten um mich herum sind mir vertraut: die Zeitschriften auf dem Tisch, die Van-Gogh-Sonnenblumen an der Wand, die Fenster, die Türen... Das Ganze aber, ich meine: das Krankenhaus als offensichtlich von Menschen gewollter Einrichtung, verwirrt mich. Was hat das alles auf sich? Wer ist wann und aus welchem Grund auf den Gedanken gekommen, ein Krankenhaus einzurichten?

Krankenhäuser gab es nicht immer. Die Krankenschwestern & Patienten & Ärzte & Therapeuten & Putzfrauen verhalten sich aber so, als ob das Krankenhaus eine Selbstverständlichkeit wäre, eine natürliche Gegebenheit, die es nicht zu hinterfragen gälte. Sie scheinen nicht einmal zu spüren, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden. Wie Vögel in Bäumen, Fische im Wasser & Würmer in der Erde gehen sie in den Räumlichkeiten herum, ohne die Erkenntnis, dass sie in spezifische Bedeutungen eingebettet sind.

Krankenhäuser, so dürfte man meinen, werden gebaut, weil sie praktisch sind: Expertisen & Geräte & Medikamente werden an einem Ort zusammen gebracht, um nicht für jeden Kranken eine Lösung improvisieren zu müssen. Mir ist klar: ohne diesen praktischen Gedanken, hätte ich keine Katheter-Behandlung bekommen können. Und mir leuchtet auch ein, dass gerade dieser Gedanke vielem in der Gesellschaft zu Grunde liegt: Schulen, Fabriken, Autowerkstätten, Gefängnissen, Museen, Läden, Kneipen...

Der praktische Gedanke, so scheint es mir, hat eine doppelte Macht. Einerseits ist gegen ihn nichts einzuwenden – er ist ja selbstverständlich, weil er einwandfrei fruchtbar ist; andererseits aber geht von ihm eine unterschwellige Suggestion aus, die dazu führt, dass die Beziehungen zwischen den Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett festgelegt sind.

Wenn Krankenschwester Monika sagt: „Ach, Herr Moilen, sie sind wieder auf den Beinen?“, meint sie nicht was sie sagt, sondern sie versucht, mich zu beruhigen, was ja ihre Aufgabe ist. Sie hätte auch direkt sagen können: „Herr Moilen, wir haben hier alles im Griff!“ Diese unverblümte Aussage hätte in mir aber sofort die misstrauische Frage geweckt: „Warum sagt sie das? Gibt es ein Problem?“ Direkte Texte funktionieren manchmal nicht.

Die Krankenschwestern werden dafür bezahlt, auf eine verhüllte Art & Weise nur die Lichtungen nach oben zu betonen. Für Wahrheiten sind sie nicht zuständig. Als Schwester Monika ein paar Minuten später wieder an mir vorbei wirbelt, meint sie: „Herr Moilen, sie lesen bestimmt gerne eine Zeitung? Soll ich Ihnen eine bringen?“ Sie meint vermutlich: „Gehen Sie bitte wieder ins Bett!“

Ein Krankenhaus ist ein Ort des Lebens. Auf Station 4 wird gezweifelt, geheilt, geliebt, gesucht, aufgestanden, gedacht, ja vor allem auch: gedacht! Die Praxis des Lebens lässt sich von einem einzigen praktischen Gedanken nicht einschränken, wie mächtig er auch ist; um sein Leben zu führen, vor allem wenn man ernsthaft krank ist, braucht man mehrere mächtige Gedanken. Der Gedanke der Effizienz erschwert es aber, die Lichtungen & Verdunklungen direkt zur Sprache zu bringen.

Schwester Monika wäre überfordert. Und Dr. Davids, mein Kardiologe, auch.

19.09.2010

Die höchste Beziehungsform? Über eine sehr alte Frage

Es ist eine alte, vielleicht eben veraltete Frage: welche Beziehungsform darf als die höchste gelten? Diese Frage kann in einem Kreis von Menschen ein Streitgespräch, mit zwei sympathischen aber unhaltbaren Positionen, entzünden. Die eine Sichtweise besagt, dass die Liebesbeziehung an höchster Stelle steht, weil sie alle Facetten des Lebens umfasst. In der Liebe finden geistige, seelische und körperliche Berührungen statt, wird das Leben rund um die Uhr geteilt (natürlich nur, wenn man zusammenlebt) und man steht auch auf der existentiellen Ebene zueinander (was nicht alle Liebespaare unbedingt wollen und tun). Mit der Liebesbeziehung ist die Vorstellung verbunden, dass sie im Prinzip nichts ausschließt und deswegen komplett ist.

Die andere Position stellt die Freundschaft an die höchste Stelle. In dieser Sichtweise wird betont, dass die Freundschaft eine freie Beziehungsform sein kann, gerade weil die sexuell-körperliche Ebene nicht einbezogen wird. Die Sexualität wird in dieser Sichtweise eher als ein Hindernis verstanden: ein weites Feld voller Probleme, von denen man nicht zu viele haben sollte. Mit der Sexualität werden Verstrickungen verbunden, die als eine Bedrohung der Souveränität gelten. Manchmal wird auch noch gemeint, dass auch die gegenseitige Beteiligung auf der existentiell-finanziellen Ebene die Handhabung der Freiheit zwischen den Partnern erschwert. Die Freundschaft müsse einen Freiraum bilden, der nur entstehen kann, wenn Abhängigkeiten vermieden werden.

Wenn man auf die postmoderne Landschaft menschlicher Beziehungen schaut, stellt man allerdings fest, dass in unserer Lebenspraxis diese Frage ihre Gültigkeit eigentlich schon längst verloren hat. Das Lebensgefühl der heutigen Zeit hat sich grundsätzlich von solchen absolut bewertenden Fragen verabschiedet: so etwas wie „das Höchste“ oder „das Beste“ gibt es nicht mehr. Wenn es um die menschlichen Verbindungen geht, herrscht eher das Gefühl vor, dass die unterschiedlichen Beziehungsformen sich im Grunde genommen ständig vermischen, also praktisch nicht voneinander getrennt werden können. Warum muss denn die Frage überhaupt beantwortet werden, welche Form an höchster Stelle steht?

Diese Fragen führen in eine Hexenküche. Einerseits wird jeder Mensch bestätigen, dass es in seinem Leben „ganz wichtige“, „wichtige“, „relativ wichtige“ und „unwichtige“ Beziehungen gibt. Auf der Ebene der realen sozialen Verbindungen handhabt jeder Mensch mehr oder weniger spontan konkrete Bewertungen, die zwar nicht unbedingt an begrifflichen Einordnungen festgemacht, allerdings schon in der Sprache sichtbar werden. Wenn jemand sagt: „Hans ist ein richtiger Freund“, ist damit gemeint, dass die Beziehung einen hohen Stellenwert hat. Die Begründung scheint erst einmal eine rein subjektive Angelegenheit zu sein, etwa wie: „Ich mag Hans sehr“, oder eben: „Hans versteht mich!“ Wenn man aber nachfragt, erscheint am Ende eine Bewertung, die schon einen objektiven Anspruch beinhaltet, zum Beispiel: „Hans kann ich vertrauen“.

Und Vertrauen ist eine hohe Qualität, die nicht in allen Beziehungsformen im Vordergrund steht. Vertrauen kann es natürlich auch zwischen Bekannten und Kollegen geben, sie steigert sich allerdings beträchtlich, wenn es um Freunde und Geliebte geht. Wenn zwischen mir und einem Kollegen ein Vertrauen wächst, das sich nicht nur auf die Fragen der funktionalen Zusammenarbeit bezieht, sondern darüber hinaus auch Persönlich-Privates betrifft, kommt unvermeidlich ein Moment, in dem ich ihn als Freund betrachte. In der Lebenspraxis ist es also wohl so, dass wir eine Art Rangordnung akzeptieren.

Andererseits wehren wir uns dagegen, eine absolute Hierarchie festzulegen. Im Feld der Beziehungen scheint uns im Prinzip alles möglich zu sein. Noch vor kurzem sagte mir ein Erzieher, dass er seine Beziehung zu den Kindern, mit denen er „ist“ (er verweigerte sich zu sagen: mit denen er arbeitet oder die er betreut), als eine „freundschaftliche“ verstehen will. „Erst wenn ich mit einem Kind auf gleicher Augenhöhe stehe“, so meinte er, „öffnet sich ein Raum der Gemeinsamkeit. Es gibt keinen Grund in einem Kind keinen potenziellen Freund zu sehen“. Dem Erzieher war allerdings klar, dass er sich mit seiner Sichtweise zumindest rein sprachlich von der öffentlich-gesellschaftlichen Aufgabestellung eines Erziehers entfernt. In den relevanten gesetzlichen Texten wird diesbezüglich nicht von „Freundschaft“, sondern von „Betreuung“ gesprochen. Der Erzieher räumte auch ein, dass er die Eltern nicht unbedingt über seine Sichtweise informiert. „Mütter und Väter können das leicht missverstehen“, sagte er.

Wir überschauen die Landschaft menschlicher Beziehungen nicht mehr, oder vielleicht besser gesagt: wir sind dabei, uns von eindeutigen Bewertungen zu verabschieden – die Kinder, die wir betreuen, können offenbar auch unsere Freunde sein. Diese Verschiebung in unseren Bewertungen – man könnte noch eine Menge anderer Beispiele nennen – ist etwas relativ neues.

Je weiter man in der Zeit zurückgeht, umso klarer werden die Bezüglichkeiten der Menschen zueinander. Bei den alten griechischen Philosophen fällt zum Beispiel auf, dass sie gar kein Problem damit hatten, die konkreten Verbindungen zwischen Menschen mit Hilfe der großen Ideen – Freundschaft war so eine Idee – eindeutig einzuordnen. Auf den Gedanken, dass es Freundschaften zwischen Kindern und Erwachsenen geben könnte, sind sie aber nicht gekommen.

12.09.2010

Wunderschöne Verwirrungen. Über konservative und liberale Sackgassen

Menschen die sich konservativ nennen, sind geneigt zu sagen, dass wir im sozialen Leben leider nicht mehr wissen, was richtig und was falsch ist. Aus konservativer Sicht ist etwas verloren gegangen, eine soziale Selbstverständlichkeit, die vor allem in ländlichen Dorfgemeinschaften noch lange standgehalten hat, mittlerweile aber auch dort zerbröckelt ist. Der konservative Geist versucht über Gesetze und moralische Predigten die alte Normen und Werte aufrechtzuerhalten, was längerfristig gesehen ein chancenloses Projekt ist. Der konservative Geist will eine Vergangenheit ohne Zukunft. Jemand wie Thilo Sarrazin versucht im Grunde genommen die Vergangenheit Deutschlands gegen eine prinzipiell unsichere Zukunft, die nur aus Schatten besteht, zu verteidigen.

Wenn man sich progressiv nennt, meint man eher, dass die Begriffe nicht mehr taugen. Vorbildlich sind in dieser Hinsicht einige Philosophen, wie Foucault, Derrida und Sloterdijk, die einerseits mit offenen Augen auf die realen Tatsachen des sozialen Lebens schauen und andererseits die herkömmlichen Begriffe und Ideen dekonstruieren. Sie können und wollen nicht erzählen was „eigentlich“ los ist, weil es so etwas wie „eigentlich“ nicht mehr gibt, oder besser gesagt: nicht geben darf, weil alles „eigentliche“ Denken auf esoterischen oder metaphysischen Annahmen beruht, die letztendlich auf verborgene Machtverhältnisse zurückzuführen sind.

Wo der konservative Geist noch immer bestimmte religiöse Offenbarungen oder moralische Selbstverständlichkeiten akzeptiert und ins Zentrum des Denkens und Handelns platziert, versucht die aufgeklärte Liberalität, sich von Ideen und Idealen, letztendlich von der Geschichte zu befreien. Sie will eine Zukunft ohne Vergangenheit.

Beide Sichtweisen führen in eine Sackgasse, weil die Beziehung zur Vergangenheit traumatisiert ist. Zwischen dem verkrampften Aufrechterhalten und der lieblosen Hinrichtung der Vergangenheit gibt es noch einen dritten Weg, der damit anfängt, dass man beide Gesichtspunkte gleichzeitig für sinnvoll hält: wir wissen nicht mehr was richtig und falsch ist UND die Begriffe taugen nicht mehr. In dieses Paradox einzutauchen, bedeutet so viel wie, sich von der einen oder der anderen Angst zu befreien: der Angst vor den Schatten der Vergangenheit oder der Angst vor den Schatten der Zukunft.

Im Grunde genommen KANN man auch nicht anders, weil die EINE Frage riesengroß im Raum steht: wie kann man überhaupt weiter „denken“, wenn einerseits die Vergangenheit abgehakt ist – ALLES was wir denken, hat seine Quelle in der Vergangenheit – und andererseits die Zukunft als sekundäre und gefährliche Hoheit, die man unbedingt im Griff haben soll, angesehen wird? Man braucht nicht „esoterisch“ zu denken, um einzusehen, dass die Kategorien Vergangenheit und Zukunft von einer höheren Kategorie umfasst werden: nämlich von der Gegenwart.

Mit einer Variante auf eine Äußerung von Goethe: „Vergangenheit und Zukunft, wir sind in der Gegenwart von Euch umschlungen“. Ich habe gerade gesagt, dass man nicht esoterisch denken muss, um die Richtigkeit dieser Aussage einzusehen. Und tatsächlich findet man diesen Gedanken auch öfters bei „nicht-esoterischen“ Philosophen aus dem zwanzigsten Jahrhundert formuliert, etwa bei Heidegger, Foucault und Derrida. Die Konsequenz des Gedankens ist allerdings, dass man anfängt esoterisches Denken ernst zu nehmen – dieser Gedanke ist einer der Türen zur Esoterik.

Vor allem Heidegger hat das auch verstanden, was aus seinem Buch „Beiträge zur Philosophie – Vom Ereignis“ klar hervorgeht. Dort schreibt er zum Beispiel in seiner typischen Sprache: „Die Seinsfrage ist der Sprung in das Seyn, den der Mensch als der Sucher des Seyns vollzieht, sofern er denkerisch Schaffender ist. Sucher des Seyns ist im eigensten Übermaß sucherischer Kraft der Dichter, der das Seyn `stiftet`.“ (S. 11.) Heidegger formuliert hier den Kern des esoterischen Denkens, trivialer und politisch korrekter gesagt: sich kreativ denkend am Leben beteiligen... Jemand wie Rudolf Steiner hätte es nicht besser formulieren können.

05.09.2010

Die Nähe als Ort der Verwandlung. Eine Rose werden wollen

Gefühle drücken auf diese oder jene Weise meine Beziehung zu den Dingen, Menschen, Begriffen, Erinnerungen, Umständen und Handlungen aus. In meinen Gefühlen lebe ich meine Beziehungen. Das Ausleben meiner Beziehungen in meinen Gefühlen ist allerdings keine statische Angelegenheit, die nur bemerkbar macht, was ist, sondern vor allem auch spüren lässt, was sein könnte.

Gefühle neigen immer zur Verwandlung. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn mir die Rosen in meinem Garten Freude bereiten, heißt das, dass ich mich gerne durch sie verändern lasse. Die Freude selber ist eine bestätigende Reaktion auf das großzügige Angebot der Rosen mit ihnen ein bisschen Rose zu sein, und damit der wiederholte Anfang einer „Verrosung“-in-mir.

Alle Gefühle die rein sind, haben die Neigung zur Verwandlung inne. Aber auch Gefühle, die nicht rein sind – wir sprechen dann von Emotionen – neigen zur Verwandlung, nicht aber mit einem sanften, sondern einem harten Willen (Georg Kühlewind). In Emotionen („motion“ bedeutet „Bewegung“) haben sich die Positionen vertauscht: im Vordergrund steht nicht das Gefühl, sondern der Wille. Emotionen sind Gefühle, die von einem harten Willen besetzt sind.

An der Wut ist beispielsweise deutlich zu sehen, was an dieser Stelle gemeint ist: Wenn wir wütend sind, wollen wir in einer Situation, die uns bedrängt, mit verbaler oder eben physischer Gewalt eingreifen. Wir lauschen nicht mehr, sind nicht länger dialogisch auf das Gegenüber gerichtet, „tanzen“ nicht mehr, wollen uns selber nicht mehr verändern, sondern nur noch das Andere oder den Anderen unserem Wollen gefügig machen.

Manchmal werden Emotionen im Vergleich zu Gefühlen als minderwertig bewertet. Mit dem Wort „rein“ ist oben in diesem Text allerdings nicht eine moralische Bewertung gemeint, sondern wird nur auf die Tatsache hingewiesen, dass Gefühle als „reines“ Gefühl erscheinen können, das heißt: nicht mit bestimmten Gedanken oder Willensimpulsen vermischt sind. In der Intentionalität der Gefühle sprechen Sympathien und Antipathien zwar mit, sie werden aber nicht als solche bewertet.

Wenn mich ein Laubbaum, der seine Blätter verloren hat, im Winter traurig macht, bedeutet dies nicht unbedingt, dass er „verkehrt“ ist und eben aus der Welt geschaffen werden müsste. Ganz im Gegenteil, die Traurigkeit als Gefühl deutet auf eine innere Anteilnahme an einem objektiven Geschehen, das in mir Sympathien oder Antipathien weckt – vielleicht mag ich Traurigkeit nicht, oder vielleicht gerade doch – ohne dass in mir der Wunsch entsteht, sie zu beenden, zu verdammen oder auszuschalten. Trauer als reines Gefühl ist keine Emotion, auch nicht wenn sie sehr kräftig ist.

Nähe wird oft mit Geborgenheit gleichgesetzt, was nur halbwegs stimmt. Über die Geborgenheit hinaus wirkt in der Nähe allerdings die Sehnsucht nach Verwandlung. In der Nähe ist man mit sich selber, mit anderen Menschen und mit der Welt unterwegs. Einerseits kann von der Nähe gesagt werden, dass sie uns erlaubt, so zu sein, wie wir sind – gerade in der Nähe gelten die Worte eines alten finnischen Liedes: „Du kannst kommen, wie du bist“. Bei einem Gefühl der Geborgenheit muss es aber nicht bleiben, weil sich in der Nähe Gefühle zeigen, die, wie gesagt, die Neigung zur Änderung inne haben. Die Nähe ist also auch als ein Bereich zu verstehen, in dem ich gerade nicht so bleiben will, wie ich bin.

29.08.2010

Zum Vorlesen. Wie Poli lernt, endlich mal ein Tor zu schießen

Seine Mutter steht in seinem Zimmer und ruft: „Poli, aufstehen! Der Tag hat begonnen!“ Poli will aber nicht aufstehen und tut so, als ob er noch schläft. Er hält seine Augen fest geschlossen. Er hatte gerade einen Traum. Ein Mann hat ihm gezeigt, wie man den Ball am besten ins Tor schießen kann. Und das war ihm im Moment am allerwichtigsten, wie man ein Tor macht. Jetzt aufzustehen, seine Zähne zu putzen, runter zu gehen und ein Brot zu essen, dazu hat Poli gar keine Lust. Seine Mutter lässt aber nicht locker. Sie zieht die warme Decke von seinem Bett und sagt: „Hopla Poli, komm, dein Vater wartet schon!“

Poli hasst es, wenn seine Mutter ihn weckt. Sie macht das jeden Morgen so. Sie will immer Zähne putzen, runter gehen und Brot essen. Und dann mit dem Fahrrad in den Kindergarten fahren. Auch wenn es regnet oder schneit. Und Poli hasst es, wenn er im Regen Fahrrad fahren muss, weil er dann nass wird. Seiner Mutter ist das egal. Sie sagt dann: „Poli, manchmal ist es eben so, dass man nass werden muss!“ Poli sieht das aber anders. Er meint, wenn es regnet, dann kann er doch einfach zu Hause bleiben, oder?

Noch hält er seine Augen geschlossen. Der Mann mit dem Ball ist noch immer da. Er schaut lachend auf Poli und fragt: „Na, was machen wir jetzt? Hören wir auf?“ Und bevor seine Mutter weiterredet, sagt er zu dem Mann noch schnell: „Bitte, bitte, bitte, komm morgen wieder, dann können wir weiter machen!“ „Gut“, sagt der Mann, „dann bis morgen. Ich bringe den Ball mit.“

Poli dreht sich um und öffnet seine Augen. Seine Mutter schiebt gerade die Gardinen zur Seite und öffnet das Fenster. Poli spürt die kalte Luft auf seiner Haut. Er hasst kalte Luft, vor allem früh am Morgen. Langsam bewegt er sich zum Rand seines Bettes, lässt seine nackten Füße runter fallen und streckt seine Beine aus. Jetzt steht er. „Komm“, sagt seine Mutter, „wir haben nicht viel Zeit“. Der Mann mit dem Fußball ist aber noch immer nicht verschwunden. Er steht jetzt neben dem Kleiderschrank und sagt: „Also, bis morgen!“

„Ja, bis morgen“, antwortet Poli. „Was sagst du?“, fragt seine Mutter. „Nichts“, sagt Poli. Er schaut auf den Stuhl neben dem Schrank. Dort hat seine Mutter seine Kleider bereit gelegt. Ganz unten seine rote Hose, darauf sein blaues Shirt mit den springenden Delphinen, dann seine Unterhose, seine roten Socken und ganz oben seine schwarzen Schuhe. Er liebt seine schwarzen Schuhe, weil er damit ganz gut Fußball spielen kann. Er hasst es aber seine Kleider anzuziehen: erst die Unterhose, dann die Socken, dann das Shirt mit den Delphinen, dann seine Hose und dann seine Schuhe.

Der Mann mit dem Ball ist jetzt verschwunden. Poli fühlt sich ein bisschen alleine. „Ich will die Delphine nicht“, sagt er zu seiner Mutter. „Nein?“, antwortet sie, „und warum nicht? Deine Tante hat das Shirt für dich aus Griechenland mitgebracht!“ Aber Poli mag heute die Delphine nicht, und seine Tante und Griechenland sowieso nicht. In einem blauen Shirt mit Delphinen aus Griechenland werden keine Tore geschossen. Und ganz sicher nicht, wenn auch noch seine Tante dabei ist.

„Dein Vater wartet noch immer“, sagt seine Mutter. Poli geht jetzt ins Badezimmer, wo die Zahnbürste wartet. Sie steht in einem Glas und riecht nach Pfefferminz. Neben dem Glas liegt eine Tube Zahnpasta. Auch sie riecht nach Pfefferminz. Alles im Badezimmer riecht nach Pfefferminz. Und Poli hasst heute den Geruch von Pfefferminz. Wie soll man mit dem Geruch von Pfefferminz in seiner Nase ein Tor schießen?

Seine Mutter steht neben Poli und schaut zu. „Ich bin gespannt“, sagt sie. Poli weiß ganz genau, was seine Mutter damit meint. Wenn sie sagt, dass sie gespannt ist, muss Poli aufpassen. Er klettert auf den Hocker, will mit seiner rechten Hand nach der Zahnpasta greifen und hört schon, dass er falsch liegt. „Nein Poli“, sagt seine Mutter, „die Zahnpasta kannst du am besten in deiner linken Hand nehmen. Die rechte Hand ist für die Bürste. Das weißt du doch schon? Gestern hast du es richtig gemacht.“

Gestern? Gestern hat Poli Fußball gespielt. Mit Bruno und Vanessa und Kevin und Daniel. Und beinah hat Poli ein Tor geschossen! Poli erinnert sich noch deutlich daran. Daniel hatte den Ball von links gespielt. Vanessa stand im Tor. Und Poli hatte geschossen, mit seinem schwarzen linken Schuh. Oder mit dem rechten Schuh? Und den Ball voll getroffen. Pöff hatte der Ball gesagt. Richtig pöff! Vanessa hat den Ball leider mit ihrer linken Hand gestoppt. Oder war es mit ihrer rechten Hand? Und Bruno hatte gesagt: „Poh, poh, das war beinah ein Tor!“

Poli steht auf dem Hocker. In seiner linken Hand hält er die Tube Zahnpasta, in seiner rechten Hand die Bürste. In den Spiegel kann er nicht schauen, weil er zu klein ist. Das macht ihm aber nichts. Er weiß doch, dass im Spiegel der Mann mit dem Ball wartet. „Ja, morgen“, sagt er, „morgen machen wir weiter“. „Was meinst du?“ fragt seine Mutter. „Nichts“, sagt Poli. Und er versucht die blaue Pasta auf die Bürste zu kriegen. Es gelingt! „Gut so“, sagt seine Mutter, „ein bisschen weniger hätte allerdings auch gereicht“.

22.08.2010

Angelo Poliziano. Brief an seinen Freund Pico della Mirandola

Salve! Heute war ich im Garten unterhalb von Montepulciano, wo ich als Kind immer wieder gespielt habe. Weil ich schon so lange aus meiner Heimatstadt weg bin, und die Menschen mich nicht erkennen, konnte ich ungestört umher gehen. Es war heiß, unter dem Schatten der Obstbäume war es aber kühl. Die Erinnerungen die auftauchten, bestätigten mir nochmals, was ich schon wusste: ich lebte als Kind in einem Traum. So ist es lieber Freund: alles was ich in meinem Leben gedacht und geschrieben habe, ist eine Verarbeitung dieser kindlichen Träume. Ich habe nie etwas gedacht, was ich als Kind nicht schon geträumt hatte.

Am späten Nachmittag habe ich mich an die Stelle gewagt, wo damals der Leichnam meines Vaters gefunden wurde. Die kennst die Geschichte: er wurde – ich war zehn Jahre alt – wegen seiner Beziehung zu den Medicis in Firenze umgebracht. Wo seine Feinde ihn ermordet haben, ist nicht bekannt, die Stelle wo sie seinen Leichnam entsorgt haben, aber schon. Sie haben ihn unten bei der Stadtmauer in eine Quelle geworfen, gerade dort, wo ich als Kind immer wieder vorbei kam, wenn ich nach Hause wollte.

Ich hatte heute den Mut, mir die Stelle anzuschauen. Sie sah verlassen aus. Über dem quadratischen Loch, etwa zwei Mal zwei Meter, wachsen Buchse, die wie Arkaden über dem regungslosen Wasser stehen und es bedecken. Ich weiß noch, dass ich damals als Kind am Abend in das tiefe und dunkle Wasser schaute, um die ersten Sterne gespiegelt zu sehen. Heute wurde nichts gespiegelt – als ich mich nach vorne beugte – auch nicht mein Gesicht. Mir schien es so zu sein, dass die Quelle ihre Augen definitiv verschlossen hatte.

Du weißt, wie es damals weiter gegangen ist. Ich wurde nach Firenze geschickt und in der Familie von Lorenzo de Medici aufgenommen. Dort lernte ich die griechische Sprache kennen und übersetzte schon als Jugendlicher Fragmente aus den Werken von Homer. Marsilio Ficino und Christopher Landino wurden meine Lehrer. Sie führten mich in die Philosophie der Antike ein – vor allem in die Denkweise Platons, obwohl ich innerlich eher bei Aristoteles zu Hause war. Später wurde ich beauftragt, die Erziehung von Giulio, Piero und Giovanni, den Söhnen von Lorenzo und Clarissa, in die Hand zu nehmen.

Ich habe damals die schrecklichen Ereignisse mit meinem Vater schnell vergessen, so, als ob sie gar nicht zu meinem Leben gehörten. Sein Tod wurde in mir zu einem Loch, das zugewachsen ist. Im Nachhinein muss ich aber feststellen, dass dieses Loch mein ganzes weiteres Leben, mein Denken und mein Dichten grundsätzlich bestimmt hat. Alleine meine Neigung zum aristotelischen Denken und meine Abwehr gegen die im Träumen verankerte Sichtweise von Platon – ach, wie sehr hat Marsilio sich immer wieder geärgert! – lag in der Tatsache begründet, dass für mich der Schreck des Todes immer und überall lauert. Ist Aristoteles letztendlich nicht der große Philosoph des Todes?

Ich wollte nie ein Philosoph sein. Ich wollte mich, ohne es zu wissen, durch den Tod meines Vaters zu den Träumen meiner Kindheit zurück arbeiten, aber so, dass die poetischen Bilder rückwärts durch das Nadelöhr des Todes reifen konnten. Ich wollte, lieber Pico, als Dichter die Träume meiner Jugend im Lichte des Todes überprüfen. Und so verstand ich auch die Werke Homers: sie stellen die Frage der Katastrophe. Wenn Troja gefallen ist und die Helden tot sind, welche Bedeutung haben die Ereignisse dann im Nachhinein?

Als ich heute am frühen Abend an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, vorbei ging und das Fenster meines Schlafzimmers sah, brach mein Herz. Jeden Morgen hing ich damals aufgeregt aus dem Fenster, danach verlangend, mich in den Tag hinein zu begeben. Wie unschuldig, hoffnungsvoll und unbefangen sind wir als Kinder! Und wie weit entfernen wir uns als Erwachsene von dieser spontanen Freude? Liegt in dieser Frage nicht die eigentliche Aufgabe der Poesie und der Philosophie: Was sagt die Kindheit eigentlich über die Natur des Menschen aus? Welche Bedeutung-für-sich, ich meine: nicht nur als „Vorbereitung“, sondern als „Zustand“, hat die Kindheit zwischen Geburt und Tod? Oder anders gesagt: was aus der Kindheit ist deutlich stärker als der Tod?

Ich war noch in Gedanken versunken, als die Seitentür des Hauses sich öffnete, dort, wo damals das Getreide in den Speicher gebracht wurde. Eine alte Frau erschien, ich erkannt sie sofort als unsere Köchin. Verwirrt drehte ich mich um, machte ein paar Schritte und hörte sie dann sagen: „Angelo? Angelo? Bist du es?“ Ich wendete mich zu ihr und sagte: „Ja, Lucia, ich bin es...“ Sie kam auf mich zu, schaute mir in die Augen und sagte: „Ja, du bist es! Ich sehe es in deinen traurigen Augen.“ Und sie wies auf die alte Bank an der anderen Seite der Straße und sagte: „Komm, erzähl mir von Firenze!“

15.08.2010

Integration (3). Über Albertus Magnus und ein strahlendes Herz in Köln

In Köln gibt es eine Handvoll Leute, die ganz vorsichtig, so wie man das zurzeit ganz bescheiden macht, auf die natürlich unwahrscheinliche Möglichkeit schauen, ein „anthroposophisches“ Zentrum zu eröffnen. Die Urheberin der noch-nicht-oder-vielleicht-doch Initiative ist Anne Marisch, meine Kollegin im Seminar für Waldorfpädagogik. Sie wird in ein paar Jahren in Rente gehen, meint jedoch, dass für die Stadt Köln „noch mal etwas Gutes getan werden könnte“. Und damit ist die Frage gestellt: was gäbe es Gutes für die Metropole am Rhein?

Erst hat Anne Marisch gezögert, mir dann aber doch erlaubt, von ihrer Idee zu berichten. Es gibt Vorbilder: Basel-Mitte in Basel, Forum Kreuzberg in Berlin, Forum Drei in Stuttgart... So eine Einrichtung fehlt in Köln. Aus irgendeinem Grund ist die Präsenz der Anthroposophie in Köln immer mehr oder weniger versteckt geblieben, ich meine: es gibt natürlich eine Menge anthroposophischer Initiativen und Einrichtungen, wie Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, zwei Gemeinden der Christengemeinschaft, Ärzte und Therapeuten, ein Seminar für Waldorfpädagogik, eine Buchhandlung und ein Bildungswerk, ein für alle Kölner erkennbarer und streitbarer „Kulturort“ ist in der Stadt aber nie entstanden.

Die Rheinmetropole wird noch immer stark von der Katholischen Kirche geprägt. Direkt an der großen Kathedrale befindet sich das Domforum, ein Ort der Katholiken, in dem die aktuellen Themen des Lebens in der Großstadt energisch angesprochen und diskutiert werden. Obwohl die geistige Führung in Köln, der Bischof und sein Stab also, eher dogmatisch orientiert sind, lebt im Domforum manchmal ein sprühender Geist, offen für die Fragen der Zeit. In Köln ist katholische Kirche nicht immer gleich katholische Kirche.

Ohne Weiteres einfach ein „anthroposophisches“ Zentrum zu eröffnen, würde allerdings nicht funktionieren. Mir scheint die Zeit längst vorbei zu sein, in der die Anthroposophie-als-Weltanschauung in der Öffentlichkeit eine Wirkung hat. Nein, ein anthroposophisches Zentrum in Köln müsste eine erkennbare und spezifische Idee ausstrahlen, eine Sichtweise auf das Leben in der Stadt, die von allen Einwohnern sofort verstanden wird. Mir scheint diesbezüglich die Idee der Integration eine fruchtbare Quelle zu sein.

Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie wenig Anthroposophen sich in den öffentlichen Diskurs über die Fragen der Integration einbringen. Integration ist ein dringendes Thema in ganz vielen Bereichen des Lebens: im sozialen Leben, in der Pädagogik und der Bildung, im Bereich des Rechts, in der Religion, in der Wirtschaft... Und die anthroposophische Art des Erkennens wäre wohl im Stande, auf die Fragen der Integration ein neues Licht zu werfen.

Ein Ort der Integration könnte eine Werkstatt des Schicksals sein. Man könnte sich zum Beispiel Kurse vorstellen, in denen die Biographien der Menschen im Lichte der Begegnung mit der (deutschen) Leitkultur angeschaut werden. Eine Frage an dieser Stelle wäre: warum sucht ein Mensch aus der Türkei das Leben in Deutschland? In welcher innerlichen und äußerlichen Lage befindet sich ein Mensch aus Iran, der sich vielleicht eher Perser nennt? Und umgekehrt: was bedeutet die Präsenz der Türken und Perser für Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind?

Auch könnte man sich einen Rechtsbeistand vorstellen, um Menschen in Bezug auf die oft schwierigen Migrationsregeln zu beraten. Die juristische Beratung könnte sich mit der oben genannten biographischen Frage verbinden: sehr oft verstecken sich hinter rein sachlichen Problemen noch andere Fragestellungen, die eher sozialer oder kultureller Natur sind. Mit rechtlichen Fragen geht manchmal eine soziale Isolierung einher, die im Rahmen eines Ortes des Schicksals aufgehoben werden könnte.

Ein Ort der Integration wäre ein Ort der Begegnung. Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler, Aktivisten und Vertreter der Religionen könnten eingeladen werden, um über brennende Themen zu sprechen: alles zwischen Burka-ja-oder-nein und die unterschiedlichen spirituellen oder gerade-nicht-spirituellen Weltbilder könnten in Vorlesungen, Podiumsgesprächen oder Workshops verarbeitet werden. Mich würde dabei vor allem auch interessieren, welchen Stellenwert das esoterisch-spirituelle Denken in den unterschiedlichen Religionen hat und wie der Weg der Verinnerlichung gedacht und praktiziert wird.

Ein wichtiges Feld würde die Pädagogik ausmachen. Die Waldorfpädagogik ist im „christlichen“ Diskurs in Europa entstanden und dort eingebunden, befindet sich allerdings glücklicher Weise weltweit in einer spannenden Lage: wie verbindet sich die christliche Tradition mit den islamischen, hinduistischen, buddhistischen und indianischen (wie in den Anden) Traditionen? Der eigentliche Diskurs ist längst eine integrative Angelegenheit geworden, ist aber in europäischen Städten wie in Köln noch nicht wirklich angekommen.

Das Seminar für Waldorfpädagogik in Köln hatte im Laufe der letzten Jahre mit Menschen aus Peru, Kuba, der Türkei, Iran, Japan, Südkorea und den slawischen Ländern zu tun. Und immer wieder tauchten dadurch interessante Fragen auf: wie verhalten sich die alten Weisheiten von Zarathustra, die noch immer in Persien/Iran lebendig sind, zu den spirituellen Inhalten des esoterischen Christentums? Oder wie steht es diesbezüglich mit den mythischen Vorstellungen aus den Anden (wie in meinem Buch „Armut als Schicksal“ beschrieben)? Wenn die Anthroposophie sich als ein Angebot für die ganze Menschheit versteht, müssten die unterschiedlichen Traditionen integriert werden.

Was wird aus Köln? Der spirituelle Forscher Marko Pogacnik meint, dass sich in Köln zurzeit ein neues „Herz-Chakra“ in der Erde öffnet. Und ich glaube, dass das stimmt: etwas in Köln fängt an zu leuchten – ich werde vielleicht irgendwann in den nächsten Wochen versuchen, das zu beschreiben... Das Herz ist überhaupt das Organ-der-Integration. Mit einer Variation auf eine bekannte Aussage des Kölner Helden Albertus Magnus: „Das Herz ist so groß, das alles hinein passt“.