30.01.2008

Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (1)

Ich heiße Samuel Ton Coster, bin 54 Jahre alt und habe keinen Job. Ich bin Dichter. Weitaus die meisten Gedichte, die in mir leben, haben aber die richtigen Worte noch nicht gefunden. Sie verbleiben im Status Nascendi. Ich habe mich dazu entschlossen, mein Leben diesen noch ungeschriebenen Gedichten zu widmen.

Ich wohne in einem Dachgeschoss mit zwölf schrägen Fenstern. Um mich herum in den Dachrinnen gibt es Tauben, zwei brutale Elstern und Katzen. Mich interessiert jeden Tag neu, was denen widerfährt. Auf meiner Terrasse, mit Ausblick auf den Dom, stehen zwei schlanke eiserne Stühle und ein kleiner runder Tisch aus Paris. Ich sitze dort gerne, trinke Kaffee und rauche Zigaretten. Ich schaue dann auf die Züge nach Paris, Zürich, Wien, Aachen und Koblenz, die langsam und gelassen ihrem von vornherein festgelegten Ausweg aus der Stadt folgen.

Es gibt nur noch ganz wenige Menschen, die mich Samuel oder eben Sam nennen. Meine Eltern sind schon lange gestorben und mein einziger Bruder lebt in Lima. Meine Freunde und ehemaligen Kollegen nennen mich noch immer STC, ausgesprochen klingt es wie Esteecee. Die Leute hier im Haus – Italiener, Türken und Iraner – kennen mich als Herrn Coster. Wenn ich mit mir selber rede, bezeichne ich mich als Sammy.

Sammy ist ein Kind. Und so ist es: Wenn ich zurzeit spontan an mich denke, sehe ich ein Kind, elf Jahre alt, das gerade aus dem Sanatorium entlassen wurde und versucht, sein Leben bei seinen Eltern zu Hause wieder aufzugreifen. Sammy hatte Tuberkulose, lag zehn Tage in einem Koma, verblieb dreizehn ewig lange Monate in dem Sanatorium, und steht jetzt im Wohnzimmer seiner Eltern, schaut um sich herum und fragt sich: Was jetzt?

Damals hatte Sammy keine Ahnung. Es war ihm, als ob er einen Fieberbrand in seinem Körper und seiner Seele erlebt hatte, wie ein lodernder Ausbruch von brennenden Todeskräften & Visionen & Träumen, die irgendwie versuchten, ihn aus seinen Schranken zu heben. Der Brand war jetzt aber vorbei, sein Bewusstsein wieder wach und die Welt leer. Die Welt war Brachland geworden. Ohne die richtigen Worte zu finden, fragte sich Sammy: Was ist zu tun in einer leeren Welt? Er wusste es nicht.

Ich weiß es eigentlich immer noch nicht. Dreiundvierzig Jahre später sind mir nur noch die Worte übrig geblieben. Alles andere ist weg oder scheint bedeutungslos zu sein. Eine Ahnung ist aber dazugekommen. Was mich von dem damaligen Sammy unterscheidet, ist gerade, dass ich mittlerweile diese Ahnung habe. Woher sie kommt, weiß ich nicht so genau, und wohin sie führt, weiß ich noch weniger. Sie ist aber da, stark & breit & tief & beglückend. Sie ist wie eine zurückgekehrte Vision aus der Zeit der Tuberkuloseerkrankung.

Bevor ich gleich auf meine Terrasse gehe, eine Tasse Kaffee trinke und auf die Tauben und die beiden Spitzen des Doms schaue (das Wetter ist heute crystal clear, die Spitzen werden sich also scharf und souverän in den Himmel hinein spritzen), werde ich versuchen, meine Ahnung in Worte zu fassen. Ich ahne, dass ich Sammy helfen soll, vom Fleck zu kommen. Ich ahne, dass er dreiundvierzig Jahre lang im Wohnzimmer seiner Eltern stehen geblieben ist. Ich ahne, dass nach dem Brand die Welt leer geblieben ist, weil Sammy die richtigen Worte nicht gefunden hat. Ich ahne aber auch, dass er in all den Jahren viel gesehen & erlebt & über die Worte hinaus verstanden hat. Ich ahne, dass er Esteecee braucht um die Worte zu finden. Und ich ahne, dass Esteecee Sammy braucht um sich in den Himmel hinein zu spritzen.

Sammy ist dreiundvierzig Jahre dabei gewesen und hat gestaunt und geschwiegen. Er war dabei, als sein Freund Louis starb. Er war dabei, als sein Freund Francis starb. Er war dabei, als gleichzeitig sein Meister Alexander und seine Freundin Gloria starb. Und er war dabei, als mich vor vier Jahren – ich war in Schweden – ein Pfeil ins Herz traf. Ich ahne, dass Sammy mir sagen kann, woher dieser Pfeil kam.

Mir fallen heute zum Schluss noch ein paar Sätze von Bob Dylan ein. „I am a poet, I know it, I hope I don´t blow it.“

(Mit Dank an Birgitt Kähler)

20.01.2008

Waldorfkindergärten. "Distanz und Nähe"

In Kindergärten geht es um die Beziehung zu den Kindern. Diese Beziehung sollte immer im Zentrum stehen, unabhängig davon, was in einem Kindergarten passiert. Auch wenn die Mitglieder des Teams anfangen sich miteinander zu beschäftigen, geht es letztendlich darum, einen Raum für die Kinder zu schaffen.

Die Beziehung zu den Kindern wird durch eine eigenartige und oft auch verwirrende Verdoppelung konstituiert, die sich mit den beiden Begriffen Nähe und Distanz beschreiben lässt. In seinem Büchlein „Urdistanz und Beziehung“ (1965) spricht Martin Buber vom „Prinzip des Menschen“, d.h. von „einer Seinskategorie, die mit dem Namen des Menschen bezeichnet wird“. Diese Seinskategorie hat laut Buber ihren Grund und Anfang „in einer doppelten Bewegung“, die zwischen „Urdistanz“ und „In-Beziehung-treten“ abläuft.

Also, beides gleichzeitig: Abstand halten und Nähe suchen. Diese doppelte Bewegung ist ein Wesenszug in allen Menschen, nicht nur im psychologischen Sinne, sondern weit darüber hinaus. Es geht um eine Bewegung, die sich in der ganzen Dreiheit von Körper, Seele und Geist vollzieht. Diese doppelte Bewegung macht den Menschen aus, oder anders gesagt: In dieser Bewegung wird ein Mensch zum Mensch. Sobald diese Bewegung ins Stocken gerät oder sich in einer Einseitigkeit auflöst, hört der Mensch auf Mensch zu sein.

Ich meine, dass dieses Urphänomen in erzieherischen Beziehungen oft nicht genug respektiert und positiv-aktiv bewertet wird. Alles was Erziehung ausmacht, steht oft so stark im Vordergrund, dass die Beziehung unbemerkt in die Peripherie der Zufälligkeiten & Beliebigkeiten & Non-Ereignisse getrieben wird. In der Erziehung ist Erziehung eigentlich als die wichtigste Nebensache aufzufassen. Die Hauptsache ist die Beziehung, und die geht über die Erziehung hinaus.

In Bezug auf die Beziehung zu den Kindern gibt es zwei Fallen. Die erste ist, dass Beziehung einseitig als Nähe aufgefasst wird. Laut dieser Sichtweise gibt es erst dann Beziehung, wenn es Nähe gibt. Aber auch Abstand ist ein Ausdruck der Beziehung – vor allem wenn der Abstand nicht aus Beliebigkeit oder Unvermögen entsteht, sondern auf Bewusstheit basiert. Gerade in dem Abstand kann eine andere Art von Nähe entstehen. Diese andere Art ist nicht warm oder kuschelig, sondern eher frisch, wie eine Brise im Januar, ermöglicht aber Eigenheit. Viele Kinder sind dankbar und fühlen sich respektiert, wenn sie sich ohne physische Berührung und ohne Worte wahrgenommen wissen.

Die zweite Falle ist, dass wir den Grund der Beziehung im Kind suchen, d.h., dass wir das Kind beobachten und das tun, wovon wir meinen, dass das für das Kind richtig sei. Mir scheint es aber genauso wichtig zu sein, dass die Erwachsenen einfach machen, was sie von sich aus machen wollen. Wenn Erwachsene – ja, gerade auch in den Kindergärten – einfach tun was sie gerne tun, bieten sie den Kindern die Möglichkeit, über eine interessante Tätigkeit eine Beziehung anzuknüpfen. Wenn zum Beispiel eine Erzieherin sich gerne mit Pflanzen beschäftigt, soll sie in den Garten gehen und Rosen pflegen. Die Kinder kommen dann von alleine dazu, einfach weil sie neugierig sind.

Die Verdoppelung von Buber – Nähe und Distanz – lässt sich nicht in ein erzieherisches Konzept „umsetzen“. Sobald versucht wird aus dieser Bewegung eine Art Programm zu machen, ist die Bewegung und damit das Leben schon erstarrt. Das einzig denkbare Programm bedeutet, dass man sich auf das Leben-so-wie-es-kommen-will (Adventura – das was auf uns zukommt) einlässt. Und so wie das im Leben nun einmal ist, sind erzieherische Angebote per Definitionem immer uninteressant, weil sie eine Ansicht haben. (mit Dank an Birgitt Kähler)

12.01.2008

Waldorfkindergärten. "Wie geht es Euch mit mir?"

In einem Kindergarten sind drei „Räume“ zu unterscheiden. Der erste Raum ist der physische Raum, d.h. der Raum, der mit den Händen gebaut wurde. In diesem Raum gibt es unter anderem einen Eingangsbereich, einen Spielbereich, eine Küche und einen Garten. Meistens ist der physische Raum eines Waldorfkindergartens warm und einhüllend gestaltet. Über die Gestaltung des physischen Raumes hat man sich bis in die kleinsten Details viele Gedanken gemacht. An dieser physischen Ebene kann man deswegen immer einen Waldorfkindergarten eindeutig erkennen.

Der zweite Raum ist ein Raum in der Zeit. Der Tag, die Woche, die Jahreszeit und das Jahr sind in Waldorfkindergärten auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet. Das Ideal ist eine rhythmische Einrichtung, die auf das pulsierende Tragen der Zeit basiert. Auch hier geht es um Einhüllung: Das Kind wird durch die rhythmischen Wiederholungen durch den „Zeitleib“ getragen. Die Gefahr auf dieser Ebene liegt darin, dass sich Rhythmus unbemerkt in Takt verwandelt. Was ursprünglich als ein tragender und freier Raum gemeint ist, verwandelt sich in einen Zwang.

Der dritte Raum ist ein sozialer Raum. Es geht dabei um eine sozial-räumliche Wirklichkeit, die durch die Erwachsenen stark mitkreiert wird. Dieser Raum besteht aus einem Flechtwerk von Beziehungen zwischen Menschen – Kinder, Erzieher, Eltern und Vorstände. Und weil nur die Erwachsenen im Stande sind, sich bewusst (aus dem Ich, oder Selbst) zu diesem Flechtwerk zu verhalten, sind sie angewiesen, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Mir scheint es gerade diese Ebene zu sein, diese sozial-räumliche Wirklichkeit, die, generell gesprochen, nicht genügend beachtet wird in Waldorfkindergärten (und in vielen anderen Organisationen auch).

„Kinder leben in dem Schatten zwischen den Erwachsenen“. Diesen Satz sagte mir einmal Bernard Lievegoed. Er meinte damit, dass die Kinder seelisch und unbewusst in den Verhältnissen zwischen den Erwachsenen „leben“ – und vor allem auch in den Unmöglichkeiten & Verstrickungen & unfinished business & Ängsten & unterschwelligen Kämpfen zwischen ihnen. Die Kinder sind in dieser Hinsicht wie Fische im Meer: Sie können sich nicht gegen die tiefen und oft kräftigen Unterströmungen im Wasser wehren. Für Kinder bilden diese sozialen Strömungen genauso eine reale Umgebung, wie die physischen und zeitlichen Räume.

Ich meine, dass Bernard Lievegoed genauso gut hätte sagen können, dass die Kinder auch in den „Lichtungen“ (Heidegger) zwischen den Erwachsenen leben. Die Kinder leben nicht nur in dem sozialen Schatten, sondern auch in Möglichkeiten & Befreiungen & Öffnungen & Freuden & gemeinsamen Zielsetzungen zwischen den Erwachsenen. Wenn etwas zwischen zwei Erwachsenen geklärt ist, und dadurch eine Öffnung entsteht, bedeutet das für die Kinder eine lichtende Öffnung ins Leben hinein.

Wie kann dieser dritte Raum in Kindergärten gestaltet werden? Ein erster Schritt wäre natürlich Selbsterkenntnis, d.h., dass jeder Erwachsene ehrlich und gleichzeitig liebevoll auf sich schaut. (Ja, ehrlich und liebevoll, denn einen Kampf mit sich selber anfangen, bringt nichts.) Michel Foucault nennt das „die Sorge um sich“. Diese Sorge besteht laut Foucault darin, dass ein freies Selbst eine freie Beziehung zu sich selber konstituiert. Erst wenn ich eine freie Beziehung zu mir selber suche, entsteht die Möglichkeit, eine freie Beziehung zu den anderen Menschen zu suchen.

Rudolf Steiner meint, dass Selbsterkenntnis die erste Bedingung für eine erzieherische Tätigkeit ist. In einer Kultur des Herzens aber kann noch ein zweiter Schritt gemacht werden. Die Voraussetzung dafür aber ist, dass ein Team eines Kindergartens erstens den dritten Raum bewusst anerkennt (als genauso wichtig nimmt wie die physischen und zeitlichen Räume), und zweitens versteht, dass deren Gestaltung nicht von alleine läuft. Das Verstehen dieser beiden Aspekte ist nicht nur aus pragmatischen Gründen erforderlich, sondern auch weil nur eine klare Einsicht der Sache, die Freiheit gewährleistet. Diesen dritten Raum kann man nur aus Freiheit betreten. (Genauso, wie man nur aus Freiheit fruchtbar Selbsterkenntnis betreiben kann.)

Meistens werden Fragestellungen auf der sozialen Ebene erst dann angesprochen, wenn es Probleme gibt. Das führt oft dazu, dass Personen sich angegriffen fühlen, und meinen, sich verteidigen zu müssen. In einer Kultur des Herzens werden soziale Fragestellungen auf eine „phänomenologische“ Ebene gehoben, d.h., dass regelmäßig (einmal im Monat?) in dem Team die Fragen gestellt werden: Wie geht es mir mit mir in der Arbeit, wie geht es mir mit Dir (und Euch), wie geht es Dir (und Euch) mit mir? Das „Phänomenologische“ liegt darin, dass versucht wird, die gegenseitigen Wahrnehmungen ohne moralische Bewertung im Raum stehen zu lassen. Die Mitglieder des Teams versuchen so ehrlich wie möglich zu beschreiben, „wie es mir mit Dir in der Arbeit geht“ und hören unbefangen zu „wie es Dir mit mir geht“.

Mit diesen Fragen wird ein Weg in einer Landschaft, wo wir meistens träumerisch herumgehen, erörtert. Was ich hier als Vorschlag beschreibe, kann nur ein Anfang sein. Letztendlich wird es um die Pflege einer Kultur gehen, die Neuland beinhaltet. Bis heute liegt diese Pflege nur in den Händen professioneller Spezialisten, wie Konfliktberater und Supervisoren. Der Gedanke aber, dass man manchmal unbedingt Spezialisten braucht, mag berechtigt sein, kann im Grunde aber auch ein Hindernis sein, wenn es darum geht, die wichtigen Sachen des Lebens selber in die Hand zu nehmen.

Klar ist, dass nicht nur Freiheit sondern auch Vertrauen erforderlich ist. Meine Erfahrung aber ist, dass gerade dann das Vertrauen wächst, wenn ein gemeinsamer Versuch gemacht wird. Das heißt aber auch, dass Unzulänglichkeiten in diesem Vorgang akzeptiert werden. Das betreten dieses Raumes müssen wir noch lernen. Dieser Vorgang wird oft beanstandet mit der Begründung, dass man die persönliche und die sachliche Ebene in der Zusammenarbeit trennen soll. Ich meine, dass gerade das in pädagogischen (und generell sozialen) Zusammenhängen nicht mehr geht. Die Kultur des Herzens rüttelt an dem alten römischen Dogma der Trennung zwischen privat und öffentlich.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

03.01.2008

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (3) Werner Kuhfuss

Mir scheint es, in meiner Reihe von kurzen Beiträgen über die Waldorfkindergärten in Deutschland, unausweichlich zu sein, etwas zu dem Buch „Die Waldorfkindergartenpädagogik“[i] von Werner Kuhfuss zu sagen. Obwohl das Buch schon länger vorliegt, hat, so weit mir bekannt ist, kaum jemand darauf öffentlich reagiert.

Das Buch hat zwei Schichten. In der ersten Schicht geht es um die Frage, wie die Waldorfkindergartenpädagogik eigentlich zu verstehen ist. Ich muss schlichtweg sagen, dass die Beschreibungen von Kuhfuss diesbezüglich nicht nur sehr inspirierend sind, sondern eine seltsame Evidenz haben. Hier spricht ein Mensch, der souverän die Pädagogik im Sinne von Rudolf Steiner verinnerlicht hat und weit entfernt bleibt von Phrase & Routine & Konvention. Obwohl Wahrheit aus meiner Sicht eine wackelige Kategorie ist, meine ich sagen zu können, dass in dem Buch von Kuhfuss der Geist der Wahrheit wandert.

In der zweiten Schicht irrt aber ein Gespenst herum. Am Anfang des Buches, in einer „Vorbemerkung“, wird das Gespenst ins Leben gerufen. Werner Kuhfuss schreibt da unter anderem ein paar Sätze über Helmut von Kügelgen. Ich bin von Kügelgen persönlich nie begegnet, habe aber von ihm erzählt bekommen. Daraus habe ich verstanden, dass er einer der führenden Persönlichkeiten in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten in Deutschland war. Er hat eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Waldorfkindergärten in Europa und den USA gespielt. Von Kügelgen ist im Jahr 1998 gestorben.

Werner Kuhfuss schreibt: „Die Rolle Helmut von Kügelgens, den der Verfasser noch als Seminarist Anfang der fünfziger Jahre an der Uhlandshöhe in Stuttgart erlebte, müsste – in aller Hochachtung und Würdigung seiner Persönlichkeit und sonstigen pädagogischen Arbeit – ohne Vorbehalte untersucht werden“. Und: „Dem Verfasser scheint, dass die Wucht und die Bürde der Verantwortung für die Geisteswissenschaft eine haltbare und die Zeiten überdauernde Kindergartenpädagogik schaffen zu sollen, einen seelischen Mechanismus in Gang gesetzt haben, aus dem von Kügelgen sich nicht zu befreien vermochte und über dessen Folgen gegen Ende seines Lebens, so wird gesagt, er unglücklich gewesen ist“.

Was mit dem „seelischen Mechanismus“ gemeint ist, wird nicht erklärt. Klar aber ist, dass von Kügelgen, laut Kuhfuss, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Stärker noch, laut Kuhfuss scheint von Kügelgen dazu beigetragen zu haben, dass die Waldorfpädagogik in den Kindergärten sich in ihr Gegenteil verwandelt hat. Direkt nach den Bemerkungen über Helmut von Kügelgen erwähnt Kuhfuss einen Vortrag von Rudolf Steiner, in dem vom „Jesuitismus“ gesprochen wird. Steiner meinte damit eine Geisteshaltung, die darauf hinzielt, den Willen der Menschen gerade nicht frei zu lassen, sondern gezielt und absichtlich vorzuprogrammieren.

Laut Kuhfuss ist nun die Praxis in den Waldorfkindergärten als „jesuitisch“ zu verstehen. Er schreibt: „Durch die normierte Zeiteinteilung, die weltweit (...) auf angebliche Notwendigkeiten im Kleinkinderleben hinzielen, werden die Gewohnheitsleiber stereotyp und unindividuell präpariert, ganz im Sinne des den Jesuiten zugeschriebenen Satzes: ´Beeinflusse ein Kind bis zu seinem siebten Lebensjahr und du hast den Menschen fürs ganze Leben`.“ Über von Kügelgen schreibt Kuhfuss noch: „Mit dem Wort Jesuitismus ist somit nicht die Person Kügelgens gemeint, sondern eher der Charakter eines Verantwortungsmechanismus, der sich dann, nicht nur bei ihm, einschleichen konnte und kann (...).“

Die Rolle Helmut von Kügelgens in der Entwicklung der Waldorfkindergärten wäre also laut Werner Kuhfuss „vorbehaltlos“ zu untersuchen – und zwar „in aller Hochachtung und Würdigung seiner Persönlichkeit“. Mir scheint es aber alles andere als „würdigend“ zu sein, der Persönlichkeit Kügelgens ohne Argumente & Gesichtspunkte & Erklärungen eine Art „jesuitische“ Gefangenschaft, aus der er sich „nicht zu befreien vermochte“, zuzuschreiben. An dieser Stelle hat, so scheint es mir, Werner Kuhfuss noch einiges zu erklären. So lange er das nicht macht, trägt er dazu bei, dass die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten von Gespenstern heimgesucht wird.

Rein inhaltlich, d.h. ohne den unbegründeten Vorwurf des Jesuitismus´, kann ich aber gut nachvollziehen, was Werner Kuhfuss in seinem Buch versucht zu übermitteln. Er hat meines Erachtens recht, wenn er z. B. sagt, dass die weltweit uniforme Zeiteinteilung in den Kindergärten, die individuelle Entfaltung gerade nicht fördert. Ganz am Ende seines Buches fasst Kuhfuss sein Anliegen treffend zusammen. „Der heutige Waldorfkindergarten“, schreibt er, „ist einer der Gefühle, und zwar von Erwachsenen, die sie in die Kinder hinein projizieren. Der zukünftige Kindergarten ist einer, der die kosmische Intelligenz, die dem Wollen, Fühlen und Denken des Kindes innewohnt, (...) auf Erden zu bestätigen hat.“ Wenn das gelingt, werden Kindergärten freie Orte in einer Kultur des Herzens sein.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)
[i] Werner Kuhfuss, Die Waldorfkindergartenpädagogik, Verlag Ch. Möllmann, 2005