25.08.2008

"Mensch: es ist Zeit. Dein Warten war sehr groß." Über Rilkes larische Landschaften

"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Ich mag diesen Satz von Rainer Maria Rilke sehr. Immer wieder taucht er in mir auf – und das nicht nur, wenn der Herbst im Kommen ist. Der Satz selbst ist, wovon er spricht: voll & mächtig.

Der Satz hat die Form einer reinen Mitteilung. Es gibt hinter den ausgesprochenen Worten eine Instanz, sagen wir mal „eine Seele“, die einer anderen Instanz, „Herr“ genannt, etwas mitteilt. Der Inhalt der Mitteilung umfasst zwei Aspekte. Erst wird gesagt, dass es Zeit ist, und dann, dass der Sommer sehr groß war. Der zweite Aspekt ist eine Erklärung für den ersten Aspekt. Es ist Zeit, weil der Sommer sehr groß war. Noch größer kann oder soll der Sommer nicht werden.

Formal gesprochen – so ist das mit Mitteilungen – muss der Satz so verstanden werden, dass die erste Instanz davon ausgeht, dass die zweite Instanz über einen Tatbestand informiert werden soll. Der „Herr“ scheint vielleicht nicht zu wissen, dass es Zeit ist; und auch scheint er nicht zu wissen, dass das aus dem Groß-Sein der Sommer folgt. (Dass der Sommer groß war, dürfte der Herr wissen.)

Trotzdem gibt es hier einen Haken. Etwas stimmt nicht. Der „Herr“ ist nämlich derjenige, der zuständig dafür ist, den Sommer zu beenden. „Die Seele“ ist dazu gar nicht im Stande. Trotzdem scheint „die Seele“ etwas zu wissen, was der zuständige „Herr“ offensichtlich nicht weiß. Wie aber kann „der Herr“ überhaupt den Sommer gestalten, wenn er ignorant ist in Bezug auf so etwas Wichtiges wie die richtige Zeit? Hat er, als es noch Frühling war, nicht gewusst, dass es Zeit wurde mit dem Sommer „anzufangen“? Und hat ihm „die Seele“ das mitgeteilt, etwa wie: „Herr: es ist Zeit, der Frühling war sehr grausam“? (Laut T.S. Eliot: „April is the cruellest month“)

Rainer Maria Rilke hat mit diesem Satz eine geheimnisvolle Spannung zwischen der sprachlichen Struktur und eine allgemeine Vorstellung kreiert. Die allgemeine Vorstellung ist, dass „der Herr“ zuständig ist, wenn es um die Gestaltung der Jahreszeiten geht. (Was Rilke hier genau mit „Herr“ meint, bleibt eine offene Frage. Man braucht nicht unbedingt an „Gott“ im üblichen Sinne zu denken.) In dem Gedicht wird das auch deutlich, weil „die Seele“ den „Herrn“ dazu anspornt, seine Macht in Bezug auf den Sommer auszuüben: „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,/ und auf den Fluren laß die Winde los.“

In der allgemeinen Vorstellung macht es keinen Sinn, „dem Herrn“ mitzuteilen, dass es Zeit ist. Höchstens ist denkbar, dass gemeint wird, dass es für „die Seele“ die richtige Zeit ist. Der Satz würde dann eigentlich bedeuten: „Herr es ist Zeit für mich. Der Sommer darf für mich jetzt zu Ende gehen“. Diese triviale Interpretation liegt vor der Hand, scheint mir aber doch auch nicht so ganz zu stimmen, weil die Apostrophe „Herr“ sehr selbstbewusst, ja voll und mächtig am Anfang steht.

Die Anrede und die Worte die folgen, wirken nicht wie ein demütiges Gebet oder eine bescheidene persönliche Bitte. Nein, „die Seele“ erlaubt es sich, „dem Herrn“ selbstbewusst und ebenbürtig anzusprechen und zu einer Handlung zu bewegen. Man stellt sich eher einen selbstbewussten Untertan vor, der dem Souverän sagt: „Herr es ist Zeit. Der Feind ist zu mächtig geworden. Du sollst Krieg machen.“

Das mächtige Geheimnis des Satzes scheint mir in der Beziehung zwischen „der Seele“ und „dem Herrn“ zu liegen. Diese Beziehung ist aber alles andere als eindeutig. Immer wieder wenn der Satz in mir auftaucht – und das geschieht, wie gesagt: nicht nur dann, wenn der Herbst ansteht – erlebe ich eine Kraft, die mich zum Teilnehmer & Mitverantwortlichen & Mitgestalter macht. Ich befinde mich auf gleicher Augenhöhe mit den Göttern und mische mich ein. Ich teile den Göttern mit, dass es reicht; und ich merke, dass die Götter ihre Ohren groß und weit machen. Irgendwie scheinen sie meine Mitteilung zu brauchen.

Hat das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes etwas damit zu tun, was in den Seelen der Menschen vorgeht? Rainer Maria Rilke würde sagen: ja! Klar ist, dass die Seelen der Menschen auf eine passive Art und Weise mit den Jahreszeiten mit-leben. Der Verlauf der Jahreszeiten bestimmt die Stimmung des Menschen mit. Gilt das aber auch umgekehrt, so dass die Stimmung des Menschen den Verlauf der Jahreszeiten aktiv mitbestimmt? Auch hier würde Rilke sagen: ja!

In vielen Gedichten beschreibt Rilke die Natur, die Bäume & die Tiere, die Wälder, die Städte & die Straßen, die Kunstobjekte & die Jahreszeiten, als „larische Landschaften“, dass heißt, als Erscheinungen die sich nur augenscheinlich außerhalb von uns befinden. Die Brunnen & Brücken & Kathedralen & Hügel & Teiche schauen uns neugierig an mit den Augen der Laren (römische Haus- und Landschaftsgötter). Laut Rilke sind die Laren zu verstehen als Botschafter & Vermittler zwischen Menschen & Göttern.[i]

„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß“. Rilke scheint mit diesem Satz auch sagen zu wollen: „Mensch: es ist Zeit. Dein Warten war sehr groß“.

[i] Über diese Thema gibt es ein wunderschönes Buch: Rilkes larische Landschaft von Rudolf Eppelsheimer. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1975

19.08.2008

Nochmals über die Waldorgkindergärten. Was im Kommen ist.

Mein letzter Blogbeitrag handelte über eine Aussage von Wolfgang Saßmannshausen. Ich zitiere den Satz noch einmal: „In den Waldorfkindergärten haben gegenwärtig Menschen die Verantwortung, die keinen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben.“ Es gibt zwar begreifliche Gründe, die zu dieser Auffassung führen, trotzdem glaube ich eher nicht, dass die Aussage so stimmt.

Ich habe in meinem letzten Beitrag versucht deutlich zu machen, dass entscheidend ist, was man diesbezüglich sucht. Wenn man die üblichen waldorfpädagogischen und anthroposophischen Vorstellungen erwartet, kann man tatsächlich meinen, dass die Aussage stimmt. Hält man es aber für möglich, dass der Wille zur Anthroposophie sich auf andere Arten und Weisen zeigen, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. (In meinem Buch „Mittendrin – Anthroposophie hier und jetzt“ habe ich dieses Thema ausführlich behandelt.)

Heute möchte ich der Frage nachgehen, ob man tatsächlich von einem „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ sprechen kann. Gibt es so etwas? Und falls ja, was macht diesen Kern aus? Mit dem Begriff „Kern“ habe ich in diesem Zusammenhang ein Problem. Ein Kern ist ein Punkt, eine „Eindeutigkeit“ – nur als solcher erkennbar und vorstellbar in Raum und Zeit. In der geistigen Welt gibt es aber gerade keine „Kerne“. (Auch ein „Ich“ ist kein Kern – eher ein peripheres Phänomen, das atmosphärisch in einem sich ständig verwandelnden Umkreis erscheint. Der Gedanke, dass das „Ich“ eine Art geistige Murmel ist, die irgendwo in mir versteckt ist, ist irreführend.)

Nun könnte man sagen, dass das Wort „Kern“ in diesem Zusammenhang als Metapher verstanden werden soll. Das kann sein – mir scheint diese Metapher dann aber unglücklich gewählt zu sein. Denn wenn von einem „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ gesprochen wird, entsteht leicht der Gedanke, dass es dabei um eine bestimmte Wahrheit, eine spezifische Sichtweise, ja, um ein-zwei-drei Sätze, die ein für allemal festlegen, was den „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ ausmacht, geht. Ich meine aber, dass gerade das in Bezug auf die Waldorfpädagogik und die Anthroposophie nicht geht. Mit dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Marxismus, dem Darwinismus und dem Liberalismus kann man das vielleicht machen – mit der Anthroposophie gerade nicht.

Was macht die Waldorfpädagogik aus? Mir scheint die Waldorfpädagogik eine spirituelle und soziale Bewegung zu sein, die darauf schauen will, was „vielleicht im Kommen“ (so würde Jacques Derrida das möglicherweise sagen) ist. Das Schauen auf das, was vielleicht im Kommen ist, in & mit & durch die Kinder, ist eine unbestimmte & absichtslose Tätigkeit, die von Liebe & Wärme & Neugier genährt wird. Die so genannte pädagogische „Methode“ der Waldorfpädagogik besteht daraus, dass jeder Mensch (ob Kind oder Vater oder Mutter oder Erzieher oder Lehrer) als ein einmaliges & verwirrendes & ungreifbares Rätsel gesehen wird, das alle Rahmen sprengt und trotzdem dringend einen Rahmen braucht.

Was vielleicht im Kommen ist, ist unbekannt. Was vielleicht im Kommen ist, braucht eine wohlwollende Einladung, einen Empfang, eine bejahende Kultur. (Rudolf Steiner würde sagen: eine michaelische Kultur.) Was vielleicht im Kommen ist, kann nur in Freiheit verstanden und gestaltet werden. Ja, dieses verwirrende Zusammenfließen von verstehen & gestalten, und auch umgekehrt: von gestalten & verstehen, macht die unmethodische Methode der Waldorfpädagogik aus. Was vielleicht im Kommen ist, ist nicht unbedingt nur gut & schön & wahr. Auch Schlechtes & Hässliches & Ungutes ist im Kommen. Die Waldorfpädagogik ist nicht so naiv, dass sie meint, in dieser Hinsicht eine bestimmte Moral durchsetzen zu können.

Die Waldorfpädagogik möchte überall anders aussehen. Ich meine nicht nur: in Peru anders als in Deutschland. Ich meine auch: in Solingen anders als in Erftstadt. Und ich meine auch: in Köln anders als in Köln. In der Waldorfpädagogik stehen die Schicksale der Menschen im Zentrum – die Schicksale der Kinder, der Eltern, der Erzieher, der Lehrer, der Vorstände... Aus den einzigartigen Schicksalen möchten die Kindergärten gestaltet werden. Denn das heißt ja: Anthroposophie hier und jetzt. Und das heißt auch: aus Freiheit gestalten. Um mit dem Pädagogen und Musiker Pär Albohm aus Schweden zu sprechen: die Waldorfpädagogik möchte eine intuitiv-improvisierende Pädagogik sein.

Die Waldorfpädagogik hat auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sind ja gesellschaftliche Einrichtungen. Und der Gesetzgeber schreibt vor, wie ein Kindergarten zu funktionieren hat – und gerade durch diese Tatsache drückt sich immer ein Denken, ein Fühlen und ein Wollen aus. Ich meine, dass diesbezüglich die Waldorfbewegung in eine Isolierung geraten ist. Was Waldorfleute denken, fühlen und wollen, ist auf der gesellschaftlichen Ebene leider kaum relevant. Auf Vertreter der Waldorfpädagogik wird in der öffentlichen Debatte nicht gehört.

In der Sozialen Dreigliederung von Rudolf Steiner und in den Betrachtungen von zum Beispiel Michel Foucault könnte die Waldorfbewegung wichtige Quellen zur Selbstbestimmung finden. Mit der Frage der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung ist aber auch ein Kampf verbunden, der nie wirklich geführt worden ist. Die Waldorfbewegung hat sich – begreiflicherweise – hauptsächlich mit der Frage, wie Nischen in der öffentlichen Gesellschaft gefunden werden können beschäftigt. Eine inhaltliche und willentliche Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit hat nicht stattgefunden - aus Angst, die gefundenen Nischen aufs Spiel zu setzten.

Kampf ist Begegnung. Ich meine, dass die Waldorfbewegung die Begegnung mit der Öffentlichkeit dringend braucht.

Was ist vielleicht im Kommen? Ich würde sagen, dass sich in der heutigen Lage der Waldorfbewegung ein Wille zur Erweiterung ausdrückt. Die Anthroposophie hat tausend Gesichter. Statt auf einen „eigentlichen Kern“ zurückzugreifen, ist eine periphere Aufmerksamkeit gefragt, eine Beweglichkeit des Denkens, einen Schritt ins weite Feld der möglichen Intentionen. Schauen auf das, was im Kommen ist, heißt, das Fremde erstmal herzlich bejahen.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

12.08.2008

Über die Waldorfkindergärten. Wo sind die Anthroposophen geblieben?

In einem nicht veröffentlichten Text über die Situation der Waldorfkindergärten in NRW schreibt Wolfgang Saßmannshausen: „In den Waldorfkindergärten haben gegenwärtig Menschen die Verantwortung, die keinen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben.“[i] Ich meine, dass die Bewertung dieser Aussage entscheidend für die Zukunft der Waldorfkindergärten ist.

Mit der genannten Aussage scheinen mir drei Fragen verknüpft zu sein. 1. Auch wenn Saßmannshausen nur halbwegs Recht hat, entsteht die Frage, wie diese Situation entstanden ist? 2. Wo sind die Menschen, die tatsächlich einen Bezug zum eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben? (Oder gibt es diese Leute nicht mehr? Sterben sie aus? Haben jüngere Leute diesen Bezug nicht?) 3. Was ist gemeint mit dem Kern der Waldorfpädagogik?

Der „Kern“ der Waldorfpädagogik kann auf der inhaltlich-intellektuellen Ebene nur verstanden werden, wenn man sich inhaltlich-intellektuell mit der Anthroposophie beschäftigt. Ich bin geneigt zu denken, dass nur ganz wenig Menschen sich in der heutigen Zeit auf dieser Ebene mit der Anthroposophie beschäftigen. Die Werke Rudolf Steiners werden kaum noch gelesen und auch andere relevante Literatur wird wenig zur Kenntnis genommen. Ich glaube aber nicht, dass hier das Hauptproblem liegt.

Wolfgang Saßmannshausen schreibt nicht, dass der Kern der Waldorfpädagogik nicht „verstanden“ wird – nein, er meint, dass die gegenwärtigen Menschen „keinen Bezug“ zu ihm haben. Was heißt es, einen Bezug zu haben? Wie kann ein Bezug zum Kern der Waldorfpädagogik aussehen? Kann man zum Beispiel einen Bezug zum Kern der Waldorfpädagogik haben, ohne sich erst intellektuell-inhaltlich ausführlich mit der Anthroposophie zu beschäftigen? Ich meine: ja.

Bezüge (sind ja Beziehungen) leben sich auf drei „seelischen“ Ebenen aus: im Denken, im Fühlen und im Wollen. Es ist durchaus denkbar – und in unserer postmodernen Zeit eben sehr sehr sehr denkbar – dass jemand etwas will, ohne es auf der intellektuellen Ebene zu verstehen; oder dass jemand eine Beziehung auf der Ebene der Gefühle spürt, ohne die dementsprechenden Gedanken dazu zu haben.

Einen Bezug zu „etwas“ haben, ist nur selten eine eindeutige Sache. Klar ist aber, dass es in Bezug auf Bezüge eine klare Hierarchie-der-Intensität gibt: gewollte Bezüge sind kräftiger als gespürte Bezüge und gespürte Bezüge sind kräftiger als gedachte Bezüge. Ich meine, dass diesbezüglich sich in den letzten vierzig Jahren etwas verändert hat.

Der klassische anthroposophische Aufbau von Imagination (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene der Vorstellung), Inspiration (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene der Gefühle) und Intuition (= eine spirituelle Beziehung auf der Ebene des Willens) hat sich umgedreht – umgangssprachlich gesagt: ist in die Seele gekippt. Bernard Lievegoed hat diese Umkehrung schon in den achtziger Jahren wahrgenommen und „den Saturnweg“ genannt. Zu diesem Weg gehört, dass es anfänglich keine imaginativen Vorstellungen gibt, die das Bewusstsein tragen. Die Seele ist spontan auf Handlungen orientiert, die intuitiv ausgeführt werden und erst nachher über die Inspiration und die Imagination verstanden & bewertet & eingeordnet werden. (Philosophisch gesprochen, bedeutet dieser Weg einen radikalen Bruch mit dem Denken der Aufklärung. Er schließt eher bei Nietzsche an.)

Für die Art und Weise wie Anthroposophie „erscheint“, hat diese Umkehrung große Folgen. Der Bezug zur Anthroposophie liegt anfänglich gar nicht vordergründig im Denken, sondern im Fühlen und vor allem im Wollen. Anthroposophie wird gewollt und erstmal ganz und gar nicht gedacht. Stärker noch: zu dem Saturnweg gehört in gewissem Sinne eine spontane Abwehr gegen das Denken, weil die Seele über die Inspiration in der Imagination landen will. Das Denken tritt in der neuen Reihenfolge erst dann ein, wenn die Imaginationen gebildet sind – und nicht umgekehrt. Ich meine, dass diese Einsicht ein klares Licht auf den Umstand, den Wolfgang Saßmannshausen beschreibt wirft.

Nicht der Umstand ist bedauerlich, sondern die Tatsache, dass wir den Umstand nicht erkennen. Wenn wir „Anthroposophen“ („Menschen, die einen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben“) suchen, müssen wir auf die Ebene der Intuitionen & Intentionen & Willensrichtungen schauen. Der „postmoderne Anthroposoph“ offenbart sein Wesen nicht durch das was er sagt, sondern durch das was er tun will. Seine Sehnsüchte beziehen sich auf mögliche Handlungen.

So gesehen, bin ich mir gar nicht sicher, ob es stimmt, dass die Mitarbeiter in den Waldorfkindergärten keinen Bezug mehr zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben. Ich halte es für möglich, dass ein tragisches Missverständnis vorliegt: die Generation der Sechziger und Siebziger kennt vor allem „Spezialisten“ im Bereich der „erlebten Vorstellung“; auf der Ebene der Handlung sind sie aber oft noch in institutionelle und funktionelle Gegebenheiten eingebunden, die für unveränderliche Tatsachen gehalten werden.

Das Missverständnis liegt darin, dass spontan unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Die spätere Generationen spricht eine andere Sprache: sie kennen „Spezialisten“ in kleinen Handlungsbereichen des Alltags und lesen – so wie es einer meiner Söhne einmal ausgedrückt hat – die Art und Weise, wie wir zum Beispiel zusammen in der Küche stehen. Diese „Spezialisten“ wollen über etwas sprechen, was tatsächlich geschieht und nicht über das, was geschehen müsste, sollte oder könnte. Die Welt der kleinen und großen Handlungen ist für sie zur Sprache geworden. Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln stelle ich immer wieder staunend fest, wie stark diese Fähigkeiten in den jüngeren Menschen vorhanden sind.

Die beiden Perspektiven (vielleicht gehört noch eine Dritte dazu, die seine Verankerung vor allem in die Inspiration findet?) brauchen einander. Die weise Ordnung-der-Zeiten hat eine uralte philosophische Fragestellung – die Spannung zwischen Idee und Tat – auf der sozialen Ebene programmatisch eingeschrieben. Mir scheint es deswegen nicht fruchtbar zu sein, zu behaupten, dass die verantwortlichen Menschen in den Waldorfkindergärten keine Beziehung zu dem Kern der Waldorfpädagogik haben. Für einen, der es für wichtig hält, die Welt zu verstehen, ist die Frage fruchtbar: wie kann ich diese Beziehung verstehen?

Was ansteht ist deswegen Begegnung. Und die fängt mit der Frage an: habe ich einen Bezug zum eigentlichen „Kern“ dieser Menschen?

(Fortsetzung folgt)



[i] Wolfgang Saßmannhausen hat mir die Veröffentlichung dieses Satz freundlicher Weise erlaubt.


06.08.2008

Was Samuel und Sammy einander heute sagen. Über Krankheit

Samuel: „Sammy, letzte Woche ist ein guter Bekannter von mir krank geworden. Er hat einen Schlaganfall im Gehirn bekommen. Er liegt nun in einem Bett in einem Krankenhaus und kann sich kaum mehr bewegen. Die Ärzte sagen, dass er nie mehr auf seinen Beinen stehen und gehen können wird.“

Sammy: „Ich merke an deiner Stimme, dass du ihn magst.“

Samuel: „Ja, sehr, sehr, obwohl wir noch nie richtig mit einander geredet haben. Er spricht nur Spanisch – und zwar sehr schnell & nuschelnd. Dazu kommt, dass er sich mit ganz anderen Sachen beschäftigt als ich. Er meint, glaube ich, dass die Welt ein Glückspiel ist. Entweder etwas klappt und dann hat man Glück – oder etwas klappt nicht und dann hat man Pech. Ich bewundere ihn sehr, weil er Mißgeschicke gut wegstecken kann.“

Sammy: „Er fängt immer wieder aufs Neue an?“

Samuel: „Seine Verwandten und Freunde – er selber redet nicht darüber – sagen immer wieder, dass er in seinem Leben mehr als vierzig Läden eröffnet hat. Und alle vierzig hat er wieder schließen müssen. Es gab immer irgendein Problem. Und stell Dir vor: kurz bevor er ins Krankenhaus kam, hat er seinen letzten Laden eröffnet.“

Sammy: „Ich glaube nicht, dass ich verstehe, was es heißt einen Laden zu eröffnen.“

Samuel: „Das kannst du nicht wissen, weil ich es auch nicht weiß. Ich habe wirklich keine Ahnung von solchen Sachen. Du kannst aber vielleicht verstehen, was es bedeutet, nicht mehr gehen zu können. Du bist ja damals im Wohnzimmer deiner Eltern einfach stehen geblieben. Du konntest Dich nicht mehr bewegen, weil du innerlich g elähmt warst.“

Sammy: „Stillstand gibt es nicht. Aber Stockungen schon.“

Samuel; „Wie meinst du das?“

Sammy: „Bei mir war es ein Schock. Ich war elf Jahre alt und stellte fest, dass meine Eltern mir nicht sagen oder mich nicht spüren lassen konnten, wer ich war. Erst dadurch, dass ich viel viel viel später merkte, dass ich mich nicht bewegen konnte, weil ich einen Schock hatte, habe ich ein bisschen verstanden, wer ich bin. Ich bin jemand, der lange im Schock gelebt hat. In der Zeit dieser Stockung ist aber unheimlich viel passiert. Ich habe viel nachgedacht. Und nachzudenken heißt in Bewegung zu sein.“

Samuel: „In innerer Bewegung?“

Sammy: „Bitte, frage nicht zuviel! Ich kenne den Unterschied zwischen Innerem und Äußerem nicht. Du scheinst in Bezug auf diesen Unterschied der bequeme Spezialist zu sein! Nein, solche Gedanken sind mir in der Zeit der Stockung nie gekommen. Ich meine nur, dass Nachdenken nichts anderes als in Bewegung sein ist. Ohne Gedanken bewegt sich gar nichts. So wie ich die Welt verstehe, heißt Gehen auch Denken.“

Samuel: „Gehen ist Denken?“

Sammy: „Klar! Wenn ich in einen Wald gehe, sehe ich die Bäume. Und was sind Bäume anderes, als für Augen sichtbar gewordene Gedanken?“

Samuel: „Kannst Du meinen kranken Bekannten sehen?“

Sammy: „Ich kann es versuchen. Ja, er liegt im Bett und bewegt sich kaum. Er hat einen Schock. Er kann nicht verstehen, dass sein Körper ihm nicht mehr zur Verfügung steht. Er erlebt in sich immer wieder und ganz selbstverständlich den spontanen Wunsch aufzustehen. Er möchte gerne einen Espresso trinken, oder einen Spaziergang machen, oder sehen, wie die Sachen in seinem Laden laufen. Dann merkt er aber, dass sein Wunsch sich nicht auf seinen Körper überträgt. Er merkt das immer wieder, immer wieder, immer wieder... Irgendwie & irgendwo gibt es immer wieder einen Kurzschluß. Und er denkt: das nennt man also einen Schlaganfall! Aber damit, dass dieses Wort in seinem Denken auftaucht, ist nicht viel getan. Er versteht es nicht. Er versteht es immer wieder nicht.“

Samuel: „Ich verstehe es auch nicht.“

Sammy: „Er versteht nicht, dass er einen Schock hat. Er versteht noch nicht, dass er auf seinen Schock schauen kann, so wie man im Wald auf einen Baum schaut. Ich weiß wirklich nicht, ob ihm das gelingen wird. Der Tod ist in sein Leben eingezogen, und das heißt, dass man auf eine andere Art und Weise auf sich selber schauen kann. Ich sage: kann, nicht muss oder soll. Nichts muss. Nichts soll. Sein Schock hat aber noch kein Gesicht. Dein Bekannter braucht Zeit. Es wird aber einmal anders sein, vielleicht schon bald, vielleicht erst dann, wenn er gestorben ist. Dann wird er sehen und verstehen. Weißt du, alles was mit Menschen geschieht, gehört zum Mensch-Sein. Auch die Sachen, die wir immer wieder nicht verstehen."