26.12.2009

Über Licht und Dunkel. Ein hinduistischer Mönch in Singapur

Die Erzählung von Licht & Dunkel gehört zweifellos zu den maßgebenden „Bedeutungsfeldern“ der Menschheit. Mit dem Zunehmen oder Abnehmen des Lichtes – und damit verbunden dem Zunehmen oder Abnehmen des Dunkels – sind entscheidende Begriffe verbunden, wie Leben & Tod, Gut & Böse, Wahrheit & Lüge, ja eben Schönheit & Hässlichkeit. Die Erzählung von Licht & Dunkel ist eine richtige Erzählung.

Was ist eine richtige Erzählung? Richtige Erzählungen erzählen nicht von Ereignissen, sondern sind Ereignisse. Sie machen die Ereignisse, von denen sie nicht erzählen, zum Ereignis. Richtige Erzählungen werden im Grunde genommen nur einmal erzählt, immer wieder nur einmal erzählt. Das Wiederholen von richtigen Erzählungen beruht auf der Tatsache, dass sie immer wieder neu erzählt werden können, als hätten sie keine Geschichte.

Das, was die Geschichte ausmacht, wird in richtigen Erzählungen bis zum Nullpunkt zurück gebracht. Erzählungen vibrieren im Jetzt. Richtige Erzählungen heben die zeitlichen Kategorien von Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft auf. Sie stoßen diese drei in einen aufsteigenden Wirbel, den man selbstverständlich Gegenwart nennen darf – eine Gegenwart allerdings, die Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft umfasst.

Die Gegenwart gibt es zweimal. Einmal als eine untergeordnete zeitliche Einheit in einem gedanklichen Rahmen, die mit den Begriffen Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft angedeutet wird. Und einmal als eine übergeordnete Einheit, die alle drei Begriffe umfasst & im Grunde genommen mit der Zeit gerade nichts mehr zu tun hat. Nur in dieser übergeordneten Einheit finden die Vorgänge statt, die wir Ereignisse nennen.

Eine richtige Erzählung ist also die Erzählung vom Zunehmen des Lichtes. In unserer Gegend kennen wir diesen Vorgang in zwei Gestalten: einmal pro Tag & einmal im Jahr. Jeden Morgen wieder nimmt das Dunkel ab & das Licht nimmt zu. Und im Dezember, in der Weihnachtszeit & kurz danach, passiert das gleiche, allerdings so, dass das Dunkel für ein ganzes halbes Jahr ins ständige Abnehmen versetzt wird. Das Licht dagegen bleibt bis Juni im Kommen.

Es gibt Gegenden, in denen man diesen zweiten Vorgang nicht kennt. In Singapur zum Beispiel, nicht mehr als fünfzig Kilometer vom Äquator entfernt, findet die Abwechslung von Licht & Dunkelheit über das ganze Jahr morgens & abends genau um etwa sieben Uhr statt. Es gibt dort jeden Tag genau zwölf Stunden Dunkelheit & zwölf Stunden Licht. (Und ganz eigenartig: der Übergang ereignet sich immer innerhalb von fünfzehn Minuten. Stundenlange Dämmerungen sind dort ein unbekanntes Phänomen.)

Zu einer richtigen Erzählung vom Zunehmen des Lichtes gehört also die Gegebenheit, dass sie auf unserem Planet unterschiedlich wahrgenommen & erlebt wird. Oder vielleicht besser gesagt: das Wachsen des Lichtes kennt mehrere Gesichter. Und weil die Erde rund ist – mittlerweile dürften alle Erdbewohner das wissen – bedeutet dies, dass die Zahl der Gesichter festlegt werden kann. Es gibt nicht weniger als 360 richtige Erzählungen von Licht & Dunkel.

Dieses globale Wissen erzeugt in der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes einen Sprung. Wenn wir daran festhalten, dass zu der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes die Vorstellung von der Geburt eines Kindes gehört – geben wir ihm einen Namen: Jesus – und dazu noch immer meinen, dass diese Geburt für alle Menschen auf der Erde eine wesentliche Bedeutung hat, müssen wir einen Sprung in einen Wirbel machen.

Ich war vor ein paar Wochen in Singapur in einem hinduistischen Tempel, der Göttin Kali geweiht, Herrscherin der Dunkelheit. Genau um zwölf Uhr mittags erschien ein alter Mönch, der kaum noch gehen konnte – er wackelte durch den Raum, seine Augen noch oben gedreht. Erst meinte ich spontan, dass er betrunken wäre. Weil aber eine lange Reihe von Menschen gespannt auf ihn wartete, kam ich auf den Gedanken, dass er als ein Heiliger angesehen wurde.

Ich schloss mich der Reihe der Wartenden an. Als der Mann bei mir angekommen war, schaute er über mich hinweg – ich glaube nicht, dass er mich richtig gesehen hat – so, als ob ich eigentlich irgendwo anders wäre, ganz weit oben im Himmel. Wie bei den Anderen rieb er mit seinem Finger eine weiß-gelbe Farbe auf meine Stirn.

Ich hatte & habe keine Ahnung davon, in welchem Ritual ich mich eigentlich befand. Entscheidend für mich war aber die Erfahrung, dass der Blick des Mönchs mich an einer Stelle zu suchen schien, an der ich mich normalerweise bei Tagesbewusstsein gar nicht erlebe, nämlich ganz oben im Licht. Ich hatte die Neigung, mich umzudrehen & nach oben zu schauen, um mich zu finden.

Als ich kurz darauf wieder auf der bunten Straße war, merkte ich, wie die Ausweitung nach oben dazu führte, dass ich mich unten ganz klein & unbeholfen empfand. Das Leben hier unten schien keine Bedeutung mehr zu haben. Es war, als ob es eine Kluft zwischen oben & unten, Licht & Dunkel gab – ohne Brücke, ohne Beziehung, ohne Dialog. Und ich stellte fest, wie sehr mein Selbstverständnis mit Dämmerung zu tun hat. Ich verstehe mich als einen Menschen, der sich in der Dämmerung immer wieder findet.

Die Erzählung des hinduistischen Mönchs ist aber genau so richtig, weil die Erde eben rund ist. Sie scheint zu bedeuten, dass etwas von mir sich in der Tat weit weg von mir ganz oben im Licht befindet. Diese Erkenntnis dämmert mir nicht ein, sondern erreicht mich eher wie ein Schock & macht das Leben für eine Weile zum Witz. Ich sage mir, was die Göttin Kali sagt: das Leben auf der Erde ist Maya.

20.12.2009

Die Kerze ist eine uralte Erfindung. Über das Immer-wieder-neu-geboren-Werden

Es ist ein Winternachmittag & es ist draußen dunkel. Ich sitze an meinem kleinen Küchentisch, entzünde eine Kerze & schaue darauf, was geschieht. Zunächst „geschehen“ meine Gedanken – sie kommen & gehen, ohne dazu eingeladen zu sein. Besonders erleuchtend sind sie aber nicht. Sie wiederholen zwanghaft das, was ich den ganzen Tag schon gedacht habe, nämlich, dass ich die Arbeit A noch zu erledigen habe, die Kollegin B unbedingt anrufen & endlich mal meinen Kühlschrank sauber machen sollte.

Ich verabschiede mich von meinen Gedanken. Sie scheinen heute Nachmittag nicht sehr aufdringlich zu sein, vielleicht sind sie müde & sehnen sich nach Ruhe. Ich denke noch: wo gehen die Gedanken eigentlich hin, wenn ich mich von ihnen verabschiede? Weil diese Frage eine Menge weitere Gedanken erzeugt, lasse ich auch sie los.

Und dann bin ich leer. Nun ja, leer ist vielleicht nicht das richtige Wort. Was übrig bleibt, wenn sich meine Gedanken zurück gezogen haben, ist eine leise Stimmung, ein farbiges Lispeln, ein stilles Vibrieren, das sich schwer beschreiben lässt. An dieser Stelle taucht wieder eine Frage auf, von der ich mich ebenfalls verabschieden will, die ich aber in diesem Text trotzdem in Worte fassen muss.

Die Frage lautet: was da nach meinen Gedanken erscheint, ist das mein Körper? Sind die Stimmungen & das Lispeln & das Vibrieren als Erscheinungen zu verstehen, die von meinem Körper ausgehen, abstrahlen und dann im Blickfeld meiner Aufmerksamkeit auftauchen? Oder müsste ich diesbezüglich eher sagen, dass ich es hier mit seelischen Erscheinungen zu tun habe, die nicht körperlicher Natur sind?

Über diese Frage habe ich schon öfters nachgedacht. Ich bin zu der Annahme gekommen, dass hier eine Mischung vorliegt, ein ineinander Spielen von organischen & rein seelischen Vorgängen, die aber aufeinander bezogen sind & gerade dadurch die Empfindung eines Innenraums erzeugen. Die Stimmung & das Lispeln & das Vibrieren vollzieht sich „in“ Etwas – und dieses Etwas ist noch am besten mit dem Begriff von Rainer Maria Rilke zu beschreiben: Innenraum.

Ich lasse diese Annahme also im Raum stehen – und ja: sie drängt sich nicht weiter auf, ich vermute, weil ich höflich bin – und schaue darauf, was weiter geschieht. Ich befinde mich also in einer Lage, die sich so beschreiben lässt: ich bin einerseits ein Beobachter & andererseits ein leerer Raum, der zwar eine Stimmung beinhaltet, trotzdem aber für das, was kommen will frei ist. Ich bin gleichzeitig ein Schauender & eine Schale.

Die Kerze brennt ruhig. Sie beleuchtet sanft die Wände meiner Küche, berührt die weißen Lilien am Fenster, hebt das braune Holz des Tisches hervor. Sie bringt Ruhe. Nach einer Weile aber merke ich, dass die kleine Flamme sich in mir fortsetzt, mich leise vereinnahmt & sich in meinem Innenraum versetzt und dort ausbreitet. Eigentlich kann ich nicht mehr sagen, dass sich die Kerze außerhalb von mir befindet – sie ist eine Erscheinung in mir geworden. Und sie beleuchtet innere Erscheinungen.

Was ist Feuer? Feuer ist eine physikalische Erscheinung geistiger Natur. Im Feuer zeigt sich der Geist auf eine fast unmittelbare Weise. Ich versuche nicht, mit meinem Finger die Flamme zu berühren – Kinder machen das gerne – weil mir klar ist, dass mein Körper den Geist nicht ertragen kann. Brennen bedeutet eine unmittelbare Berührung von Geist & Materie, ohne einen seelischen Puffer. Im Feuer verwandeln sich die Substanzen.

Die Kerze ist eine uralte & geheimnisvolle Erfindung. Das Wunderbare an einer Kerzenflamme ist, dass sie – solange sie nicht physisch berührt wird – genau dem Maß meiner Seele entspricht. Was mit einem Waldbrand oder eben einem Lagerfeuer normal gesprochen nicht geht, ist mit einer Kerze immer möglich, nämlich, dass ich mich seelisch gesprochen auf gleiche Augenhöhe mit dem Geist begeben kann. Ich kann das Licht & die Wärme einer Kerze verinnerlichen, ohne in eine Bedrängnis zu geraten.

In meinem Innenraum brennt also die Kerze. Ich schaue darauf was kommt & nach einer Weile stelle ich fest, dass sich ein lautloser & leiser Gesang in mir bemerkbar macht. Es ist, als ob es in mir, unsichtbar, wie verborgen in einem Keller, einen Chor gibt, der leichte & ernsthafte & heitere Töne und Klänge von sich gibt. Und wenn ich mich, was nur ein paar Minuten gelingt, frei & bedingungslos an den stillen Gesang übergebe, fühle ich mich getragen. Ich bin auf einmal nicht mehr ein Beobachter, sondern komme im Zustand des Schwebens zu mir selber.

In mir verschmelze ich mit mir. Und „in mir“ bedeutet auf einmal nicht nur „in mir“, sondern auch: „in der Welt“. Innenwelt & Außenwelt schieben sich ineinander. Und ich sage mir: dein Dasein beruht nicht auf gespürten Innerlichkeiten & gespürten Äußerlichkeiten - sie spiegeln dich nur - sondern auf einem direkten Gespür von dir in dir. Und ich weiß, dass ich unabhängig von meinem Körper & meiner Seele existiere. Ich fühle mich wie neu geboren.

14.12.2009

In Singapur wird die Welt rund. Über eine Weltstadt

Großstädte haben mich schon immer beeindruckt. Schon als Kind glaubte ich, dass Städte wie Utrecht, Rotterdam & Amsterdam die „richtigen“ Orte seien. Dort sei das wirkliche Leben zu finden. Wichtig war mir die Vorstellung, dass Städte rund um einen Kern gebaut sind. Eine Stadt zu kennen, hieß, sich in ihrem Herzen auszukennen.

Letzten Monat war ich zehn Tage in Singapur. Die Stadt war allerdings nicht das Ziel meiner Reise – ich war dort hin geflogen, weil einer meiner Söhne mit seiner Familie in dieser großen Hafenstadt an der Südspitze von Malaysia lebt. Die Stadt hat mich aber trotzdem richtig gepackt, weil sie eine sehr kräftige Aussage macht.

Singapur ist nicht entstanden, sondern konstruiert worden. Dass der Stadtstaat überhaupt existiert, liegt daran, dass die Engländer ihn bewusst wollten. Die Gründung von Singapur war ein strategischer Willensakt, in London ausgedacht & vor Ort in Südostasien gezielt durchgeführt. Singapur basiert auf der Vorstellung einer Globalisierung, die von England aus gesteuert wurde.

Um eine Idee davon zu bekommen, wie Singapur vor Singapur aussah, muss man auf eine der kleinen benachbarten Inseln gehen, wie zum Beispiel Pulau Ubin. Man stellt dann sofort fest, dass Singapur aus dem Dschungel erobert worden ist. Würde man in Singapur drei Jahre den ständigen Kampf gegen die Natur vernachlässigen, wäre die Stadt bald wieder Regenwald. Dieser Willensakt findet also jeden Tag statt.

Die Stadt ist modern & bis in die kleinsten Einzelheiten geregelt & sehr sauber & sehr schön. Die Notwendigkeit des täglichen Willensakts hat dazu geführt, dass man Singapur keine Demokratie nennen kann. Vom Liberalismus hat Singapur nur die wirtschaftliche Seite übernommen, den Kapitalismus – politisch gesehen ist Singapur eine Art freundliche Diktatur. (Man könnte schon die Frage stellen, ob eine offene Demokratie im Stande wäre, das benötigte gemeinsame Wollen zu erzeugen.)

Die Herzkammer von Singapur sind die Einkaufzentren – die so genannten „Malls“ – bei Orchard Road. Auch für europäische Begriffe sind diese Zentren ausgesprochen expressiv, ich meine: sie sprechen sehr laut die Sprache des Konsums. Die Einwohner der Stadt sind ausgesprochen wohlhabend. In den Zentren findet man vor allem „europäische“ Läden, dort werden in ausgeräumten Räumen die Marken aus Paris & London & Berlin präsentiert.

Ganz anders wirken die Viertel, in denen die Leute aus Indien, China, Malaysia & Arabien leben und arbeiten. In Little India zum Beispiel findet man Hunderte von kleinen Läden, die dicht nebeneinander stehen & eine unübersichtliche Unmenge an exotischen Waren anbieten. Und in der Arab Street reihen sich die kleinen Kaffeehäuser aneinander, an deren Tischen die Muslime unergründliche kommerzielle Verhandlungen führen.

Nach ein paar Tagen stellte ich fest, dass sich Singapur an der Spitze der Globalisierung befindet. In Deutschland reden wir über die Globalisierung wie über ein bedrohenliches Phänomen, in Singapur kriegt man das Gefühl, irgendwie mittendrin zu sein. Die Globalisierung scheint dort locker & selbstverständlich & hautnah zu funktionieren. Oder vielleicht besser gesagt: man fühlt sich in der Globalisierung gut aufgehoben.

Wenn es wahr ist, dass Singapur ein Bild für ganz Südostasien darstellt, darf ohne Weiteres gesagt werden, dass die Region eine riesige Potenz hat. Das Lebensgefühl dort hat gar nichts vom Schwierigen & Schweren & Melancholischen, dass die Stimmung in Europa zu beherrschen scheint. Sehr auffallend ist ausserdem, dass die Religionen – Buddhismus, Hinduismus & Muslim – ganz lebendig bis auf jeder Ecke zu erleben sind. Einen Konflikt zwischen Modernität & Religion scheint es gar nicht zu geben.

Was mich aber am meisten getroffen hat, ist die Tatsache, dass die Vorstellung der Welt bei den Einwohnern von Singapur „rund“ ist. Ich meine das Folgende. Wenn ich an die Welt denke, stelle ich mir eine Spannung zwischen dem Osten & dem Westen vor. Die Welt sieht genau so aus, wie mein Flieger geflogen ist: über Polen, den Kaukasus, Afghanistan, Indien, Malaysia... Und ich denke diese Linie weiter bis China & Japan.

Dahinter liegt nichts, na ja, ein immenser Ozean... In Singapur aber stellt man sich die Welt ganz anders vor. Einerseits gibt es die westliche Verbindung zu Europa & Amerika, andererseits aber gibt es den östlichen Weg nach Amerika, OHNE Europa. Das heißt nicht nur, dass die Welt als „rund“ erlebt wird, sondern auch, dass es eine Verbindung gibt, die mit Europa gar nichts zu tun hat.

Was für uns in Europa oft ein schwieriger Gedanke ist, scheint für den Südostasiaten eine Selbstverständlichkeit zu sein: das „Entwicklungsfeld“ in der Welt liegt zwischen China & Amerika, ohne dass Europa dazwischen wie eine „Mitte“ fungiert. Europa wird nicht mehr so richtig gebraucht. Und so verhalten die Asiaten sich auch zu Europa: wenn ihr mitmacht, gerne, aber ohne euch wird es auch gehen!

08.12.2009

Brief Poliziano in het Nederlands

De Nederlandse versie van de brief van Angelo Poliziano is te vinden op de weblog van Michel Gastkemper. Datum: 7 december 2009. Adres:

http://antroposofieindepers.blogspot.com/

04.12.2009

Brief von Angelo Poliziano an Piero de Medici im Jahr 1493

An Piero, den Unglücklichen

Kleiner, ich legte meine Hand auf deine Haut und sah aus dem Braun deiner Augen den weißesten Blick nach oben schießen, weit an mir vorüber. Ich ahnte nicht, dass sich in einem Körper soviel verletztes Bewusstsein versteckt haben konnte, und soviel Sehnsucht. Kleiner, was ist ein Kind?

Heute ging ich wieder die schmalen Pfade meiner Jugend entlang, zwischen Montepulcianos Baumgärten, auf dem Weg nach Hause. Jeder Schritt verdunkelte meine Seele, denn im dunklen Haus meines Vaters, wie ich jetzt weiß, dass ich damals empfand, lebte schon der Schatten seines Mörders.

Der Tod war schon lange bevor mein Vater starb da. Er lebte in meines Vaters Angst vor der Einsamkeit, in der Angst auch vor der Liebe, die in ihm war. Ich wusste, wie es auch dieses Mal gehen würde: ich würde die große Türe langsam aufziehen und die Kühle des Marmors in der Halle spüren, und meine Mutter würde rufen, dass mein Vater auf mich wartete, schon ganz lange wartete, und jetzt weiß ich, dass ich die Frage spürte: auf wen wartete er eigentlich? Auf mich, Angelo? Auf sein Kind? Oder auf etwas, das es nicht wirklich gab und nur in seinen Erwartungen lebte?

Ja, Kleiner, was ist ein Kind? Ich glaube, du warst das erste Kind, das ich sah, als ich meine Hand auf deine Haut legte und diesen Blick hoch schießen sah, fast wie ein Fisch aus einem Dunkel, in dem ich kein Leben vermutete. Ich berührte dich, sonst nichts. Aber es ist wahr: ich berührte dich wirklich. Ich spürte deine Haut an der meinen, eine sich sehnende Haut, eine fiebernde Haut, eine unglückliche Haut…

Aber was ist Haut? Haut ist die Außenseite einer Innenseite, eine empfindliche Schale um eine noch empfindlichere Frucht. Haut ist Innenseite, die zur Außenseite geworden ist, ohne die Beziehung zur Innenseite verloren zu haben. Die Haut weiß noch, was sie einmal war: empfindsame Zusammenziehung. Du, Kleiner, mit deiner schaudernden Haut im Regen, mit deinen Augen, die immer wieder wanderten, um zu sehen, ob zufällig dein Vater, der Gelobte, in den Garten hinein käme um schließlich das Pferdchen zu bringen.

Wusste dein Vater aber, was ein Kind ist? Nein, er wusste es nicht. Und gerade dadurch, dass ich es jetzt verstehe, denn ich liebte deinen Vater wie sonst keinen, sehne ich mich nach dir mit einem Herzen, das im Zerbrechen ist. Ich sehne mich nach deiner Haut, nach deinem Blick, nach deinen Augen, und ich möchte, dass ich mit meiner Hand aufs Neue das Kind wachrufen könnte, das in dir versteckt lag.

Daran musste ich heute denken, als ich die schmalen Pfade meiner Jugend entlang lief, auf dem Wege zu dem Haus, das es nicht mehr gibt. Kleiner Unglücklicher, ich denke an dich und verstehe die Welt nicht mehr.
Dein Angelo

27.11.2009

Aus einem Manuskript (2). Über das neue Wort „Tuberkulose“

Als ich in Castricum ankam, konnte ich kaum noch auf meinen Füßen stehen. Im Wohnzimmer stand ein kleiner schwarzer Ofen mit kleinen Fenstern aus „Mica“. Was Mica war, hatte ich von meinem anderen Großvater gelernt: eine Schiefer Steinsorte, die durchsichtig war & nicht brennen konnte.

Ich sitze auf einem Kissen & blättere in einem Buch über die holländische Geschichte & schaue auf die Bilder von den Helden, die mir fremd sind. Mit Willem de Zwijger & Maurits & Michiel de Ruyter kann ich gar nichts anfangen; sie bleiben für mich blass & unbestimmt, wie kleine Häufchen Brotteig auf einem Küchentisch. Mein Großvater väterlicher Seite meinte aber: „Nimm dir die Helden als Vorbild!“

In dem Buch gibt es Bilder von Seeschlachten zwischen den Engländern & den Holländern. Auf hohen Wellen heben sich die Segler mit rot-weiß-blauen Fahnen & mutigen Männern & vor allem Kanonen, die Feuer spritzen. Überall Feuer. Ein englisches Schiff liegt schief zwischen zwei hohen & beinah brechenden Wellen & brennt & brennt... Und ich stelle mir die eigenartige Frage: wie ist es möglich, dass ich Zeuge eines Dramas bin, dass vor Hunderten von Jahren stattgefunden hat?

Ich schaue durch die Mica-Fenster in den Ofen & dort tobt die Schlacht weiter: ich sehe nur noch brennende Schiffe, brennende Fahnen, brennende Männer, ja, eben die Wellen lodern rot & gelb & blau. Ich bin Zeuge eines Geschehens, dass sich im Nu – hier & jetzt in Castricum – vollzieht. Schiffe gehen unter, Schiffe verschwinden hinter dem Horizont, Schiffe lösen sich im Feuer auf. Und ich höre die Stimmen von den holländischen Helden & den englischen Feiglingen – eine rot-rote Mischung von tierischer Freude & Todesängsten.

Meine Haut brennt. Ich spüre die Glut der Flammen auf meinen Wangen & Armen – ich schwitze & schwitze. Und irgendwie spüre ich, dass ich irgendwo angekommen bin, wo es nicht mehr weitergeht. Jetzt hört alles auf, jetzt höre ich auf, jetzt verzehren mich die Flammen, jetzt schluckt mich eine Geschichte, von der ich meinte: sie hat gar nichts mit mir zu tun. Und es ist wahr: irgendwo in diesem heißen Vorgang tauchte ein Wort auf, wie ein Vogel, das seitdem um mich herum wie ein Rätselbegriff flattert: das Wort Apokalypse.

Ich verlor mein Bewusstsein. Ich verschwand. Ich wurde über eine Schwelle geschoben. Ich war irgendwo anders. Und als ich nach drei Tagen wieder aufwachte, stand eine Krankenschwester neben mir, die mich lachend anschaute & sagte: „Du Armer, du hast Glück gehabt!“ Ich hörte, wie die Thermometer in ihrer Brusttasche klirrten. Und ich dachte: wie Vögel ohne Federn und ohne Fleisch. Ich schaute um mich herum & stellte fest: die Welt ist wieder kalt geworden.

Als später ein Arzt kam, lernte ich ein neues Wort kennen: „Tuberkulose“. Wir schrieben 1961.

20.11.2009

Aus einem Manuskript (1). Über einen Becher Milch in Ermelo

Ich stehe neben einer kleinen Wiese & stelle fest: ich bin genauso hoch, wie die braunen Pfähle des Zauns. Und ich sage es mir laut: „Jelle, du bist auf einmal richtig gewachsen!“ Wenn ich das sage, spüre ich die Hände meines Großvaters, die er gerade in diesem Moment von hinten auf meine Schultern legt.

„Was hast du gesagt?“, fragt er.
„Ich bin groß geworden“, antworte ich.
Mein Großvater lacht.

Auf der Wiese melkt der Bauer eine Kuh. Er sitzt auf einem kleinen Hocker, den er halb unter die Kuh geschoben hat – seine Beine streckt er unter dem riesigen Bauch des schwarz-weiß gefleckten Tieres aus. Mit seinen Händen berührt er die rosa Zitze der Kuh & die Milch spritzt für mich hörbar in den Zinneimer zwischen seinen Knien. Als er fertig ist, steht er auf & schaut um sich herum. Als er mich und meinen Großvater sieht, lacht er & sagt: „Du Kleiner, du hättest bestimmt gerne einen Becher frische Milch!“

An dieser Stelle hat meine Erinnerung eine kleine Lücke. Der Bauer steht jetzt vor mir, mit einem Becher in seiner Hand. Ich kann heute nicht sagen, woher er den geholt hat – in meiner Erinnerung ist er einfach auf einmal da. Der Bauer überreicht mir höflich den Becher, als wäre ich ein Prinz & sagt: „Für dich!“

Und ich trinke die Milch, die noch warm ist. Der Geruch der leicht schäumenden Masse & die leicht-schwere Substanz, die durch meine Kehle rinnt, gibt mir das Gefühl, als ob ich eine Minute lang eine Kuh bin. Das Tier, das ein paar Meter von mir entfernt, ohne etwas zu sehen, regungslos auf irgendetwas schaut, ist mir ganz nahe gekommen. Auf einmal verstehe ich, dass Kühe richtig existieren.

Mit diesem Schluck begann eine Reise in die Unterwelt.

In den Monaten die folgten, stand mein Großvater hinter mir, immer & immer; er war immer da, wie ein Schatten, der mich begleitete. Ich aber wurde immer dünner & dünner, schwächer & schwächer, lustloser & lustloser – und als ich klagte, sagte mein Vater: „Flauwekul“.

(Ohne das holländische Wort komme ich in dieser Erzählung nicht aus. Auf Deutsch würde man vielleicht so etwa sagen: „Quatsch!“ – klingt mir aber weniger vernichtend in den Ohren. Als mein Vater „flauwekul“ sagte, was er öfters tat, meinte er: „Schade, dass du selbst nicht einsiehst, welchen Unfug du redest.“)

Ich war also blöd. Anfang Dezember schaffte ich es kaum noch, die Treppen in unserer Wohnung hochzukommen, manchmal war mir kalt, manchmal heiß & ich hustete Blut, was ich aber geheim hielt, weil ich wusste, dass sich so etwas nicht gehört – Menschen husten ja kein Blut! Ich war der festen Überzeugung, dass ich grundsätzlich daneben war, auf allen Ebenen – und ich hielt es für weise, über meine Schieflage konsequent zu schweigen.

Zu Weihnachten wurde ich mit dem Zug zu meinen Großeltern väterlicherseits geschickt. Sie lebten in Castricum, nördlich von Amsterdam, zwei Kilometer vom Strand entfernt. Ich war dort nicht gerne, weil nie etwas geschah. Das Meer war immer Meer, mein Großvater war immer Großvater & meine Großmutter sagte nie etwas. Aufmerksame Blicke, bedeutungsvolle Worte, einladende Bewegungen – das alles gab es in Castricum nicht. (Fortsetzung nächste Woche.)

Mit Dank an Sophie Pannitschka

14.11.2009

Was der Beamte Enno Schmitz diese Woche zu erledigen hat

OB anrufen, Handy
Frau Ende anrufen (englisch?)
KSTA anrufen (Pappenheim)
80.000 Birnen?
Klaviermarken sortieren
- alphabetisch
- nach Herkunft
- nach Qualität (Preis!)
- Bilder nicht vergessen
Vermerk Bösendorfer!!!
Sitzung OdWG vorbereiten
StVergAbG lesen
Übersicht Rathenauplatz
Heidecker über Gegenstände???
Franzose über die Ordnung der Dinge???
Umstellen: HGOdWG §35 und §37b
Geld überweisen: Griet
Griet anrufen (schwanger?)
Reisekosten sortieren
Vorstand CDU-Köln schreiben
Protokoll lesen!!!
Und Düsseldorf?
Karte 1. FC für Maik (Bayern)
Maik anrufen (Griet schwanger?)
Medikamente
Auto waschen
Winterreifen!!!
Maik fragen?
Geburtstag Gertrud!!! (Freitag)

10.11.2009

Was hat er vor? Der Klavierspieler Johann reist morgen ab

Notizen Bösendorfer
Brief Mary Ending
Notizbuch (kaufen!!!)
Füller (von Magdalena)
Stift (von Alexander)
englisches Wörterbuch
Kalender
Lupe
Nagelschere
Notbrille
iPod
Arvo Pärth (downloaden)
Sting Wintersongs (???)
Goerke
die kleine Ikone (plus Kerze)
die neuen Socken
schwarze Hose
schwarze Unterhosen
die schwarzen Sportschuhe (sauber machen!!!)
Filzhut (suchen!!!)
Reisepass
Reiseführer
Zehn Blaue
Reiseaschenbecher
Feuerzeuge (drei)
Karte Devon
Fahrkarte Köln - London
Ticket London – Exeter
Hotel confirmation (noch ausdrucken)
Führerschein (nicht vergessen!!!)
Kreditkarte Dresdner Bank
Bargeld 100 Pfund Sterling
Hei 65
Malte
Handy (cell-phone)
Und: Adapter!!!
Ass 100
Procolaran
Leberwurst, fünf (REWE, Ja)

04.11.2009

Die Waldorferzieherin (4 – und Schluss). Die Bedeutung einer Bezeichnung

Ich bin zu folgender Schlussfolgerung gekommen: die Bezeichnung „Waldorferzieherin“ ist nicht nur berechtigt, sondern auch dringend notwendig. Der Einwand, dass damit ein „Etikett“ eingeführt wird, trifft nicht zu. Rein sprachlich betrachtet, unterscheidet sich eine Waldorferzieherin von einem Penner, einem Phänomenologen, einem Punker, einem Saxophonisten oder einem Biobäcker nicht.

Und außerdem: wenn es so etwas wie Waldorfpädagogik & Waldorferziehung & Waldorfkindergärten gibt, wieso sollte es dann keine Waldorferzieherin geben? Diese Frage hat noch niemand befriedigend beantwortet.

Es geht um eine Bezeichnung, so wie Bäume, Könige, Texte, Länder, Gegenstände, Stile auch bezeichnet werden. Kritisch wird es nur, wenn die Bezeichnung eine rechtliche Beschreibung beinhaltet, wenn also in Worten genau & präzise festgelegt wird, wer sich aus welchem Grund so nennen darf & wer nicht. Aber auch an dieser Stelle muss es kein Problem geben. Es könnte durchaus sein, dass zum Beispiel die Vereinigung der Waldorfkindergärten jemanden – nach bestimmten Verfahren, wie einer Ausbildung & praktischer Erfahrung – als Waldorferzieherin anerkennt, ohne jemand anderem verbieten zu wollen, sich auch so zu nennen.

Waldorferzieherinnen sind nicht unbedingt besser als andere Erzieherinnen. Sie kennzeichnen sich dadurch, dass sie eine bewusste Orientierung auf ein bestimmtes „geistiges“ Menschenbild haben & im Stande sind, die sozialen und pädagogischen Aufgaben dementsprechend zu handhaben. Dass auch andere Erzieherinnen sich unbewusst oder intuitiv auf ein „geistiges“ Menschenbild orientieren, scheint mir durchaus zu stimmen. Der Unterschied liegt aber in dem Begriff „bewusst“. Erst wenn man eine bewusste Beziehung hat, kann man innerlich frei seine Handlungen reflektieren.

Warum wird die Bezeichnung Waldorferzieherin gebraucht? Meine Zukunftsvision ist diese: Ich hoffe, dass wir in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren so weit sind, dass Kitas & Kigas & was-es-alles-noch-geben-wird, sagen werden: wir brauchen in unserer Einrichtung eine Waldorferzieherin, weil sie etwas bringt, was für uns & die Kinder gut ist.

In der Zukunft, so hoffe ich, wird es nicht mehr selbstverständlich sein, dass eine Waldorferzieherin in einem Waldorfkindergarten arbeitet. Waldorferzieherinnen werden überall arbeiten. Nur auf diese Art und Weise kann der Impuls der anthroposophisch inspirierten Pädagogik, ein Kulturfaktor werden. Und ohne Menschen eine dementsprechende Bezeichnung zuzutrauen, wird das nicht gelingen.

28.10.2009

Nochmals die Waldorferzieherin (3). Über die echte Arbeit

Bei der Beschreibung der Fähigkeiten einer Waldorferzieherin scheint mir ein Grundproblem die herrschende Annahme zu sein, dass sie an erster Stelle eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen hätte. Das Herz ihrer Arbeit, so wird generell angenommen, betrifft die Erziehung der Kinder und der entsprechenden Beziehung zu ihnen, wobei die Art der Beziehung als eine „pädagogische“ verstanden wird.

Zusätzlich, so heißt es, braucht die Waldorferzieherin noch ein paar „soziale“ Fähigkeiten, weil sie eben auch mit Eltern & Kollegen & Vorständen & Beamten zu tun hat. Diese sozialen Fähigkeiten werden zwar immer wichtiger, weil offenbar das Ringen auf der sozialen Ebene zunehmend Aufmerksamkeit verlangt, jedoch als zweitrangig verstanden. Die eigentliche Aufgabe bleibt die Arbeit „am Kind“.

Was macht aber die gesamte Arbeit aus? Das Leben scheint mir das Folgende zu zeigen: Jede Erzieherin handelt durch ihren Beruf aktiv in einem Flechtwerk von Menschen. Die Knotenpunkte in diesem sozialen Gewebe werden Kinder, Väter, Mütter (oder eben Elternteile – grausames Wort!), Opas & Omas, Nachbarn, Leiterinnen, Zweitkräfte, Kolleginnen, Köchinnen, Putzfrauen, Ärzte, Vorstände und Beamte genannt.

Im alltäglichen Leben heißen sie Maria, Eva, Hans, Vanessa, Karsten, Kerstin, John, Astrid, Jasmin oder Dr. Schmitz. Obwohl das Dasein dieses Gewebes indirekt durch die Kinder konstituiert wird – ohne Kinder keine Kindergärten – erscheint es in der Lebenspraxis als eine Gemeinschaft von Individuen, die auf gleicher Augenhöhe stehen. Die Kinder sind genauso „Individuum“, wie die Erzieherinnen & Vorstände & „Elternteile“ auch.

Die Frage, mit der alle Erzieherinnen an erster Stelle ringen, ist diese: wie verstehe ich mich in meiner pädagogischen Aufgabe in diesem sozialen Gewebe? Die Praxis zeigt, dass die pädagogischen Tätigkeiten in eine Wirklichkeit eingebettet sind, man könnte einfach von „Leben“ sprechen, die über die rein erzieherischen Aufgaben hinausgehen. Und damit ist die Beziehung zwischen „sozial“ & „pädagogisch“ ein Thema geworden.

In der öffentlichen Gesellschaft & in der akademischen Welt ist diese komplexe Beziehung als Fragestellung schon längst angekommen. Ich brauche nur auf die Soziologie zu verweisen: dort wird schon seit Jahrzehnten die Frage gestellt, wie das Kind im gesellschaftlichen Rahmen zu verstehen ist. Und auf der philosophischen Ebene ist es vor allem Michel Foucault gewesen, der manche Konzepte, „pädagogische“ (wie auch „therapeutische“ und „kriminologische“), als „sozial-gesellschaftlich“ umdefiniert hat.

Mir scheint, dass die Waldorfbewegung sich noch immer gegen diese Ausweitung der Fragestellung wehrt. Die soziale Komponente muss aus irgendeinem Grund „zusätzlich“ bleiben & Erziehung eine Art Insel, so wie der Künstler sein Atelier vielleicht als einen Schutzraum erlebt. Aber wie gesagt: die Lebenspraxis zeigt, dass das nicht mehr geht. Warum nicht? Einfach, weil das Leben von spezifischen Absonderungen weg will.

Erst kommt das Leben, dann kommt die Pädagogik. Auf zwei Ebenen trifft diese Wahrheit zu: erstens sind es die allgemein-menschlichen Fragen, die das Leben in einem Kindergarten bestimmen. Die Beziehungen zwischen den Kindern, den Kollegen, den Eltern & den Vorständen machen das Klima aus, in dem die Kinder gedeihen, oder eben auch nicht gedeihen können. Offene & würdige & lebendige menschliche Beziehungen sind eine Voraussetzung für die biographische Entwicklung (von Kindern, Erzieherinnen, Vätern & Müttern sowie Vorständen).

Und zweitens: auch die Beziehung der Erzieherin zu dem Kind ist erst an zweiter Stelle eine pädagogische. Wenn auch die Kinder als „Individuum“ verstanden werden, was ja in den Waldorfkindergärten nachdrücklich der Fall ist, geht es darum, bewusst in das wunderbare Spannungsfeld zwischen Ich & Ich (also: Du) einzusteigen. Diese allgemein-menschliche Ebene lässt sich aber grundsätzlich nicht mit pädagogischen & erzieherischen Begriffen beschreiben.

Rudolf Steiner, der Urheber der Waldorfpädagogik, würde an dieser Stelle bestätigen, dass die pädagogische Aufgabe tatsächlich einer allgemein-menschlichen Beziehung untergeordnet ist. Man könnte eben argumentieren, dass diese Sichtweise gerade einer der Ausgangspunkte der Waldorfpädagogik ausmacht. Rudolf Steiner verstand das soziale Leben als einen Raum, in dem persönliche & öffentliche Anliegen miteinander verschränkt sind – ein Raum, in dem sich „Schicksale“ gestalten.

Eine Waldorferzieherin verstehe ich als eine Lebenskünstlerin, die vor allem die Fähigkeit entwickelt, auf die delikaten Bedeutungen der Beziehungen zu schauen & sich dementsprechend taktvoll zu verhalten. Dazu gehört natürlich auch, dass sie auf sich selber schaut. Mir scheint dies allerdings eine „soziale“ Fähigkeit zu sein, die sich aber nur dann entfalten kann, wenn eine bewusste Orientierung auf ein spirituelles Menschenbild vorhanden ist. Um Menschen zu verstehen, braucht man dementsprechende Erkenntnisse.

Damit ist die pädagogische Aufgabe nicht vom Tisch. Wenn Rudolf Steiner vom „pädagogischen Grundgesetz“ sprach (kann ich heute nicht beschreiben – würde den Blograhmen sprengen), hatte er eine spezifische Verhaltensweise vor Augen, die die Beziehung zwischen Ich & Ich nicht ersetzt - gerade nicht! - sondern einen professionell notwendigen „Zusatz“ bedeutet. Die Erzieherin kann diese Verhaltensweise erst dann realisieren, wenn sie im sozialen Gewebe zumindest halbwegs eine innere Ruhe erreicht hat.

Gerade eine Waldorferzieherin versteht die sozialen Beziehungen um das Kind herum – sie selber gehört dazu – nicht als zufällig oder nebenbei oder eben lästig. Sie versteht, dass jedes Kind sich in seinem eigenen „Gefüge“ entfaltet. Dieses Gefüge als schwierig oder belastend zu empfinden, heißt eigentlich, dem Kind sein eigenes Leben nicht zuzutrauen. Eine wesentliche Kompetenz der Waldorferzieherin liegt also darin, das Leben unter allen Umständen positiv zu bewerten. Mir scheint das die echte Arbeit zu sein.

25.10.2009

Sammy und Samuel heute. Über die Musik von Joachim Goerke

Heute fragt Sammy: „Lieber Samuel, wo bist du? Es scheint mir, als ob du verschwunden wärest. Irgendwie scheinst du unterwegs zu sein, ich meine: nicht mehr so ganz bei dir. Hast du dich an einem unbekannten Ort verloren? Steckst du in einer Jazzbar? Sehnst du dich nach John Coltrane? Oder Captain Beefheart? Trinkst du? Rauchst du? Oder hast du dich hinter einer Tarnkappe versteckt? Ringst du mit deinen Texten-im-Kommen?“

(...)

Sammy: „Oder liegt es an mir? Ich räume ein, dass ich in der letzten Zeit nicht mehr so richtig verstehe, wo ich bin. Als ob Coltrane mich mit seinem Saxophon weggeblasen hätte. Ich fühle mich frei schwebend, ohne Ziel, ohne Frage, als ob meine Präsenz keinen Bezug mehr zu den Ereignissen in deinem Leben hat. War das nicht unsere Abmachung, Samuel, dass wir darauf schauen, wie dein Wohlergehen mit meiner Existenz zusammen hängt?“

(...)

Sammy: „Ohne deine Zuwendung komme ich nicht vom Fleck. Unsere Sache ist noch nicht erledigt: ich stehe noch immer im Wohnzimmer meiner Eltern und versuche mich von meinem Schreck zu befreien. Ich vermisse dich. Viel Zeit ist vergangen, obwohl ich schon verstehe, dass meine Einsamkeit mit Monaten und Wochen und Tagen und Stunden nichts zu tun hat.“


Samuel: „Ich höre gerade Klaviermusik.“

Sammy: „Wer spielt?“

Samuel: „Joachim Goerke“.

Sammy: „Wer ist das?“

Samuel: „Ein Meister der Ruhe“.

Sammy: „Jetzt kann ich die Musik hören.“

Samuel: „Wie kann man über diese Musik reden? Der Meister der Ruhe hat seinen Musikstücken Titel gegeben, die vielleicht als ein Hinweis zu verstehen sind. ´Die Stille in deinem Herzen´. ´Heiliger Raum´. ´Mutter, ich komme zu Dir`. ´Das Kind in mir`. Und: ´Danke`. Für mich sind die Titel aber irreführend, weil die Musik mit solchen Wörtern nichts zu tun hat. Nur der letzte Titel, ´Danke´, scheint mir ein bisschen zu stimmen.“

(...)

Samuel: „Einfacher ist zu beschreiben, was seine Musik nicht macht. Sie begeistert nicht. Sie schreit, weint, lacht nicht. Sie verwirrt nicht. Sie geht nicht, zieht nicht, drängt nicht. Sie kommt nicht nicht vom Fleck. Sie geht nicht von rechts nach links, nicht von links nach rechts. Sie ist nicht in einer Mitte, nicht in einer Peripherie. Sie kommt nicht auf mich zu, nimmt mich nicht auf, lässt mich nicht in Ruhe, spricht von nichts.“

(...)

Samuel: „Die Musik des Meisters der Ruhe fällt mit der Stille der Zeit zusammen. Sie scheint mir mit dem Wesen der Zeit befreundet zu sein, sie hält inne, öffnet mit einer bescheidenen Verbeugung die Tür zu einem Raum, in dem keine Uhren ticken und in dem die Monate und Wochen und Tage
und Stunden sein können, was sie sein wollen: vertikale Säulen. Lieber Sammy, sei gegrüßt!“


(Über Joachim Goerke: http://www.sajema.de)

19.10.2009

„Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“. Eine permanente Konferenz

Die Erkenntnis ist gleichzeitig sehr einfach & sehr kompliziert, sehr beruhigend & sehr verwirrend: was alles noch in der Welt geschehen wird, hängt davon ab, was individuelle Menschen heute tun oder lassen. Oder mit Orland Bishop: „I invite you to think that you are just as important to this world, as the sun is“. Und natürlich mit dem jungen deutschen Filmemacher Joshua Conens: „Diesen Satz habe ich verfilmt“!

Nicht die großen gesellschaftlichen Einrichtungen – Banken, politische Parteien, Kirchen, Unternehmen, Universitäten – bestimmen die Zukunft, sondern die Menschen (innerhalb oder außerhalb der Institute) bestimmen die Zukunft der Gesellschaft. Menschen können mächtig viel erreichen, auch wenn es erst einmal nicht so aussieht. Es ist wie mit einem Öltanker: der Steuermann dreht heute ein ganz winzig kleines bisschen am Rad & zehn Tage später erreicht er nicht Sidney, sondern Singapur.

Das Beispiel des Öltankers ist deswegen so hilfreich, weil es nur zur Hälfte stimmt. Was nämlich nicht passt, ist die einfache & komplizierte Tatsache, dass es in der Zukunft so etwas wie Sydney oder Singapur nicht gibt. Die Geographie der Zukunft ist noch berauschend unbekannt, kennt keine Kontinente oder Häfen oder Koordinaten. Singapur & Sydney sind ja noch nicht einmal Gegenwart, sondern Vergangenheit.

Die Zukunft kann man mit Konzepten nicht in den Griff kriegen. Die großen gesellschaftlichen Einrichtungen sind aber gerade ständig damit beschäftigt, die heutigen Ängste bis in die Zukunft hinein zu verlagern & die klugen Maßnahmen von heute dementsprechend zu extrapolieren. Die Zukunft wird als eine mengenmäßige Steigerung der Gegenwart verstanden & deswegen können manch einfache & komplizierte Gedanken nicht gedacht werden (zum Beispiel, dass die Arbeitslosigkeit auch damit zusammenhängt, dass Menschen ANDERS arbeiten wollen).

Offene Räume für Unerwartetes bieten Institute ganz wenig. Die aktuelle Wirklichkeit ist diesbezüglich haargenau umgekehrt: sofern es in den gesellschaftlichen Einrichtungen so etwas Zerbrechliches & Behutsames & Berauschendes wie Freiräume gibt, werden sie von individuellen Menschen immer wieder erobert & erkämpft & behütet. Manchmal sehen die Freiräume wie komische oder unpraktische oder träumerische oder sehnsüchtige „Orte“ aus, weil ja alles was nicht irgendwie in die Vergangenheit passt, lächerlich wirkt.

Sich innerlich frei & mutig & verliebt & existentiell auf die Zukunft einzulassen, sind Merkmale einer Kultur des Herzens. Auf der Website www.projektzeitung.org, wo eine Art Zeitung vorgestellt wird die viermal im Jahr erscheint, wird es so beschrieben: „Wo sind Menschen, die sich jenseits politischer Pragmatik Aufgaben in der Welt stellen – Menschen, die Lebensräume schaffen, die auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen?“

Und: „projekt.zeitung will Initiativen darstellen, Menschen ins Bild bringen und Fragen der Zeit vertiefen. Will anregen und Anknüpfungspunkte aufzeigen, Begegnungen stiften“. Und auch: „Junge Mitarbeiter erarbeiten Themen in offenen Redaktionstreffen. Sie hinterfragen Medien, schleifen Sprache, üben Kritik und Zuspruch. Permanente Konferenz, wo auch immer.“

In der neuesten Ausgabe von projekt.zeitung (Titel: „Menschenbilder“ – bitte sofort auf oben genannter Website bestellen!) werden unter der unpraktisch-sehnsüchtigen Behauptung „Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“ etwa zwanzig junge Leute vorgestellt, die „auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen“. Oder genauso gut gesagt: die tun was sie wollen.

Menschenbilder bietet so richtig Text. So sagt Katharina Ludwig: „Ich laufe, ich bin in Bewegung, aber eigentlich kommt die Zukunft auf mich zu.“ Und Benjamin Kolass: „Jede menschliche Begegnung trägt in sich ein potentielles Projekt, im weitesten Sinne“. Und Florian Lück: „Alles das, was den Menschen vorformen will, soll herausgenommen werden, um Situationen zu schaffen, wo Menschen sich treffen können und etwas Neues entsteht.“

Lisei Caspers: „Die Menschen kann ich nicht verändern, aber ich kann Anlass zur Veränderung geben, ich stehe mit meinem eigenen Leben dafür.“ Und Adrian Wagner: „Mit Mercedes bauen ist es eben noch nicht getan, das reicht nicht. Unsere Sprache, Philosophie und Kultur ist nur so lebendig wie wir sie im Herzen tragen und damit in globalen Austausch treten“. Und Krimoun: „Ich hätte gern ´nen Plan, doch habe keinen. Hätte gerne Sicherheit, aber es gibt keine. Würde gern wissen, was ich tue und weiß überhaupt nichts.“

Und Friedel Reinhardt: „Unsere Zeit fordert, dass das Unsichtbare sichtbar werden kann“. Sie hat recht. Auf der unsichtbaren Ebene sind eine Menge „Projekte“ im Kommen: unsichtbare Schulen & Banken & Kigas & Tempel & Zeitungen & Öltanker, die zwar keine institutionelle Verkörperung suchen, das eben gerade nicht, irgendwie aber doch eine sprachliche – und damit soziale – Verankerung brauchen.

Das große Ringen liegt zurzeit in der Frage: wie können die unsichtbaren Projekte zur Sprache gebracht werden? An dieser Stelle ist der Dichter-in-uns gefragt, auch wenn man Erzieher oder Filmemacher oder Journalist oder Kaufmann ist.

13.10.2009

Eine Zerreißprobe. Oder: wie man cool bleibt.

Letzte Woche fragte mich eine Erzieherin, was man machen könnte, wenn sich ein Kindergarten in einer „Zerreißprobe“ befände. Weil ich die Bedeutung des Wortes nicht wirklich kannte & mir nur halbwegs eine Vorstellung davon machen konnte, fragte ich, was sie genau meine. Sie erklärte mir das Wort so: „Bei einer Zerreißprobe wird geprüft, ob etwas dem Druck standhält.“

Sie erzählte, was in ihrem Kindergarten los sei. „Erstens haben wir gerade mit einer neuen Gruppe, die aus zwanzig Kindern besteht, angefangen. Zweitens hat das Team deswegen einen Sprung von vier auf acht Mitarbeiter gemacht. Drittens gibt es natürlich auch viele neue Eltern, die tausend Fragen haben. Viertens wird bei uns renoviert, was viel zusätzliche Arbeit bedeutet & dazu noch Unordnung auf das Gelände bringt.“

Die Zerreißprobe beschrieb sie so. „Die äußeren Umstände fragen ständig um Aufmerksamkeit. Es ist, als ob wir nur noch damit beschäftigt sind, hundert kleinere & größere Sachen zu erledigen, die gemacht werden müssen. Im Endeffekt machen wir nichts mehr wirklich gut. Ich würde sagen: wir machen nicht mehr das, was wir eigentlich machen wollen. Die zwingenden Tatsachen des Lebens haben die Regie übernommen.“

Mich trifft vor allem, dass die Erzieherin von einer „Probe“ spricht. Sie sagt nicht einfach, dass es in ihrem Kindergarten gerade leider viel zu bewältigen gibt & dass so etwas wie organisatorische Vernunft gefragt wird. Ihre Frage ist überhaupt nicht, wie die Arbeit besser zu organisieren wäre. Nein, mit dem Begriff Probe wird eine andere Dimension angesprochen.

In der spirituellen Literatur wird öfters von Proben gesprochen. So gibt es zum Beispiel die Feuerprobe, die Wasserprobe & die Luftprobe. Bei diesen Proben geht es immer um die Frage, ob man im Stande ist, eine schwierige Situation dadurch zu „meistern“, dass auf der Stelle neue Fähigkeiten ergriffen werden. Es geht also nicht darum, zu beweisen, dass man etwas schon kann – die Sache ist eher so, dass man vor der Frage steht, ob man im Jetzt etwas Neues erreichen oder ergreifen kann. Die Probe selber macht also das Geschehen aus.

Wie wäre in dieser Hinsicht eine Zerreißprobe zu verstehen? Als erstes glaube ich, dass an dieser Stelle oft ein Denkfehler gemacht wird, der daraus besteht, dass man sagt: „Manchmal ist das Leben einfach zu viel!“. Natürlich kann das durchaus stimmen: Es gibt Zeiten, in denen das Leben an allen Ecken juckt. Trotzdem kann man aus spiritueller Sicht eigentlich nie von zu viel (oder zu wenig) sprechen – das Leben bietet immer genau das, was ist. Man kann höchstens sagen, dass man nicht immer auf das Leben vorbereitet ist oder mit ihm umgehen kann.

Ein zweiter Denkfehler scheint mir zu sein, dass wir eigentlich immer geneigt sind, die Lösung eines Problems dort zu suchen, wo es in Erscheinung tritt. Wenn das Problem „zu viel“ heißt, versuchen wir es sofort mit „weniger“ auszugleichen. Für einen Kindergarten könnte das zum Beispiel heißen, dass man versucht effizienter & akkurater & „schlauer“ zu arbeiten. Und wenn der Zustand zu lange dauert, holt man einen Organisationsberater dazu.

Im Grunde genommen steht aber bei Proben etwas anderes an, nämlich eine Umkehrung der Aufmerksamkeit. In spirituellen Proben verschiebt sich das Aufgabenfeld nach innen. Die Zerrissenheit hat nämlich zwei Gesichter: einerseits gibt es die Umstände, die uns zerfetzen; anderseits gibt es aber eine Schwäche-in-uns, die dazu führt, das wir nicht ganz wach bei den Dingen bleiben & so das Leben rund machen können. Die Probe macht uns deutlich, dass uns die Präsenz des Selbst fehlt.

Wie holt man sein Selbst dazu? Dazu gibt es viele Techniken - eine davon nennt man „Meditation“. Über die Verinnerlichung kann man in den Bereich gelangen, in dem die Zerrissenheit als Zerrissenheit erlebt wird, also gerade nicht als einen Zustand, den es nicht geben sollte & den wir zu bekämpfen haben. Cool bleiben in einer Zerreißprobe bedeutet eigentlich: die Zerrissenheit als Lebensvorgang akzeptieren.

04.10.2009

Die Waldorferzieherin (2). Eine sprachliche Evokation

Den heutigen Text verstehe ich als eine sprachliche Übung. Mit Sprache sind hier nicht nur: Wörter & Sätze & Redewendungen & Textkörper & grammatische Regeln gemeint, sondern auch das schillernde Spannungsfeld zwischen Wörtern und Bedeutungen. Ich zitiere hier nochmals den englischen Anglisten & Juristen Owen Barfield: „Wörter sind keine Flaschen“. Er wollte mit diesen vier schlichten Worten darauf hinweisen, dass man Bedeutungen nicht mit Wörtern & Redewendungen fixieren kann.

Owen Barfield schreibt in seinem Buch Poetic Diction in meiner Übersetzung: „Bedeutung kann nie von einem zu einem anderen Menschen transportiert werden; Wörter sind keine Flaschen; jeder Mensch muss die Bedeutung für sich selber intuitiv ergreifen, und die Funktion des Poetischen liegt darin, diese Intuition durch passende Suggestion zu vermitteln“.

Um den Sprung in die Welt der Bedeutungen zu machen, muss man also poetisch werden. Es ist dabei egal, ob man als Wissenschaftler, Journalist, Dichter, Blogger oder Jurist schreibt: die Bedeutungen lassen sich nur „suggerieren“ über eine Sprache, die bildhaft & musikalisch & rhythmisch & vor allem evokativ ist.

Der Gegenstand meiner poetischen Übung ist der Begriff „Waldorferzieherin“. Ich möchte versuchen, der Bedeutung dieses Begriffes einen Schritt näher zu kommen. Und wie ich schon in meinem vorigen Blogbeitrag schrieb: ich habe die Hoffnung, dass auch andere sich bemühen werden, die Berufung einer Waldorferzieherin als „Bestimmung“ sichtbar zu machen.

Weil ich Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Köln bin, kenne ich viele Waldorferzieherinnen. Nach einer zweijährigen Fortbildung heißen diese Frauen – es sind eben fast nur Frauen - auf einmal „Waldorferzieherin“. Was ist in diesen zwei Jahren geschehen, dass sie mit einem Zertifikat der Vereinigung der Waldorfkindergärten mit ihrer Arbeit als Waldorferzieherin weiter machen können?

Mich berührt immer wieder, dass die Frauen in den zwei Jahren in sich selbst eine Art Umstellung bewirken. Wie in einem uralten Ritual sind zwei Kandelaber verschoben worden: was Außen war, ist Innen & was Innen war, ist Außen geworden. Anders gesagt: die Welt um mich herum gehört zu mir & meine inneren Erlebnisse gehören zur Welt. Der abstrakte Abgrund zwischen mir-als-Subjekt & dir-als-Objekt ist konkret & lebendig & begehbar geworden.

Für eine Waldorferzieherin ist jedes Kind eine „Weltmacht“, die auf sie zu kommt; und wie das mit Weltmächten nun einmal so ist: um sie kennen zu lernen, muss man auf die eigenen Gewohnheiten & Gepflogenheiten & Erwartungen verzichten, oder vielleicht besser: man muss sich selber neu kennen lernen wollen. Eine Waldorferzieherin weiß außerdem, dass eine Geschichte nur dann wirklich zu einer Geschichte wird, wenn Ereignisse stattfinden; und Ereignisse-im-Jetzt erlebt man nur, wenn man sich unbefangen am Kind beteiligt & das Kind sich an einem selbst beteiligen lässt.

Jedes Kind ist einzigartig & deswegen versucht eine Waldorferzieherin genau so einzigartig zu werden, weil sie erst dann auf die gleiche Augenhöhe mit dem Kind kommt. Wenn das Einzigartige-in-mir sich auf das Einzigartige-in-dir einlässt, entsteht eine neue Einmaligkeit: die Beziehung zwischen mir und dir; und so versteht die Waldorferzieherin ihre Präsenz in einer prinzipiell verwirrenden Gruppe von Kindern: als einen Ort der beteiligten Aufmerksamkeit für einzigartige Beziehungen.

Wo die Kinder andauernd in diesem & jenem verschwinden dürfen, in Kastanien, Würmern, Schrauben & Muttern, Autoreifen, Märchen & Klängen, jeder für sich, gemeinsam, zu zweit, oder zur dritt, versucht eine Waldorferzieherin ihre beteiligte Aufmerksamkeit zu handhaben, und zwar so, dass sie nicht zur Beobachterin wird. Wach dabei sein, kreativ Raum & Zeit schaffen, die Kinder selber gestalten lassen & trotzdem an dieser Gestaltung spielerisch beteiligt sein: diese Aufgabe stellt sich eine Waldorferzieherin.

In doppelter Hinsicht bedeutet diese Aufgabe eine Gratwanderung. Erstens braucht die Waldorferzieherin eine spielerische Beweglichkeit, die auf Intuition beruht. Eine offene Frage ist ihr zur Natur geworden: welche Bedeutungen sind hier & jetzt im Kommen? Sie muss also gleichzeitig Ruhe bewahren & ständig im Fluss sein. Zweitens braucht sie ein allgemeines Wissen von Kindern, um – wegen der Einzigartigkeit der Kinder & der Beziehungen – gerade darauf verzichten zu können.

Ihr Menschenbild ist Gegenstand ihrer fröhlich-ernsthaften Aufmerksamkeit. Man kann nicht Waldorferzieherin sein, ohne auch ein bisschen Philosophin zu werden. Die uralte Frage nach dem Menschen – wer ist der Mensch, woher kommt er, wohin geht er? - steht rund um die Uhr im Zentrum ihrer Arbeit. Und wenn sie gestern dachte, die Antwort auf die Frage bereits gefunden zu haben, wird sie heute feststellen müssen, dass dies Gott-sei-dank nicht der Fall ist.

Das sonnige Menschenbild einer Waldorferzieherin wird ständig aufgewühlt, weil sich eine kräftige Intuition von unten aus einmischt. Irgendwo unten im Dunkel, dort wo unsere Wille einen Weg durch den Tunnel des Lebens sucht, wirkt das Schicksal & das Wissen vom Schicksal & das Spüren des Schicksals. Waldorfpädagogik ist eine Schicksalspädagogik.

Ich meine jetzt gerade nicht den Gedanken, dass die Vergangenheit uns bis in die Gegenwart verfolgt & dass wir uns damit leider auseinander zu setzen haben. Ich meine eher das Umgekehrte, nämlich die dunkle Ahnung, dass das zukünftige Leben der Kinder & von mir, nur & nur in der Gegenwart gestaltet wird. Eine Waldorferzieherin geht davon aus, dass die Menschen in der Gegenwart aus einander hervor gehen, um in der Zukunft frei zu sein.

28.09.2009

Die Waldorferzieherin (1). Eine klärende Vorbereitung

Dieser Text ist als eine Vorbereitung für einen weiteren Text zu verstehen. Nächste Woche werde ich versuchen zu beschreiben, was eine Waldorferzieherin sein muss, ich meine: welche Fähigkeiten sie haben sollte, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Der Text von nächster Woche ist noch im Kommen – er wird eine Art Sprachübung sein, dass heißt, ein Versuch über Worte & Sätze & Redewendungen der Waldorferzieherin näher zu kommen.

Der Anlass meiner Übung liegt in einem Treffen von etwa zwanzig Menschen letzte Woche in Hannover begründet, die sich im Rahmen der Vereinigung der Waldorfkindergärten unter anderem mit der Frage beschäftigten: was soll eine staatlich anerkannte Erzieherin lernen um auch Waldorferzieherin zu sein? Die zuständigen Menschen kommen zweimal im Jahr zusammen & vertreten die Seminare für Waldorfpädagogik in Berlin, Dortmund, Dresden, Hamburg, Hannover, Köln, Mannheim, München, Rendsburg & Stuttgart.

Die Frage was eine staatlich anerkannte Erzieherin lernen sollte, um Waldorferzieherin zu werden, setzt voraus, dass es so etwas wie eine Waldorferzieherin gibt. Aus mehreren Gründen kann aber argumentiert werden, dass es so etwas gar nicht gibt & eben nicht geben kann. In der Lebenspraxis ist allerdings von einer Waldorferzieherin schon die Rede. Die Vorbereitung meiner Sprachübung besteht nun daraus, an dieser Stelle eine Unterscheidung zu machen.

Der Begriff Waldorferzieherin ist mit einer (eventuellen) beruflichen Definition nicht gleichzusetzen. Ein Beruf ist (philosophisch gesprochen) ein „Subjekt“, das auf einer gesellschaftlichen Abmachung beruht. Berufe gestalten sich im Spannungsfeld ZWISCHEN dem Selbst & gesellschaftlichen Vorgaben. Ein Selbst kann mit seinem Beruf nicht identisch sein, weil Subjekte zu beschränkt & fixiert sind, um die Fülle eines Selbstes zu umfassen.

Für manche Berufe sind Rechte & Pflichten in Gesetzen peinlich genau festgelegt. Wenn jemand von sich sagt: „Ich bin ein Arzt oder ein Rechtsanwalt oder ein Lehrer“ bedeutet das einfach, dass er die dementsprechende Ausbildung gemacht hat, offiziell anerkannt ist & sich an ganz bestimmte Regeln zu halten hat. Sich ohne diese gesellschaftliche Anerkennung als Arzt auszugeben, ist eben strafbar.

Mit manchen Berufen ist das anders. Ich darf mich zum Beispiel Künstler oder Journalist oder Entertainer oder Politiker nennen, ohne dementsprechende Papiere vorweisen zu müssen. Diese Berufe sind mehr oder weniger „frei“. Mit dem Beruf Erzieher ist es allerdings so gestellt, dass man schon eine staatliche Anerkennung braucht, um beruflich tätig zu werden.

Den Beruf Waldorferzieherin gibt es in diesem Sinne aber nicht. Das liegt letztendlich nicht nur daran, dass der Staat den Beruf nicht „genehmigt“ - nein, es hat erst einmal damit zu tun, dass die Gemeinschaft von Waldorfkindergärten diesbezüglich selber keine klare Aussage macht. (Solange Waldorfkindergärten Mitarbeiter ohne zusätzliche Waldorfausbildung anstellen, kann auch rein rechtlich gesprochen der Beruf Waldorferzieherin nicht existieren.)

Die Frage ist nun: macht es Sinn die Aufgaben & Fähigkeiten & Tätigkeiten der Waldorferzieherin zu definieren & zu fixieren? Um dort hinzukommen, wird aber ein transparentes „Berufsbild“ oder – klingt offenbar besser – ein „Berufsprofil“ gebraucht, das noch nicht existiert. Ein Berufsprofil kann allerdings nur auf einer Beschreibung des Begriffes der Waldorferzieherin beruhen. Bevor man sich bemüht ein Profil festzulegen, sollte man versuchen sich an den Begriff heranzutasten.

Die Argumentation der Menschen die sagen, dass es prinzipiell keine Waldorferzieherin geben kann, beruht auf der unverkennbaren Tatsache, dass es sich um eine spirituelle Tätigkeit handelt. Würden sie sich auf die Terminologie von Michel Foucault einlassen, könnten sie sagen: die Praxis einer Waldorferzieherin ist nicht nur eine Sache des Subjekts, sondern auch des Selbstes; und die Sachen des Selbstes lassen sich gesellschaftlich nicht „subjektivieren“.

Das gilt aber auch für Ärzte & Rechtsanwälte & Lehrer & Künstler & Entertainer & Politiker & (staatlich anerkannte) Erzieherinnen. Die implizite Behauptung, dass nur Waldorferzieherinnen geistig tätig sind, scheint mir grundfalsch zu sein. Die Frage kann nur sein: worin unterscheidet sich die Waldorferzieherin von anderen Erzieherinnen?

An dieser Stelle gibt es nur zwei Wege: Entweder wehrt man sich gegen jegliche Form von „Subjektivierung“, was aber bedeutet, dass die Gesellschaft zwangsläufig auseinanderfällt – man versteckt sich in der Sprachlosigkeit & kommuniziert nicht mehr mit seinen Zeitgenossen; oder man freundet sich mit dem Gedanken an, dass das Unmögliche zumindest halbwegs ermöglicht werden kann. Das letzte heißt: über die Sprache zu versuchen, die unsagbaren Sachen des Selbstes zu „suggerieren“. Im Grunde ist das eine literarisch-sprachliche Tätigkeit.

Bevor ein Berufsprofil entstehen kann, muss also erst eine Beziehung zum Begriff Waldorferzieher hergestellt werden. Über Begriffe sind in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Bemerkungen zu machen: erstens, dass sie nicht in Worte zu fassen sind, (weil Wörter laut Owen Barfield eben keine Flaschen sind – darüber nächste Woche mehr) & zweitens, dass wir denkend & fühlend & wollend auf sie zugehen müssen, oder wie Johannes Stüttgen es immer so treffend sagt: Begriffe sind Bestimmungen.

Ich werde nächste Woche versuchen, mich auf den Begriff der Waldorferzieherin einzulassen. Es wird natürlich bei einer Annäherung bleiben – zu mehr bin ich nicht im Stande. Meine Hoffnung ist aber, dass auch andere auf diesem Weblog (man kann immer einen Kommentar schreiben) oder an anderen Stellen versuchen, eine Sprachübung zu machen. Denn ein Ding ist klar: ohne frische & tiefe & leichte & fröhliche & fragende & bestätigende & umwerfende & beruhigende Beschreibungen kommen wir diesbezüglich nicht vom Fleck.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

21.09.2009

Das schmerzvolle Zusammensein mit den Genauigkeiten des Physischen

Oben in der Arbeiterwohnung, direkt unter dem Dach, hatte mein Großvater seine Werkstatt, die man über eine schmale & wackelige Leiter erreichte. Dort eingeladen zu werden, war ein Privileg; dort eine Stunde zu verweilen, ein Ereignis. Dort nahm mein Großvater Eisen & Kupfer & Zinn & Blei in seine Hände, schaute nachdenklich darauf & machte entschieden etwas daraus. Unter seinen traurigen Augen & in seinen rauen Händen wurden Rohstoffe in die Welt der eindeutigen Bedeutungen erhoben.

Die Werkstatt war klein. An den Wänden hingen Werkzeuge, auf einer Werkbank standen Gasbrenner & Amboss, in einer Ecke gab es Körbe mit Schrauben, Muttern, Stangen, Röhren, Bolzen – alles richtig kleine Sachen. Mein Großvater war auf klein eingerichtet & zwischen den Kleinigkeiten bewegte er sich geschmeidig wie eine Katze. Er verstand sich nicht als ein einfacher Handwerker, sondern eher als ein Erfinder, was sich daran zeigte, dass er immer einen dreiteiligen Anzug trug, auch in der Werkstatt.

Er rauchte ständig Zigarren. Über der Werkbank & den Werkzeugen & den Gegenständen-im-Entstehen schwebten Rauchwolken, die irgendwie unsichtbare höhere Ebenen repräsentierten, so, als ob mein Großvater mit seinen Augen in das rauchige Weben schaute & dort die Gegenstände fand, die er eine Etage tiefer mit seinen Händen konstruierte. Als ich Jahre später den Begriff „Alchemist“ kennen lernte, dachte ich sofort an meinen Großvater.

In seiner Werkstatt war mein Großvater sehr-sehr-sehr bei sich. Er war in seinen Anzug & seine Zigarre & seine Hände & die Gegenstände-im-Entstehen versunken. Auf mich – ich stand klein in einer Ecke & schaute mit angehaltenem Atem zu – achtete er gar nicht mehr; ich fühlte mich eher wie ein Bestandteil einer vergessenen Welt, die er als Umfeld seiner Konzentration unbemerkt erzeugte.

Zwei Jahre war er damit beschäftigt, eine Miniatur-Dampfmaschine zu bauen. Nein, ich weiß noch immer nicht, wie er das schaffte, aber es ist wahr: unter seinen Händen entstanden winzige Röhrchen & winzigen Hähnchen, die er auf einer Kupferplatte befestigte & die sich über elegante Kurven fortsetzten, bis zu einem Fässchen, wo Dampf raus kam. Und irgendwo in der Mitte wurden Rädchen in Bewegung gesetzt. Als die ganze Maschinerie nach sechs Monaten richtig funktionierte, schaute er immer wieder nachdenklich darauf & lächelte.

„Mal schauen“, sagte er einmal, „was du mit deinen Händen machen kannst.“ Er gab mir eine Handvoll zerbrechlicher Röhrchen aus Kupfer und dazu noch winzig kleine Verbindungsstücke, die so klein waren, dass man eigentlich eine Lupe brauchte, um sie richtig zu sehen. Sie lagen vor mir auf einer Holzplatte. „Mach´ mal einen schönen Kreis daraus“, lautete der Auftrag.

Aber ich schwitzte & schwitzte. Ich war hilflos & wusste nicht einmal, wie ich die fast unsichtbaren Gegenstände mit meinen Fingern anfassen sollte. Mir schienen sie unberührbar zu sein. Der Auftrag meines Großvaters brachte mich in einen Bereich, in dem ich nicht zu Hause war & auch nicht zu Hause sein wollte. Und mein Großvater sagte geduldig: „Du vergisst zwei wichtige Sachen: du atmest nicht ruhig & du schaust nicht hin. Du willst etwas tun, bevor du die Dinge wirklich gesehen hast. Deine Hände sind nicht mit deinen Augen verbunden.“

Und so ist es mein ganzes Leben geblieben: mich auf die Genauigkeiten des Physischen einzulassen, tut richtig weh. Physische Präzision erzeugt Schmerzen in meiner Seele. Es ist, als ob dazu eine Verlangsamung & Distanzierung benötigt wird, die sich für mich wie Sterben anfühlt. In dem Zusammensein mit den Genauigkeiten des Physischen scheine ich mich zu verlieren. Dass das offenbar nicht so sein MUSS, hat mir aber mein Großvater gezeigt.

15.09.2009

Wahrheit und Dichtung in der Biographie. Über Penner und Kapitäne

Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln sprach Henning Köhler letztes Wochenende über Aggressionen bei Kindern. Wir waren mit etwa fünfzig Leuten zusammen & hörten zu & mischten uns ein. (Warum ich Henning Köhler als Lehrer bewundere, habe ich schon einmal in einem Blog beschrieben. Er schafft es immer, die Philosophen in seinen Zuhörern wachzurufen, das heißt: er vermittelt nicht nur bestimmte Inhalte, sondern er weckt auf.)

Im Fluss seiner Ausführungen tauchte auf einmal ein Thema auf, dass mich schon länger beschäftigt. Henning Köhler erzählte von einem Jugendlichen, der seinen Vater gar nicht kannte & doch seinen Freunden immer wieder fröhlich mitteilte, dass dieser „Seekapitän“ sei & mit seinem Schiff über die Ozeane führe. Als eines Tages ein Treffen zwischen dem Vater & dem Jungen organisiert wurde, entpuppte der herumreisende Seekapitän sich lediglich als Penner.

Die beiden machten einen langen Spaziergang & sprachen miteinander. Als sie zurückkehrten, war der Junge glücklich. Der Vater verschwand wieder für immer & der Jugendliche sprach weiterhin fröhlich davon, dass sein Vater ein Seekapitän sei, der mit seinem Schiff über die Ozeane führe. Aus irgendeinem Grund schien er einen Penner als Vater nicht zu brauchen.

Der Vater war also gar kein Kapitän. Oder war er irgendwie doch ein Kapitän? Wenn es um die Tatsachen unserer Biographie geht, benehmen wir uns wie moderne Menschen, die meinen zu verstehen was Geschichte heißt. Wir verhalten uns nicht nur wie private Historiker, sondern gleichzeitig auch wie Quellen. Wenn ich sage, dass ich bei Arnhem geboren bin, wird mir das abgenommen – ich meine: niemand wird meine Aussage in Frage stellen.

Die Aussage, dass ich bei Arnhem geboren bin, beinhaltet aber eine interessante Spannung. Am liebsten sage ich eigentlich, dass ich in Gelderland geboren bin; und das stimmt durchaus auch, aber irgendwie auch wieder nicht. Ich bin nämlich in Doesburg geboren, einer Kleinstadt nicht weit von Arnhem, die in der niederländischen Provinz Gelderland liegt. Weil ich Doesburg ein-kleines-bisschen-eigentlich-nicht-so-sehr mag, Arnhem aber schon viel mehr & Gelderland so richtig liebe, bekenne ich mich gerne zu dieser Provinz.

Doesburg fühlt sich irgendwie wie ein dunkles Loch an, wo ich unbemerkt heraus gekrochen bin. Wenn ich aber an Gelderland denke, zeigt sich sofort eine sonnige Fülle: der Veluwe mit seinen endlosen Wäldern & Legenden & strahlend-offenen Sandhügeln, der Betuwe zwischen den Großmächten Rhein & Waal & Maas, der Achterhoek als „Hinter-Ecke“ - dort findet man uralte schlafende Dörfer, die sich nicht von weltlichen Ereignissen beeinflussen lassen.

Gelderland ist mein Kapitän & Doesburg mein Penner. Nun könnte-müsste-dürfte man an dieser Stelle die Frage stellen, ob ich nicht eigentlich die Neigung habe, meine Vergangenheit ein kleines bisschen zu verleugnen. Die Antwort lautet natürlich: „Ja“. Dieses „Ja“ heißt aber nicht, dass ich nicht sagen dürfte: ich bin „bei Arnhem“ oder eben „in Gelderland“ geboren. Die Gesetze, die für Reisepässe gelten, sind nicht unbedingt auch für Biographien zuständig. Und ich verstehe das auch: wenn ein Beamter mich fragt, wo ich geboren bin, sage ich einfach: „Doesburg“ (und sofort füge ich hinzu: „Nein, nicht Duisburg! D-O-E-S-B-U-R-G, das gibt’s ja auch, liegt allerdings in den Niederlanden!“)

Wir komponieren unser Leben nicht nur nach vorne in die Zukunft hinein, sondern auch rückwirkend bis in unsere Vergangenheit. Ständig sind wir damit beschäftigt, das was gewesen ist, neu zu benennen & eben neu zu gestalten. Man könnte diese konstruierende Tätigkeit auch ein Umlügen nennen – ein schönes Wort, womit die Sache sofort auf einen Punkt gebracht wird.

Wenn der Jugendliche behauptet, sein Vater wäre ein Seekapitän, lügt er dann? Auf der historischen & juristischen Ebene natürlich: „Ja“. Auf der legendarischen & poetischen Ebene aber: „Nein“. Die Frage an dieser Stelle kann nur sein: was macht seinen Vater-der-Penner zu einem Kapitän?

Was ist ein Penner? Ich weiß es immer noch nicht so genau. Mir scheinen Penner aber Menschen zu sein, die auf irgendeine Art & Weise sehr intensiv mit etwas ganz Bestimmtem beschäftigt sind. Wenn ich einen Penner sehe, denke ich immer: Herr, was ist deine Mission? Er wendet sich ab von mir & von allen & von allem & scheint sich auf gar nichts einzulassen. Innerlich aber scheint er sich auf unbekannte & ungreifbare & konfuse Koordinaten zu konzentrieren. Penner sind seelisch unterwegs. Sie machen Reisen, die ich nicht kenne & nicht verstehe – ja, irgendwie sind sie schon Seekapitäne.

(Und ach ja, natürlich, John. F. Kennedy damals: „Ich bin ein Berliner!“)

07.09.2009

"Der Rhein gehört zu meinem Leben". Über Basel, Köln und Amsterdam

Der Rhein ist ein komplexes System. Bei Schaffhausen & Basel & Freiburg bietet er die Vorstellung von reinem Willen an – dort braust & plätschert & springt sein Wasser. Ab Breisgau fängt er langsam an, sich selbst zu ergreifen & irgendwo hinter Mainz bereitet er sich auf den Zustand des Gleichgewichts vor. Kurz nach der Loreley kriegt der Rhein seine eigene Kurve & kreiert eine Ausgewogenheit, die in Köln vollständig ausgebildet ist. Ab Arnhem gerät der Rhein in die niederländische Diaspora: er wird langsamer & spaltet sich großzügig & verfeinert sich allmählich in tausend stille Fasern & ähnelt damit dem menschlichen Gehirn.

Der Rhein gehört zu meinem Leben. Ich habe seine kräftige Ruhe in Arnhem kennengelernt, der Stadt meiner Jugend. Dort habe ich gesehen, wie er gelassen an den Ruinen des zweiten Weltkrieges vorbei floss, so, als ob es sie nicht gäbe. Und beim Schloss Doorwerth habe ich seine Offenheit gesehen: er fließt da mächtig-aber-still unter dem Himmel um des Himmels Willen. Bei Arnhem scheint der Rhein sich in ein Sinnesorgan zu verwandeln.

Ich bin an seinem schönsten Seitenarm geboren, an der IJssel, bei Doesburg. Dort habe ich gelernt, wie man Hechte & Zander & Brachse fängt. Ich habe das Leben auf den Rheinkähnen beobachtet, diese tiefen Schiffe, die vollgeladen fast unter der Wasseroberfläche verschwinden, ohne zu sinken; die Menschen auf Deck schienen mir immer doppelt unterwegs zu sein: von Arnhem nach Kampen oder umgekehrt & weg von den überschlagenden Wellen an Bord, hin zu den trockenen Kajüten.

Und in den Jahren, in denen ich in Zutphen lebte, habe ich die Sprache des Rheins gehört. So horizontal er sich auch benahm, so vertikal war seine Sprache ausgerichtet. Er hörte immer auf die Wolken & den Himmel & den Wind & die Möwen, die in einem Vierklang sagten: bei uns hier oben bewegt sich etwas, das sich gerne in dir, du schlafender Einwohner von Zutphen, fortbewegen möchte.

Auf dem IJsselmeer, wo sich ein Viertel des Rheinwassers sammelt, bin ich mit kleinen Schiffen gesegelt & habe verstanden, wie man sich mit dem Wind & den Wasserströmen unterhält. Sehen & Hören werden dort eins. Auf dem Binnenmeer bin ich auch dem Wikinger Olof begegnet, der in einen wilden Sturm geraten war & verzweifelt Christus versprach eine Kapelle zu bauen, falls er überleben würde. Er überlebte & stiftete Amsterdam & Amsterdam & die Olofkapelle gibt es noch immer.

In den Grachten von Amsterdam habe ich gesehen, wie das Wasser des Rheins in eine nachdenkliche Stille versetzt wird. Zwanzig Jahre in Amsterdam zu leben, heißt auch: sich bemerkt oder unbemerkt der spiegelnden & verwandelnden Einkehr des Wassers aus Deutschland zu widmen. Vor allem an den herbstlichen Abenden, zwischen fünf und sieben Uhr, schimmert ein Hauch von Gold im ruhenden Wasser – als ob etwas von unten aus der Erde nach oben glüht & sich sichtbar-unsichtbar zeigt.

Rembrandt Harmensz. van Rijn hat dieses goldene Flimmern wohl gesehen; und der große niederländische Dichter Joost van den Vondel – er lebte auch in Amsterdam, wurde aber in Köln geboren – hat es wohl gehört. In seinen Gedichten spricht oft die melancholisch-goldene Abschiedsstimmung des Rheins, die dadurch entsteht, weil die Menschen das Wasser für eine Weile künstlich zurückhalten, bevor es sich in den Atlantik verliert. Joost van den Vondel nahm nur das Leben ernst, das vom Tod berührt war.

Nicht umsonst wird von Amsterdam gesagt: die Stadt ist andauernd im Versinken.

Letzten Endes habe ich in Köln den Rhein als Herz kennen gelernt. Irgendwo zwischen der Loreley und Köln scheint der Rhein in sich selbst aufgehoben zu werden & seine Mitte zu finden. Sein Stauen & Klopfen & Fließen wird kräftig-aber-gehalten, als ob er eigentlich nichts mehr tun muss, um zu sein was er ist: Rhein. Um zu sich zu kommen, braucht er sich nicht impulsiv nach vorne zu drängen oder sich nachdenklich zu erinnern was er mal war.

31.08.2009

Die Schweine in Pamplona Alta. Über eine Gemeinschaft

In den Jahren, als ich immer wieder nach Lima geflogen bin, arbeitete die herrlich schreckliche Metropole an mir. Ich erinnere mich an die Schweine im Armenviertel von Pamplona Alta. Über dem ganzen Viertel hing ein Gestank, der sich tief in meinen Körper hinein bohrte & dazu führte, dass ich mich verschloss. Ich zog mich weit in mich zurück & konnte nur noch distanziert hinschauen.

Unter Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten, die über mehr als zehntausend Quadratmeter mit wackeligen Pfählen mehr oder wenig hoch gehalten werden, wurden hunderte von Schweinen gezüchtet. Der matschige Boden bestand aus Pisse & Scheiße; hier und da rotteten unbeachtet Schweinkadaver; Millionen von Fliegen bildeten Wolken, die auf die wenigen Stellen, auf die ein bisschen Sonnenlicht fiel, Schatten warfen. Zwischen den Schweinen gingen schweigende Männer barfuß herum, die mit Stöcken eine gewisse Ordnung bewahrten.

Wie wird man mit solchen Bildern fertig? Über die Empörung hinaus öffnete die Vorstellung einen hellen Raum in mir, in dem Totenstille herrschte. Dort standen Wahrheiten-ohne-Schatten, aufgebahrt wie regungslose Skulpturen unter senkrechtem Licht: die Grausamkeit des Instrumentalisierens der Tiere & die Notwendigkeit des Überlebens der Menschen & die Sinnlosigkeit der moralischen Urteile & das verzweifelte Verneinen von Bedeutungen & die unbegründete Hoffnung auf Humanität.

Licht ist manchmal hart. Kaltes Licht-von-oben treibt die Wahrheiten auseinander. Kaltes Licht tötet die Berührung & Beziehung & Verwandlung. (Meinte Friedrich Nietzsche nicht: das kalte Licht-der-Wahrheit zerstört Freundschaften?) Das kalte Licht hat eine düstere Quelle, die weit entfernt von uns seine Heimat hat, dort, wo die Sterne sich von uns wegbewegen, bis in ein Nichts, das noch nie berührt wurde & sich mit dem ständigen Näherkommen der Himmelskörper weiter zurückzieht & rückwärts ausweitet & den Raum-des-Nichts exponentiell vergrößert.

Die dunkle Gemeinschaft von Schweinen & Männern in Pamplona Alta ist ein Loch in der Menschlichkeit. Wenn ich drauf schaue, weiß ich nicht einmal, was ich sehe. Die Bilder-in-mir werden wie gefroren kaltgestellt & fixiert aufbewahrt in einem Raum, den ich nicht betreten kann. Und durch Frostfenster blicke ich dort hinein & beruhige mich dadurch, dass ich mir sage: die Schweine & Männer in Pamplona Alta sollte es nicht geben.

Was es aber auch gibt ist: ein warmes Licht, das die Wahrheiten verfließen lässt & entlarvt & ihnen ihren Stachel nimmt & noch bevor sie uns erreichen in Träume & Legenden & Nachrichten verwandelt. Die Quelle dieses Lichtes ist die Sonne. (In diesem Licht ist irgendwann einmal die Philosophie geboren worden, diese merkwürdige & paradoxe menschliche Tätigkeit, die zur Empfindung von Klarheit führen sollte. Geboren am Mittelmeer, groß geworden in dem großflächigen Land der Franken & ohnmächtig geworden auf der Insel mit der weiten Aussicht auf den unergründlich singenden Atlantik, weiß sie nicht mehr, was sie bringen darf: Wärme oder Kälte.)

In diesem sterbenden Licht steht mein Begleiter August. Er hebt seinen Kopf über die Philosophie hinaus, steigert seine Gedanken bis ins Poetische & berührt immer wieder mein Herz. Er sagt, was ich nicht denken kann. Über die Schweine & die Fliegen & die Scheiße & die Männer & die Salsa-Musik in Lima sagt er:

„Jelle, du hast recht, es ist eine Gemeinschaft. Auch wenn du es nicht denken kannst: die Tiere & die Menschen bilden dort eine gemeinsame Welt. In der Dumpfheit suchen sie eine Beziehung zu einander. Unter den Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten vermischen sich das Elend der Menschen & das Elend der Schweine.“

Und: „Verstehe dich bitte nicht als einen zufälligen Passanten, der mit der Schweinerei nichts zu tun hat. Du warst doch da? Du hast es doch gesehen? Du bist also voll beteiligt. Aus dem einfachen Grund, weil die Schweine & die Männer & die Schatten der Fliegen in dir herumgehen - du würdest sagen: in deinen Erinnerungen - bist du ein Mitglied dieser dunklen Gesellschaft geworden.“

Mit Dank an Sophie Pannitschka

26.08.2009

Von Vergangenem

Ich falle zurück
in die alte Sprache
der Sänger
des alten Glücks.

Mir sind die alten
Klänge genug,
die alten Träume
auch, sie blühten.

Die Wüste heiße ich
willkommen, denn Dürre
in alten Geschichten
verhieß Wachstum.

Ich preise den Fluss
und die Ufer,
denn einst waren sie
Übergang.

Ich zeichne den Berg
voll und ganz
denn hoch stand er
einst lachend.

Der letzte Friede
ist im Mond
der weint. Sein Schicksal
trägt den alten Namen

von Vergangenem.

(Zweite Fassung)
Übersetzt von Peer und Andrea. 23.08.2009

24.08.2009

Von Was ist vergangen

Ich falle zurück
in die alte Sprache
der Sänger
des alten Glücks.

Mir sind die alten
Klänge genug,
die alten Träume
auch, die blühten.

Die Wüste heisse ich
willkommen, denn Dürre
in alten Geschichten
verhiess Wachstum.

Ich preise den Fluss
und die Ufer,
denn einst waren sie
Übergang.

Ich zeichne den Berg
voll und ganz,
denn hoch stand er
einst lachend.

Der letzte Friede
ist im Mond
der heult. Sein Schicksal
trägt den alten Namen

von Was ist vergangen.

Übersetzt Peer und Andrea. 23.08.2009

23.08.2009

Van wat is vergaan

Ik val terug
in de oude taal
van de zangers
van oud geluk.

Mij zijn de oude
klanken genoeg,
de oude dromen
ook, die bloeiden.

De woestijn heet ik
welkom, want droogte
in oude verhalen
betekende groei.

Ik prijs de rivier
en de oevers,
want ooit waren zij
overgang.

Ik teken de berg
ten voeten uit,
want hoog stond hij
eens te lachen.

De laatste vrede
is in de maan
die huilt. Haar lot
draagt de oude naam

van wat is vergaan.

17.08.2009

August und Merel. Über ein Loch, Melancholie und Licht

August habe ich kennengelernt, als ich vor einigen Jahren im Krankenhaus war. Es war Hochsommer, die Stadt um mich herum badete in Licht & Wärme, und ich hatte gerade einen Herzinfarkt erlitten. Ich war ganz & gar nicht draußen, sondern bei mir, sehr nahe bei mir, irgendwie bei einem schwarzen Loch in mir, das sich in meiner Brust befand. Mein Herz, so meinte ich, war zerbrochen – und was sich offenbarte, war eine Öffnung in die Dunkelheit.

Ich starrte ins Schwarze. Das Loch schien mich einzuladen, es sagte: „Ich bin eine Grube, bitte fahre in mich ein“. Ich wollte das aber nicht, weil ich irgendwie spürte, dass ich mich in der Dunkelheit verlieren würde – das Loch schien mir bodenlos zu sein, ohne Treppen oder Durchgänge oder Rastplätze. Hinter dem Loch, befürchtete ich, gab es nur noch das Nichts.

Das Loch übermittelte mir gnadenlos eine schlechte Nachricht: „Du hast nicht richtig gelebt & du bist deswegen selber schuld.“ Doch gab es noch etwas. Ganz tief unten, wo meine Füße standen, herrschte sanft & kaum bemerkbar eine merkwürdige Stimmung, eine Art Sehnsucht, die sich am besten mit den Wörtern bitter & süß beschreiben lässt. Irgendetwas in mir & bei mir & neben mir verbreitete ein bitter-süßes Verlangen, das wie eine leise Bejahung wirkte, eine Verführung ins Nichts.

Als ich nach Tagen & Tagen endlich auf diese Stimmung da ganz unten schaute, sah ich eine kleine schwarze Gestalt, die genauso gut ein Vogel hätte sein können, weil sie sich wie ein lebendiger Haufen glatter Federn anfühlte. Und weil sie außerdem auch einen Schnabel hatte, der orange war, schien die Gestalt mir eine Amsel, oder mindestens mit dem bitter-süßen Singvogel verwandt zu sein.

In meiner Muttersprache heißt die Amsel „Merel“. Und Merel sagte: „Du hast mich erst nicht bemerkt, weil ich in deinem Schatten bin.“ Und ich meinte: „Ich habe gar keinen Schatten. Ich sehe nur ein schwarzes Loch.“ Und Merel: „Das Loch bist du. Warum hast du dich vom Sommerlicht abgewendet? Warum schaust du nur noch nach unten?“ Und ich: „Tue ich das?“ Merel: „Das Licht ist hinter dir. Bitte, drehe dich um!“

Als ich mich umdrehte, stand da groß & weit & blendend eine lächelnde Gestalt, die alles was ich draußen gelassen & vergessen hatte, zusammenzog & verdichtete & mir großzügig präsentierte. Und weil ich mir sicher war, dass die Gestalt ein Sommerwesen war, nannte ich sie „August“.

Seitdem lasse ich mich von August begleiten. Mittlerweile weiß ich, dass er viele Gesichter hat. In gewissem Sinne ist er sehr bescheiden & manchmal sogar fahrlässig, weil er sich nur einmischt, wenn ich nachdrücklich darum bitte. Er meldet sich nie von sich aus & ohne meinen Willen würde er quasi nicht existieren. Auch wenn das Loch sich in mir ausbreitet & ich dringend seine Hilfe brauche, bleibt er auf Distanz.

Wenn ich aber etwas von August erbitte, steht er sofort zur Verfügung & schenkt mir aus seiner Fülle immer wieder sommerliche Einblicke in das Leben, in die Welt, in mich. Seine mächtige Perspektive hat eine ganz bestimmte Qualität: er befindet sich immer in dem wunderbaren Übergang zwischen Blühen und zur Fruchtbildung neigen. Egal was ist, sein Blick sieht strahlende Blumen (immer mit einigen summenden Hummeln drum herum) & in den Blumen sieht er den Ansatz für die Samenbildung.

In der Neigung von der Blüten- zur Fruchtbildung wirkt ein Hauch Melancholie, ein „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß!“ Im Vordergrund steht aber immer das große Vertrauen in Vorgänge, Ereignisse, Abläufe. August braucht eigentlich fast gar nichts, um gerade in der Neigung zum Abschied einen neuen Anfang zu erleben. So etwas Absolutes wie „aufhören“ & „verschwinden“ & „nichts“ gibt es in seinem Blick nicht. August sieht nur „alles“.

Die Frage wie & wo & warum August existiert, finde ich mühselig. Weil ich gerne Dichter bin, bleibe ich bei der einfachen Antwort, dass er meine literarische Schöpfung ist. Ich habe zwar nichts dagegen, ihn einen Engel zu nennen, bin mir aber nicht so sicher, ob dadurch nicht nur Missverständnisse erzeugt werden. Ich habe August einmal gefragt, ob er ein Engel wäre – er antwortete lachend: „Natürlich, natürlich, wenn du das magst! Bitte!“

03.08.2009

Die Verlangsamung zur Freiheit. Über die Lage der SPD

Mir ist nicht klar, worauf die SPD zusteuert. Irgendwie scheint der Begriff der Solidarität im Denken der Sozialdemokraten noch immer wichtig zu sein – unklar ist aber (geworden), wen die Solidarität betrifft. Die Arbeiter? Die Arbeitslosen? Die Armen? Die Schwächeren? Oder einfach die Bürger? Was der SPD fehlt, ist eine Vorstellung davon, welche Probleme die Menschen im Moment eigentlich haben.

In einem Papier, geschrieben für die „Grundwertekommission“ der SPD, schreiben Hans-Peter Bartels, Johann Strasser & Wolfgang Merkel, dass die Freiheit bedroht wird. Sie sehen in den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen eine direkte Bedrohung der bürgerlichen Freiheit. Nun darf es erst einmal eine Überraschung sein, dass gerade die Sozialdemokraten sich um die Freiheit kümmern – wäre das nicht eher ein Thema der FDP?

Wenn man den Text der drei Autoren liest, wird aber verständlich was gemeint ist. Das Papier geht über die üblichen Missverständnisse in Bezug auf die Frage der Freiheit hinaus. Ein Zitat: „Auch für Sozialdemokraten gilt: Der Referenzpunkt der Freiheit ist das Individuum. Das Individuum muss sich selbst als moralisches Subjekt, als eigenen Autor seines Lebens erkennen können. Dies erfordert eine Liste substantieller Freiheiten“. (Mit „substantiellen Freiheiten“ ist ein Begriff von Amartya Sen gemeint.)

Die drei Sozialdemokraten sehen die Bedrohung der Freiheit in einem Arbeitsethos, der in unserer Kultur in den letzten Jahrzehnten schleichend überhandgenommen hat. Noch ein Zitat: „Der Haken an der schönen neuen Arbeitswelt in der sogenannten Wissensökonomie, ist der Zwang zur Internalisierung ökonomischer Prinzipien und Herrschaftsstrukturen, ist die Tendenz zur Selbstüberforderung und zur Selbstinstrumentalisierung der Arbeitenden“.

Und: „Es ist der immense Druck, unter den die Arbeitenden geraten, wenn sie den objektivierten Kriterien größtmöglicher Effizienz in einem System universeller Konkurrenz genügen müssen. Ein Druck, der oft an die anderen im Team weitergegeben wird und nicht selten dazu führt, dass die weniger Leistungsfähigen gemobbt und am Ende hinausgemobbt werden“. Man könnte es auch einfach so sagen: „Immer Leistung, Leistung, Leistung... Macht das noch Spaß?“

Diese Analyse ist richtig. Eine sehr effektive Art und Weise den (freien) Geist zu töten ist, die Leute müde & leer & blass zu machen. Der offensichtlich selbst gewollte Arbeitsdruck führt dazu, dass die Beteiligten keine innere Beziehung mehr zu den Aufgaben haben. Und ohne innere Beziehung, keine Freiheit. Mit Michel Foucault muss man tatsächlich sagen: die Herrschaftsstrukturen sind internalisiert, das heißt: niemand außer mir hat noch die Verantwortung. Das berufliche Subjekt knechtet das Selbst.

Die SPD hat diesbezüglich ein Problem. Mir scheint der Chef Franz Müntefering den Inbegriff der Tüchtigkeit & des Anpackens & des Peitschens zu repräsentieren. Er scheint eben noch kräftiger als Guido Westerwelle sagen zu wollen: wir legen noch eines drauf! Was aus seiner Sicht ganz und gar nicht geschehen darf, ist, dass die politische Führung der SPD etwas wie Schwächen & Verunsicherungen & Intelligenz zeigt.

In seinem Schatten steht der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier. Er ist wahrscheinlich ein ganz guter Administrator & intelligent & zu höflich, um Angela Merkel mit ihren Schattenseiten zu konfrontieren. Auf mich wirkt Steinmeier so, als ob er für das harte politische Handwerk zu nett wäre.

Weil ich Holländer bin, darf ich in Deutschland leider nicht wählen. Ich würde aber bestimmt einen Steinmeier wählen wollen, der offen & frei & lächelnd von seinen netten Unsicherheiten spricht. Ich wünschte mir eine SPD, die auf die drei genannten Sozialdemokraten hört & von Verlangsamung zur Freiheit redet. Damit wäre auf der politischen Ebene endlich endlich endlich das richtige Thema angesprochen. Steinmeier müsste sich dazu erst von Müntefering befreien. Aber dazu ist er wahrscheinlich zu nett.

27.07.2009

Ikonen kann man nicht berühren. Über Gegenstände

In seinen Duineser Elegien schreibt Rainer Maria Rilke: “Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar/ in uns erstehn – Ist es dein Traum nicht, / einmal unsichtbar zu sein? – Erde! Unsichtbar!/ Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?“ Diese Sätze beinhalten meines Erachtens eine der stärksten Imaginationen aus der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ich verstehe Imaginationen als Bilder, die eine Wirkung erzeugen, die über das rationale Verstehen hinaus gehen. In Imaginationen wird eine umfassende Wahrheit verspürt, die in ihren Einzelheiten noch nicht durchschaut werden kann. Bevor unsere Köpfe mitmachen, werden unseren Herzen durch Imaginationen erfasst.

Das Bild von Rilke in seinen Elegien ist groß & weit & tief. Gesprochen wird von einer Erde, die etwas will, nämlich “unsichtbar in uns erstehn”. Die Erde scheint auf die Menschen zu warten, bis sie ihre Aufgabe verstanden haben – der Dichter hat aber offensichtlich schon begriffen, was von ihm verlangt wird: “Erde, du liebe, ich will” schreibt er noch, und: “Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen”.

Der Dichter der Elegien versteht sich als Geliebter der Erde. Er geht eine Beziehung an, die von der Erde gesucht wird. Er akzeptiert ein stilles-aber-leidenschaftliches Angebot. Anders gesagt: die Erde braucht “uns” um ihren “drängenden Auftrag” zu erfüllen – ohne die Herzen der Menschen ist für sie keine Verwandlung möglich. Und der Dichter stellt sein Herz zur Verfügung.

Was mich in dieser Imagination immer wieder trifft, ist die Tatsache, dass die Erde und die Menschen getrennt sind. Die Menschen sind nicht Erde. Groß & weit & tief ist die Vorstellung, dass die Menschen zwar auf der Erde verweilen, allerdings nicht zu ihr gehören. Die Menschen haben etwas, was die Erde nicht hat. Und gerade weil dies so ist, bekommt die Beziehung eine umwerfende Bedeutung.

Die Erde will also „unsichtbar“ werden. Was kann damit gemeint sein? Unsichtbar kann nur werden, was sichtbar ist. Rilke spricht also von einer Welt die wir mit unseren Augen wahrnehmen, das sind: Bäume & Tiere & Städte & Fahrräder & Skulpturen & Landschaften & Ikonen & Steine & Gesichter... Er meint, dass in diesen sichtbaren Gegenständen ein Drang lebt oder wirkt oder schlummert „unsichtbar“ zu werden.

Wenn unsichtbar „nicht sichtbar“ heißt – bedeutet dies zwei Dinge: erstens, dass die Gegenstände auf der sichtbaren Ebene aufhören zu „sein“. Man könnte an dieser Stelle auch sagen: die Dinge müssen sterben. Ich kenne nur eine Sichtweise, die besagt, dass die Erde tatsächlich einmal sterben wird, nämlich die esoterische.

Zweitens bedeutet es, dass die Gegenstände in einer unsichtbaren Form weiter existieren. Auch diese Vorstellung findet man in esoterischen Betrachtungen. In esoterischen Fachbegriffen formuliert: die heutige Erde wird vergehen & in einer neuen „ätherischen“ Gestalt wieder neu geboren werden. In der esoterischen Literatur wird diese neue Erde „Jupiter“ genannt.

Nun ist die Vorstellung, dass die gegenständliche Erde sich im Verschwinden befindet, vielleicht verrückt – tatsächlich aber ansatzweise öfters durch ernst zu nehmende Philosophen gedacht. Martin Heidegger zum Beispiel kommt in seinen Texten manchmal fast dazu zu sagen: Gegenstände existieren eigentlich nicht.

Er meint damit, dass es das Bewusstsein der Menschen ist, das bestimmt ob etwas als ein Gegenstand „anerkannt“ wird oder nicht. Dazu kommt noch, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Vorstellungen von einem konkreten Gegenstand haben. Eben einfache Gegenstände wie Messer & Löffel & Gabeln schwimmen in den unterschiedlichsten Vorstellungen der Menschen.

Und da fängt die Unsichtbarkeit schon an. Die Handgreiflichkeit der Dinge ist nicht identisch mit der Gegenständlichkeit der Dinge. Ob ein Ding ein Gegenstand ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ich das Ding berühren kann oder nicht. Stärker noch: gerade die Unberührbarkeit der Dinge macht oft ihre Bedeutung aus. Auch wenn man mit seinem Finger die Farbe betastet, kann man nicht behaupten: ich habe eine Ikone berührt.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

20.07.2009

„Jonas und die Kinder der Mühle“. Eine Erzählung von Jessica

Jonas lebte ganz alleine, weil seine Eltern schon früh gestorben waren. Er fühlte sich oft einsam. An einem wunderschönen Sommertag ging er alleine wandern. Er lief durch Wälder und Felder und über Wiesen. Er liebte die Natur.

Bis er zu einer alten aber hübschen Mühle kam. Er wunderte sich, da das Tor aufstand. „Merkwürdig“ dachte er „ das macht man doch nicht!“. Da er neugierig war, ging er rein und sah sich dort um. Es war ein prachtvoller Anblick für ihn, ein großer sehr gepflegter Garten, mit vielen schönen Blumen war dort. Es gab Hühner zu sehen, ein Bach und vieles mehr. Das Gebäude war mit alten schönen Steinen gebaut. „Früher mal war dies bestimmt eine Mühle, heute jedoch benutzte man diese bestimmt nicht mehr dafür“, dachte er . Aber nirgends war auch nur ein Mensch.

Er ging in das Haus hinein, und rief: „Hallo, ist hier jemand?“, aber niemand antwortete. Jonas beschloss sich im Haus umzusehen. Er ging in alle Räume, es gab eine große Küche, ein Wohnzimmer, mehrere Badezimmer und viele andere Zimmer, wo man sah, das sie Kindern gehören müssten. Es gab auch einen alten Mühlstein und noch viele andere Dinge. Aber einen Menschen hatte er immer noch nicht gesehen.

Am Ende seiner Besichtigung ließ er sich in der Küche nieder und guckte in den Kühlschrank. Dort war unter anderem eine Flasche Bier, die er aufmachte und leertrank, da er sehr durstig war. Gerade als er wieder gehen wollte, kam ein Hund herein und versuchte ihn mitzunehmen. Jonas verstand das nicht, ging dann aber doch hinter dem Hund her. Der Hund führte ihn zum Bach wo eine Brücke war – ein Baumstamm über das Wasser – und sah Jonas anfordernd an. Also ging Jonas über die Brücke, während der Hund durchs Wasser ging.

Gerade als er zur Hälfte über die Brücke gegangen war, hörte er etwas hinter sich zischen. Er drehte sich langsam um und erschrak als eine kleine rundliche angsteinflössende Frau direkt hinter ihm stand. „Wer sind Sie?“ fragte er erschrocken. Sie antwortete mit einem zischen in der Stimme: „ Das Selbe könnte ich dich fragen“. Er antwortete „Ich bin Jonas, und bin hier in der Gegend gewandert, da traf ich auf diese alte Mühle und wunderte mich da keiner da war, ich sah mich ein bisschen um und... Wohnen Sie hier?“

Das kann man wohl sagen“, antwortete die Frau, „und wenn du hier nicht bald verschwindest, werde ich dich hier eigenhändig weg schaffen“. Jonas kam das Ganze sehr merkwürdig vor und er beschloss noch zu bleiben und sich noch was um zugucken. Als er ihr das sagte, schubste sie ihn unerwartet in den Fluss. Er blieb eine Weile reglos im Bach liegen, bis er sich sicher war, dass sie verschwunden war. Dann ging er leise und vorsichtig auf die andere Seite des Flusses, wo der Hund auf ihn wartete.

Er ging dem Hund hinterher. Nachdem sie eine weile gegangen waren, erblickte er eine Burg. Nicht aus Stein, wie man sich eigentlich eine Burg vorstellt, nein, diese hier war aus Holz und sehr klein. Er ging in die Burg und hörte leise stimmen von oben. Er sah das vor einer Tür ein Schloss war, aber es war nicht abgeschlossen. Jonas öffnete das Schloss und ging hinein.

Dort waren vier kleine Kinder, drei Mädchen und ein Junge und ein älteres schönes Mädchen. Sie viel ihm direkt auf, sie trug ein schlichtes aber sehr hübsches Kleid, was ihrer Figur hervor brachte. Die Kinder sahen ihn erstaunt an und fingen an laut herum zu reden. Das älteste Mädchen sagte zu ihm „Ich bin Katarina und das sind meine jüngeren Geschwister, aber wer bist du?“

Sie sah ihn fragend an und er antwortete „Ich heiße Jonas, ich bin hier zufällig vor bei gekommen und habe mich umgeschaut und...“ Er erzählte ihr die ganze Geschichte und Sie sagte ihm dann: „ Ja wenn das stimmt was du gesagt hast ist die Hexe jetzt weg, da du uns befreit hast, sie wollte nämlich unser Haus da es sehr wertvoll ist, ich bin dir sehr dankbar.

Und dann schauten sie sich tief in die Augen und gingen Hand in Hand in den Sonnenuntergang.

(Aachen. Sommer 2009)

13.07.2009

Die alte Mühle. Über einen Stein, einen Bach, Esel, Menschen

In einer landschaftlich verborgenen Nische, direkt bei Aachen, steht eine alte Mühle. Ihr großer schwarzer Mühlstein arbeitet längst nicht mehr. Er ruht mit seinem vollen Gewicht auf dem Boden des Zimmers, wo er sich abgemüht hat. Wenn man auf den Stein schaut & innerlich schweigt & lauscht, offenbart sich ein enormes Gedächtnis, das aber ohne Jahreszahlen funktioniert. Der Stein ist bereit all seine Geheimnisse preiszugeben, allerdings ohne zeitlich genaue Angaben. „Ich bin ja kein Historiker“, meint der Stein.

Neben der Mühle strömt noch immer ein Bach. Seine steilen Ufer & seine kräftigen Kurven verraten, dass er richtig arbeiten muss, um ein ordentlicher Bach zu sein. Wenn es heftig regnet, wird er sofort stürmisch. Seine Sprache wird dann laut & überzeugend & mitreißend – er scheint dann zu rufen: „Schluss mit lustig“. Das treibende Wasser wühlt Steine auf, die sich gegen die Kraft nicht wehren können. Und ja, irgendwo am steilen Ufer hat ein Eisvogel sein Nest.

Auf dem grünen-sehr-grünen Mühlen-Gelände gibt es Gärten & Wiesen & mächtige Bäume & Scheunen. Und auf den Wiesen weiden Esel & Schafe. Sie verhalten sich so, als ob sie die Hauptfiguren einer wichtigen Erzählung wären. Ich meine nicht, dass sie Anerkennung verlangen, nein, gar nicht. Sie scheinen den Menschen mitzuteilen: „Wenn ihr unsere Wichtigkeit nicht bemerkt, ist das euer Problem“.

Neben dem Gittertor zum Gelände hat der Hund Juli seine Hütte. Er liegt allerdings meistens faul auf der Wiese oder dem Hof, steigt aber sofort auf seine vier Beine, wenn er herankommende Passanten bemerkt. Seine Aufgabe ist ihm ganz klar: er soll fremden Leuten deutlich machen, dass die Mühle schon vergeben ist. Und wenn ein fremder Hund dabei ist, bellt Juli extra laut, einfach um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen.

Der Stein ruht. Der Bach strömt. Die Esel sind souverän Esel. Und der Hund bellt. Dazu wäre noch zu sagen, dass die Blumen blühen & die Bienen summen & die Hühner gackern & die Findlinge träumen & der Kastanie sich gewaltig breit macht & die Katze unbemerkt regiert. Und nein, ich darf die Forellen nicht vergessen, die man im Bach antreffen kann, wenn man Glück hat. Sie scheinen zu zischeln: „Du bildest dir nur ein, dass du uns erwischen kannst“.

So weit, so gut.

In einem landschaftlich verborgenen Winkel, direkt bei Aachen, leben & arbeiten auch noch Menschen. Die alte Mühle beherbergt ein Kinderhaus, mit zurzeit drei Jugendlichen, sieben Kindern & etwa zehn Erwachsenen. Zwei von diesen Erwachsenen arbeiten nicht nur in der Mühle, sondern sie haben dort auch ihre Wohnung. Mit Erwachsenen sind ErzieherInnen, SozialpädagogInnen, eine auszubildende Hausmeisterin, ein Praktikant & ein Zivi gemeint.

Anders als der Stein & der Bach & die Esel & der Hund machen diese Menschen ständig Geschichte. Mit den Menschen & zwischen den Menschen & wegen der Menschen geschieht andauernd dieses oder jenes. Man könnte es auch so sagen: das Kinderhaus in der Mühle ist ein Herzwerk von Biographien & Beziehungen & Ereignissen. Jeden Tag gibt es in der Mühle neue Anlässe zu epischen, lyrischen und dramatischen Erzählungen.

Auch wenn man den Winkel bei Aachen „verborgen“ nennen kann, oder eben „idyllisch“ - das Leben das sich dort jeden Tag wieder entfaltet, wäre eher trocken-treffend als „gesellschaftlich sehr relevant“ zu beschreiben. Was dort geschieht, steht an der Spitze von allem Denkbaren. Wenn man eine Idee davon haben möchte, was zurzeit in der öffentlichen Gesellschaft wirklich los ist: verbleibe eine Woche in der Mühle & mache mit & staune & verstehe! Das Ringen um Normen und Werte, die Höhen und Tiefen in Beziehungen, die Bewältigung der Vergangenheit, das Öffnen der Zukunft, die Selbstfindung & Selbstgestaltung, die gewagten Sprünge ins Leben... In der Mühle kriegt man es hautnah mit.

Und auch, wenn wir Mühle-Menschen es vielleicht immer wieder vergessen: unsere Geschichten sind in das Ruhen des Mühlsteins & in das Strömen des Baches & in das abendliche Singen der Amseln & in das Krähen des Hahnes eingebettet. Ohne diese umgebende Welt von tragenden Hoheiten gäbe es gar keine menschliche Geschichte. Ohne die unveränderliche Souveränität der Esel hätte unsere brennende Sehnsucht nach Erleuchtung keine Bedeutung.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

06.07.2009

Zwei Jahre Weblog. Über Nähe in einem unermesslichen Ozean

Vor zwei Jahren, am 8. Juli 2007, habe ich meinen ersten Blogtext durch diesen elektronisch erzeugten Ort unter dem Satz „Jede Woche eine neue Story“ veröffentlicht. Mein erster Beitrag war dem Buch „Missionen“ von Sebastian Gronbach gewidmet. Und nach zwei Jahren ist tatsächlich zu sagen, dass ich durch meinen Weblog eine Art Mission erfülle. Unterwegs ist mir deutlich geworden, dass ich etwas ganz Bestimmtes erreichen will.

Insgesamt habe ich in diesen zwei Jahren 121 Blogs „gepostet“. Und wenn ich auf die Liste von Themen schaue, fällt mir auf, dass alle meine Passionen dabei sind: Pico della Mirandola & Michel Foucault, Zaunkönige & Abgründe, Samuel Taylor Coleridge & Rainer Maria Rilke, Feuerzeuge & Filzbatterien, Köln & Lima, Freundschaft & Türme, Bob Dylan & Guns N` Roses, Klauen & Schenkgeld, Steiner & Barfield, Selbst & Subjekt, Erziehung & Sprache, Sammy & Samuel...

(Ich liebe Auflistungen. Vielleicht schreibe ich noch mal eine Doktorarbeit mit dem Titel: „Auflistungen aufgelistet“. Untertitel: „Über Schein und Wesen von Listen“. Ich wünschte mir dafür Peter Sloterdijk als Doktorvater. Irgendwie sind seine Bücher als burleske Auflistungen von vor- und weitläufigen Bemerkungen über die aufgelisteten Sachen zu verstehen, die uns in Europa schon mehr als zweitausend Jahre verwirren.)

Meine Mission ist es allerdings nicht, durch diesen elektronisch erzeugten Ort meine Passionen auszuleben. Die Passionen erzeugen aber gerade die Freude, die ich brauche, um das Projekt durchzuziehen. Ohne Spaß läuft nichts.

Die eigentliche Mission dieses Projektes betrifft Nähe. Als erstes betrachte ich meinen Weblog als einen Ort für mich. In den Texten versuche ich eine Nähe zu mir zu finden, ein „bei-mir-sein“, so wie ganz gute Freunde an einem Tisch sitzen & leise & ruhig & vertrauensvoll miteinander reden. Ich rede also in dieser Stille mit mir selber.

Die meditative Übung liegt dabei mehr und mehr darin, dass ich nur über Sachen schreibe, die mich berühren & dass ich versuche bei diesem Berührt-Sein zu bleiben. In der innerlichen Berührung liegt ja die Nähe zu den Dingen & Ereignissen & Menschen. Alle anderen guten Anlässe etwas zu schreiben, wie Wut & Ärger & Ungeduld & Schmerz & Neugier & Überzeugung versuche ich, so gut es geht, zum Schweigen zu bringen.

Nähe zu mir & Nähe zu den Sachen... Als zweites betrachte ich meinen Weblog als einen Ort der Begegnung. Dabei geht es um die Nähe zwischen mir & den Lesern, zwischen mir & dir & zwischen dir und dir also... In dieser Hinsicht ist mein Weblog ein verwirrender Ort, weil ganz unterschiedliche Beziehungen & Verbindungen gleichzeitig & in EINEM Raum eine Rolle spielen. Auf der elektronisch erzeugten Bühne herrschen einerseits Anonymität & Öffentlichkeit, anderseits geschehen oft ganz delikate & persönliche & rührende Sachen.

Diesbezüglich ist die Situation die folgende: In den Kommentaren reagieren manchmal Menschen, die ich aus unterschiedlichen Zusammenhängen persönlich kenne. Letzte Woche zum Beispiel war auf einmal Huub aus Den Bosch da (Hoi Huub, vader van Pelle! Sei herzlich gegrüßt von Jelle!) - sein Kommentar ist in eine vertraute Stimmung eingebettet, weil ich mich daran erinnere, wie wir öfters in Neukirchen bei Flensburg an einem Tisch zusammen saßen.

Dann gibt es Kommentare von Menschen, die ich persönlich nicht kenne. Von diesen Menschen gibt es immer wieder welche, die Kontakt suchen & mir zusätzlich noch eine Email schicken. Was aber auch sehr häufig vorkommt ist, dass Menschen mir nur eine Email schicken, also keinen Kommentar auf meinem Weblog veröffentlichen. Manchmal entstehen daraus intensive Kontakte, die den Lesern meines Weblogs verborgen bleiben.

Ganz wichtig sind die Menschen, die sich regelmäßig mit Kommentaren melden & sich so richtig in die Vorgänge einmischen. Sie zeigen mir die Koordinaten in meiner Suche nach Nähe in dem immensen Ozean. Sie sind mit im Boot. Ihre Meldungen gehen für mich immer über die aktuellen Inhalte hinaus, weil sie eine kontinuierliche Beziehung pflegen, die zu Ereignissen & Wendungen & Öffnungen führen.

Und dann gibt es die Menschen, die sich - warum auch immer - gar nicht melden. Weitaus weitaus weitaus die meisten Leser reagieren äußerlich (im www) nicht erkennbar, einfach weil sie keine Lust dazu haben oder sich die Öffentlichkeit nicht zutrauen oder meinen nichts zu sagen zu haben oder... Ich mag diese anonyme Schar von Lesern sehr, weil sie das Unbekannte & Ungewisse & Unsichtbare vertreten. Ohne Schweigende gäbe es keinen Ozean.

Nähe in dem immensen Ozean... Ich kriege es nicht in Worte gefasst... Meine Worte erreichen Dich-bekannte-unbekannte-LeserIn über die elektronischen Wellen des virtuellen Ozeans. Zwischen uns gibt es Tasten & Kabel & Schirme & Festplatten & Server & Schüsseln & eine Menge von Sachen mehr wovon ich nicht die blasseste Ahnung habe. Meine Worte erreichen euch via & via & via & via & via...

Die eigentliche Begegnung aber findet irgendwo anders statt. Durch den elektronisch erzeugten Ort hat sich auch ein Innenraum geöffnet, in dem ich die Nähe spüren kann – ich alleine mit mir, ich alleine mit dir, wir alleine mit uns & den Anonymen & den Verborgenen. Die letzten zwei Jahre haben mir klar gezeigt, dass es Unfug ist zu meinen, dass das World Wide Web uns zwangsläufig voneinander isoliert.

Mit Dank an Sophie Pannitschka