Die zwölf heiligen Nächte in postmodernen Zeiten. Über einen Eichelhäher
In den Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönig, so besagt die Tradition, stehen die Türen zur geistigen Welt offen. Deswegen wird von den „heiligen“ Nächten gesprochen. In dieser Zeit wäre es besonders wichtig auf die Träume & Stimmungen & Eingebungen, die wir aus der Nacht bekommen, zu achten. Es ginge vor allem auch darum, offen für Unerwartetes zu sein.
In einigen östlichen Ländern wird von der „ungetauften“ Zeit gesprochen, weil das Kind Jesus erst mit der Ankunft der drei Könige (eigentlich Magier, oder vielleicht sogar „Wissenden“) getauft wird. Auch gibt es Gegenden wo interessanterweise von den zwölf „rauen“ Nächten gesprochen wird. Ein sehr schönes Bild – ich weiß leider nicht woher es kommt – ist das, in dem die Zeit der zwölf Nächte als „die Fontanelle des Jahres“ beschrieben wird.
Zwischen Weihnachten und Dreikönig sind wir im Kommen. Das Kindliche ist erschienen, das Licht wird wieder stärker, und in der Mitte dieser Zeit erleben wir den „Rutsch“ ins neue Jahr. Und offensichtlich gibt es eine enge Verbindung zwischen „neu“ und „geistig“. Dadurch, dass die Türen zur geistigen Welt geöffnet sind, können wir über unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen eine bewusste Beziehung zum Kommenden finden.
Was ist hier mit „geistig“ gemeint? Friedrich Nietzsche würde an dieser Stelle dieses Wort gerade nicht benutzen und eher von dem „Ungeheuren“ sprechen. Er meinte damit das große Unbekannte, den riesigen Ozean der nicht eingeordneten Empfindungen, die tausend und abertausend Rätsel der Welt und des Lebens, die uns umschlingen. Gerade wenn ein kleines bisschen Licht da herein kommt, wird das Ungeheure sichtbar. (Das Licht wirft Schatten – tatsächlich ein rauer Vorgang.)
Auch Martin Heidegger würde das Wort „geistig“ vermeiden. Er würde sagen: was wir vom Leben meinen zu verstehen, erklärt uns das Sein nicht. Die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden (= was wir meinen für uns eingeordnet zu haben) eröffnet einen Abgrund. Und das Erleben dieses Abgrundes führt zur Philosophie oder Kunst oder Religion. (Die großen Drei: das Wahre, das Schöne, das Gute.)
Hannah Arendt hingegen würde sagen: wir betreten das Geistige & das Ungeheure & das Abgründige dadurch, dass wir auf Natalität setzen. Der Mensch hat nicht nur die Sicherheit, dass er sterben wird – er hat auch die Sicherheit, dass er jeden Tag wieder neu geboren werden kann. Das geschieht aber nicht von alleine. Gerade dadurch, dass er sich aktiv anfreundet mit dem Im-Kommen-sein und sich diesbezüglich als Schöpfer der Welt versteht, ist er Mensch.
In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen. Ja, ein erster Schritt bleibt: lauschen & lauschen & lauschen was das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige uns zu sagen haben. Besonders während der zwölf heiligen Nächte bleibt deswegen die schöne und freiwillige Aufgabe, auf unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen zu achten.
Genau so wichtig sind aber die Vorsätze & Entscheidungen. Oder anders gesagt: das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige lässt uns keine Zeit zwischen lauschen & sprechen, verstehen & handeln zu trennen. Ein richtig verstandener Traum ohne einen Vorsatz oder eine Entscheidung, ist eine Illusion. (Ja klar, auch Illusionen brauchen wir!)
Als ich heute früh aufwachte und mich an meinen Schreibtisch setzte, erschien nach einer Weile in meinem Garten ein Eichelhäher. Er war scheu wie ein Botschafter der Nacht. Einen kurzen Moment saß er auf einem Geländer, etwa zwei Meter von meinem Fenster entfernt. Er guckte & guckte – sein stolzer Kopf zick-zackte hin und her, so wie nur Vögel das machen können. Und ich dachte: er will nur sicher sein, dass ich ihn wahrgenommen habe. Dann flog er wieder fort.
Eichelhäher gab es auch in Arnheim, wo ich aufgewachsen bin. In Holland heißen sie „Vlaamse gaaien“, also etwa: Häher aus Flandern. Ich habe das als Kind lange so verstanden, dass der Vlaamse Gaai tatsächlich in Flandern lebte, und - warum auch immer - gelegentlich nach Arnheim kam, um mich zu begrüßen. Ein bisschen verwirrend war immer, dass er sofort wieder verschwand.
Noch immer ist es so, dass ich an Belgien denken muss, wenn ein Eichelhäher auftaucht. Und auch ist es noch immer so, dass ich mich geehrt fühle, weil dieser wunderschöne & stolze Vogel eine lange Reise gemacht hat, um gerade mich zu begrüßen. Und auch ist es noch immer so, dass ich denke: schade, dass er sofort wieder weiter fliegt.
Vögel die uns begrüßen, sind Botschafter der Nacht. Und heute denke ich: der Eichelhäher erinnert mich daran, dass es mich freut zu merken, dass ich begrüßenswert bin. Ich mag es, begrüßenswert zu sein. Wäre das nicht ein guter Vorsatz für das nächste Jahr: begrüßenswert zu sein? Was das beinhaltet, überlässt der Eichelhäher mir. Ich soll das von mir aus gestalten.
(Und vielleicht wird nächstes Jahr mal eine Eule kommen, um zu schauen, was ich daraus gemacht habe.)