13.12.2008

Behinderung als Schicksal (2). Über die stumme Sprache

Mein Bruder Mark ist gelähmt & lebt im Rollstuhl. Sprechen kann er kaum. Er kann „Koffie“ sagen, und meint damit, dass er gerne eine Tasse Kaffee hätte. Auch sagt er klar „ja“ & „nein“, nennt manche Menschen bei ihrem Vornamen, und macht klipp und klar deutlich, dass er jetzt abhauen möchte. Ein herkömmliches Gespräch ist mit Mark nicht möglich.

Weil er gelähmt ist, ist auch seine Körpersprache beschränkt. Seinen Gang kennen wir nicht, weil er nicht laufen kann. Er bewegt seinen linken Arm nur, um etwas in die Hand zu nehmen, zum Beispiel ein Stück Kreide. Wenn er „Koffie“ oder „ja“ oder „nein“ sagt, sprechen sein Arm und seine Hand kaum mit.

Aber sein Kopf spricht. Die Art und Weise mit der Mark sein Haupt schief nach vorne oder schief nach hinten biegt, wirkt so, als ob er intensiv lauscht. Manchmal schaut er lange nach oben, scheint zu lauschen & zu lauschen – und ich denke dann: was hört er eigentlich? Und dann trifft er eine Entscheidung, macht sich von dem Lauschen los und biegt sich nach vorne. Genug gelauscht?

Sein Lauschen bezieht sich nicht auf die Geräusche um ihn herum. Er scheint nicht auf den Klang der Stimmen, des Fernsehens oder des Kommens & Gehens der Menschen zu hören. Er scheint in sich hinein zu hören, wobei dieses in-sich-hinein-hören nicht ein nach innen, sondern ein nach außen hören bedeutet. Es ist, als ob sich seine Innenwelt nach außen gestülpt hat und wie eine glänzende Glasglocke um ihn herum befindet.

Sein Kopf spricht eine Sprache, die mich sprachlos macht. Und das gilt noch stärker für seinen Blick. Wenn ich versuche in Worte zu fassen, was in seinen Augen lebt, stelle ich fest, dass die üblichen Worte nichts sagen. Gibt es Unruhe in seinem Blick? Nein. Ruhe? Auch nicht. Wut? Gar nicht. Zufriedenheit? Auch nicht. Freude? Nein. Kummer? Nein.

Wenn es ein Wort gibt, dass die Wirkung seines Blickes halbwegs beschreibt, wäre es: Frage. Mark schaut wie er lauscht: wie eine offene Frage. In seinem Blick erscheint eigentlich gar nichts Bestimmtes – obwohl er bestimmt etwas Bestimmtes sieht, so wie ein Stück Kreide. Es ist aber so, als ob die Gegenstände in seinen Augen verschwimmen, peripher werden, in einem Umkreis aufgehen und „weg projektiert“ werden.

Sein Blick scheint etwas zu suchen, was auf der Ebene der Gegenstände nicht zu finden ist. Es mag unwahrscheinlich klingen: sein Blick sucht Zusammenhänge & Verbindungen & Korrespondenzen, die nur sichtbar werden, wenn man auf Kontur verzichtet. Und gerade im Akt des Verzichts hat sein Blick eine kräftige Präsenz. Der Blick ist da – und immer wieder muss man ihm in die Augen schauen und sich fragen: was sieht er, was erlebt er, was bewegt ihn?

So sieht sein Blick in meinen Augen aus. Nun ist die Frage, inwieweit meine Wahrnehmungen & Gedanken & Gefühle wirklich etwas mit Mark zu tun haben. Manchmal denke ich: Jelle, du spinnst, wenn du so etwas denkst & sagst & schreibst. Die Gedanken, die du an deinen „Beobachtungen“ fest machst, sind reine poetische Spekulationen.

(Nun bezieht sich diese Frage natürlich nicht nur auf Mark. Ganz generell ist die Frage: wenn ich auf eine menschliche Gestalt schaue & wenn ich versuche einen Blick zu „lesen“ - inwieweit dringe ich dann wirklich zu einem Menschen vor? Ist an dieser Stelle die phänomenologische Vorgehensweis berechtigt? Oder bilde ich mir lediglich etwas ein?)

Was allerdings bleibt, ist Marks Blick. Ich kann nicht darum hin, dass es diesen Blick gibt. Und ich kann auch nicht verneinen, dass der Blick mich immer wieder trifft, oder besser gesagt: nicht trifft und deswegen trifft. Sein Blick erscheint mir wie ein Rätsel. Die Tatsache, dass Mark mir nicht in Worten mitteilen kann, was in ihm vorgeht, trägt noch an das Rätsel bei. Ich kann ihn nicht fragen, was in seiner Innenwelt vorgeht.

Übrigens hat es seltene Momente gegeben, in denen sein Blick mich wirklich getroffen hat & er meinen Blick sozusagen „erwidert“ hat. In diesen Momenten erlebte ich das Rätsel-der-offenen-Frage wie gesteigert & nicht überschaubar vertieft, ja unerträglich präsent. In diesen Momenten musste ich meinen Blick abwenden. In meiner Innenwelt erzeugte dieser Blick eine tiefe Berührung. Der einzige Gedanke den ich hatte, war: „Etwas in diesem Blick ist da, was sich nicht Mark nennt“.

So lange ich auf Worte angewiesen bin, bleibt Marks Innenwelt ein geschlossenes Buch für mich. Mit Walter Benjamin: Um Innenwelten zu verstehen, müssen wir uns der stummen Sprache zuwenden. Benjamin meinte aber auch, dass wir in der modernen Zeit verlernt haben, die stumme Sprache zu lesen & zu verstehen & in Worte zu fassen.

Behinderung und Sprache ist ein großes Thema. Manche behinderte Menschen – so wie auch mein Bruder Mark – stoßen uns in die Sprachlosigkeit. Und weil wir die stumme Sprache nicht lesen können, erscheint vor uns ein Abgrund. Und der Abgrund – das scheinbar bedeutungslose Nichts – macht Angst. Ich meine, dass eine Kultur des Herzens gerade dort beginnt, wo wir anfangen über Sachen zu sprechen, über die wir nicht reden können.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

17 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Zurzeit erlebe ich etwas, was ich hier gern berichten möchte. Vielleicht als eine andere Form einer Behinderung? Ich habe mit einem Menschen im Arbeitsbereich und auch umgekehrt, die andere Person mit mir, große Probleme. Wir können fast nicht mehr mit einander sprechen, weil jedes Wort so gut wie immer falsch verstanden wird und zwangsläufig zu Verletzungen führt. In mir erlebe ich diese Kommunikationsunfähigkeit als eine Blockade, die zur Sprachlosigkeit und zur körperlichen Verspannung mit teilweiser Blockierung der Atmung führt. Mit mir passiert etwas, was mich im Austausch mit dem anderen Menschen "behindert". Ich kann es spüren und fühlen und z.T. benennen, jedoch nicht erklären und mich nicht verständlich machen. Ich fühle mich in den Momenten der blockierten Begegnung irgendwie "falsch".
Übrigens: Ich bin seit meiner Kindheit "ein bisschen" geh- u. bewegungsbehindert.

Anonym hat gesagt…

noch ein Nachsatz:
was ist "ein bisschen" behindert? Ich fühle mich auch mit "ein bisschen" schon ziemlich stark eingeschränkt.

Sebastian Gronbach hat gesagt…

Lieber Jelle,

als ich eine längere Zeit in einem Kindergarten einer Klinik arbeitete, indem nicht nur Tagespatienten waren, sondern auch alle möglichen behinderte Kinder, die mich sofort in den Arm nahmen und ihre Liebe zeigten, da fragte ich mich, was sich alle fragen, die viel mit behinderten Menschen zusammen sind:

Wer ist hier eigentlich behindert?

Ich weiss, es ist eine kitschige, sozialromatische, eine behindertenromantische Frage, denn der Behinderte hat keine Wahl - aber trotzdem bleibt die Frage:

Wo wären wir ALLE, wenn wir die Sprache lernten, die man nicht lernen kann?

Wie lernt man diese Sprache und ich behaupte ein Teil der Antwort hat mit dem gemeinsamen Schweigen in der Stille zu tun. Manche nennen es Meditation.

Merci und liebe Grüße
Sebastian

Michael Eggert hat gesagt…

Du schreibst es ja selbst, Jelle: Wir sind uns gegenseitig ein Rätsel. In der Begegnung mit behinderten Menschen wird das nur so augenfällig. Das Suchen nach Verstehen wird leicht zur Liebe, und nur Liebe kann Voraussetzung für ein Verstehen sein. Und selbst, wenn wir herzlich miteinander verbunden sind, kommt noch der eigentliche Faktor des Ich hinzu, nämlich das Anfangen-Können. Daher sind wir füreinander nie kalkulierbar. Vielleicht misst sich der Schweregrad einer "Behinderung" gerade daran, in wie weit wir das Potential des Anfangen- Könnens tatsächlich ausspielen können oder inwieweit wir In-was-auch-immer gefangen sind.

Anonym hat gesagt…

Ich habe in meinem Alltag wenig - fast gar keinen - Umgang mit "behinderten Menschen". Und manche von ihnen sind mir auch ein bißchen unheimlich - wenn ich das so offen schreiben darf. Andere natürlich auch nicht. Aber, in meinem Leben treffen wir nicht so oft aufeinander.
Das, was du beschreibst berührt mich aber trotzdem. Warum?
Als sogenannter "normaler" Mensch bin ich oft auf der Suche nach dem richtigen, passenden oder angemessenen Ausdruck. Dabei stoße ich immer wieder an Grenzen der Ausdrückbarkeit durch Worte. Mir scheint es so zu sein, dass Walter Benjamin in dieser Hinsicht viel verstanden hat. Er hat einen theoretischen Essay über seine Auffassung über die menschliche Sprache geschrieben, er heißt: "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen". Angewendet hat er seine Erkenntnisse, Überzeugungen und Annahmen dann zum Beispiel in einem seiner letzten poetischen Text. Er handelt von seiner eigenen Kindheit: "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Darin lässt er die stummen Dinge - die ihn umgeben - sprechen. Er erzählt, was ihm das Nähkästchen seiner Mutter damals berichtet hat, die Markthalle, die nächtlichen Schattenbilder an der Wand seines Zimmers oder bestimmte Straßenzüge. Er hat in diesem Büchlein die Sprache der stummen Dinge zum Klingen gebracht, indem er die stumme Sprache gesprochen hat.
Meineswissens hat er das nur mit Gegenstäden gemacht, nicht mit Menschen, aber gerade diese Übertragung ist es, die mich jetzt in deinem Artikel berührt. Die stumme Sprache derjenigen zu lernen, die nicht "sprechen" können.
Ja, das scheint ein Beitrag an eine Kultur des Herzens zu sein. Denn auch die "normalen" Menschen verstehen sich besser, wenn sie die stumme Sprache begreifen und sprechen.
Ch.

Anonym hat gesagt…

Ich möchte etwas erzählen, was sich mehr auf den vorigen Text bezieht:
Ich hatte oft im Leben Begegnungen mit Menschen mit dem sogenannten Down-Syndrom. An all diesen Menschen, Kindern und Erwachsenen, habe ich gemeinsame Seelenqualitäten wahrgenommen, die sie den Menschen, in deren Umkreis sie leben, schenken. Von einem Menschen möchte ich erzählen. Es ist ein junges Mädchen, ich nenne es hier Lucia:
Lucia besucht die Parzivalschule, eine heilpädagogische Schule in Aachen. Sie absolvierte zweimal im Kinderhaus Kahlgrachtmühle für einige Wochen ein hauswirtschaftliches Praktikum. Als sie zu uns kam, begrüßte sie als erstes ausgiebig unsere Hündin Julie und den Kater Mieserich. Die Tiere zu begrüßen wurde eine richtige Zeremonie und war viel wichtiger als die Begrüßung der Menschen. Nach jeder Tätigkeit im Haushalt ging sie wieder erst einmal zu den Tieren und liebkoste sie. Lucia half mir bei verschiedenen Hausarbeiten. Dabei hatte sie Zeit ohne Ende. Meine Zeitvorstellungen, dass eine Tätigkeit in einer bestimmten Zeit zu einem Ende gekommen sein sollte, waren ihr fremd und berührten sie nicht im mindesten. Wir hängten gemeinsam Wäsche auf. Lucia legte sorgfältig Socke für Socke über die Leine und unterhielt sich mit jedem einzelnen. Sie half mir auch viel bei den Vorbereitungen zum Kochen. Ich gab ihr ein Brett und Möhren, damit sie diese in Scheiben schneiden konnte. Lucia schnitt eine Scheibe nach der anderen und sprach freundlich, in einem neckenden Ton, mit diesen Möhrenscheiben.
Die Kinder im Kinderhaus waren ein bisschen erstaunt über Lucia, aber auch interressiert an ihrer Art zu sein! Ein paar Mal geschah es, meistens bei Tisch, dass Lucia ganz plötzlich von irgendeiner Äußerung der Kinder gekränkt war. Sie zeigte ihr Gekränktsein deutlich, verzog sich in eine Ecke, sprach schmollend vor sich hin und brauchte es dann sehr, dass man sie umarmte und tröstete. Die Kinder reagierten mit Betroffenheit und waren sogar bereit sich zu entschuldigen, obwohl sie nicht absichtlich, erst recht nicht böswillig, Lucia gekränkt hatten. Ich fand dieses Verhalten erstaunlich und ganz besonders schön, weil sie sonst auch grob und rücksichtslos miteinander umgehen können. Lucias Verhalten schaffte eine Atmosphäre der gegenseitigen seelischen Aufmerksamkeit.
Liebe Grüße Ruthild

KlausMaria hat gesagt…

Lieber Sebastian,

in meiner Zeit als 'Hausvater' in einer Heimsonderschule und auch als 'Hausverantwortlicher' in einer Dorfgemeinschaft habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Frage:

"Wer ist hier eigentlich behindert?", diejenige war, die meist sehr schnell von den jungen Menschen, die zu uns kamen (Praktikanten, Auszubildende usw.), gestellt wurde. Diese Frage,

(Damit stelle ich Deine Aussage: "Ich weiss, es ist eine kitschige, sozialromatische, eine behindertenromantische Frage, denn der Behinderte hat keine Wahl -" nicht in Abrede)

bereitete meist den Weg vor, dorthin zu gelangen, wo Sprache gelernt werden kann, die man nicht lernen kann und doch irgenwann spricht und versteht. Es ist eben die universelle Sprache der Liebe, die ohne Worte auskommt, und dann wird wahrgenommen was Jelle so beschreibt:

„Etwas in diesem Blick ist da, was sich nicht Mark nennt“.

Das Schweigen wird bered und die Stille tönt.

Das jede Begegnung zwischen zwei Menschen meditativ sein kann, ja eigentlich sein müsste, habe ich von den 'behindertten' Kindern, den 'behinderten' Erwachsenen gelernt. In vielen Bereichen waren sie meine 'Lehrmeister'. Der Dank dafür ist auch nicht in Worte zu fassen.

Aus der Stille
KlausMaria

Anonym hat gesagt…

Ich glaube, eine Kultur des Herzens hat nicht immer mit Sprechen zu tun. Es hat oft mit einfach nur für und mit dem Anderen DASEIN und so gut es geht sich in den anderen Menschen einfühlen zu tun. Denn das spürt - ich behaupte jetzt mal - "jeder" Mensch als Wahrgenommen werden so wie er ist.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Ich bin richtig begeistert über die Kommentare. Die Vielfalt, die Direktheit, die Relevanz: so darf es von mir aus gerne & gerne weiter gehen. Ich kann nicht sofort auf alles reagieren - muss das aber auch nicht. Die Kommentare tragen daran bei, dass die Landschaft-der-Behinderung sich öffnet. Das darf von mir aus einen ganzen Globus werden. Jelle van der Meulen

wim maas hat gesagt…

Die Art und Weise wie du über Mark geschrieben hast hat mir im Herzen getroffen. Ist es nicht so, dass das Unaussprechliche an Mark ausspricht dass er es liebt gesehen zu werden, denn vielleicht bedeutet dein Blick für ihn genausoviel wie sein Blick für dich. Es wird(wenigstens für mich) klar, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde und zwischenmenschlich als all dasjenige was in Worten zu leben versucht. In meiner Arbeit als Lehrer erfahre ich die Begegnung mit Frank, ein 51-jähriger Mann mit dem Syndom von Down, der in unserer Schule Mitarbeiter des Hausmeisters ist, als viel mehr sagend als eine pedagogische Theorie.
Herzlich
Wim Maas

Anonym hat gesagt…

Die Bewegung aus der scheinbaren Sicherheit der alltäglichen Wortwelt, in einen Raum der Unsicherheit, des -noch- nicht in Worte fassen könnens hast Du wunderbar beschrieben.
Es ist ja ein Segen, wenn wir darauf aufmerksam werden. Ich dneke oft darüber nach, wie häufig das "Verstehen" des anderen nur verdeckt, daß eigentlich genau das selbe passiert wie beschrieben- wir bemeerken es nur nicht, weil wir ja vermeintlich wissen, was der andere in Worte brachte-
mit herzlichen Grüßen
Michael Dackweiler

Nicole hat gesagt…

Was Selbstverhinderte von Andersgehinderten lernen können

Seit längerem beschäftigt mich der Begriff der "Selbstverhinderungsmechanismen", etwas, das mit einer Lähmung des Willens und mit Angst, man selbst zu sein/werden zu tun hat. In dem Sinn kenne ich nur wenige Menschen, die nicht behindert sind -

Meine Frage lautet:
Wie gehen wir (unsichtbar Behinderte oder Verhinderte), damit um, dass wir uns selbst mit Tüchtigkeit an unserem So und Hier Jetzt Sein oder an dem, was wir wollen - warum? - hindern?

"Behinderten" ist DIESE Möglichkeit zur Selbstverhinderung verwehrt, oder? Sie äußern SICH anders.
Das nehmen wir wahr als ihr Hindernis oder Handicap und auf einer Ebene fragt dieses Sichtbare uns nach Antwort.
Bei Verhinderten liegt das Hindernis in einer dem Auge mehr entzogenen Schicht, die zu tun hat mit unbewussten Erfahrungen: Du sollst nicht (so) sein, diese Kränkungen der Kindheit, die unser Körper speichert.

Wohin mein Streben? Sehnen? Wollen? geht, ist, in eine Art der Bewegung,des Umgangs mit mir selbst - und anderen (ich mit anderen, sie mit mir) zu kommen, in der das ursprüngliche Vertrauen "waltet", in dem es egal ist, ob man gibt oder empfängt, weil beides zur Beweglichkeit des Lebens gehört und beide Erfahrungen Geschenke sind. ("Dann wird der Körper froh." I.Johansson)

Zur Tüchtigkeit noch ein Wort: so und nicht so: in bezug auf was gibt es diese Unterscheidung?
Die verzweifelte Tüchtigkeit, die sich ernährt aus dem Gebrauchtwerden, aus der Dankbarkeit, aus dem Wahrgenommenwerden, dem anerkennenden Wahrgenommenwerden des Anderen... hat sie zu tun, ist sie die Schwelle, mit der wir festlegen: so und nicht so soll der Mensch sein/funktionieren?

Ich denke an den Begriff der acedia , wie Josef Pieper ihn in "Über die Hoffnung" verwendet. Er weist hin darauf, dass die acedia nicht die Trägheit im Sinne von Faulheit oder „Unfleiß“ sei, sondern eine Art von Traurigkeit, "angesichts des göttlichen Gutes im Menschen." -
"Acedia und bürgerlicher Fleiß können nicht nur sehr gut miteinander bestehen, sondern: das sinnwidrig übersteigerte Arbeitspathos unserer Zeit ist geradezu zurückführbar auf die acedia, die ein Grundzug im geistigen Gesicht eben dieser Zeit ist." (geschrieben 1935)

Ich zitiere das hier hoffentlich hinreichend ausführlich. Ich meine, dass die Sucht nach Anerkennung von außen, die sich oft speist aus der (Arbeits)Leistung, die wir erbringen, ein Kennzeichen unserer Behinderung ist, worin uns Menschen, die diesem Anspruch nicht genügen wollen (können), voraus sind. Wer den der Norm zugrunde liegenden Kriterien (z.B. der Tüchtigkeit) nicht entsprechen kann, der verwirklicht etwas ANDERES. Dieses Andere können wir nicht verstehen, weil wir unsere Begriffe schöpfen aufgrund unserer Verwirklichung, und weil wir von ihr als Norm mehr oder weniger ausgehen.
Die Begriffe für das Neue, das sich ausdrückt in einer Art Neo-Normalität der Andersartigkeit (von uns her betrachtet) müssten genommen werden aus der Erfahrung des Neuen, müssten gebildet werden von den Neuen, von den Menschen, die dieses Neue, Andere leben, und damit ist klar, dass diese Begriffsbildung anders geartet sein wird, als die uns Bekannte.

Wie wäre eine Schule des Lebens beschaffen, in der ich unterrichtet würde von Menschen, die heute in Werkstätten „beschäftigt“ und „so weit wie möglich eingegliedert“ werden? Wo ist der Ort, an dem Down-Lehrern begegnet werden kann, wenn man sie nicht in der Familie hat?
(Vor einigen Jahren las ich „Adam“ von Henri Nouwen, einem Priester, der sich entschied, Abschied zu nehmen von seiner öffentlichen Tätigkeit als Lehrer und Berater und entschied, in einer Arche zu leben: einer von Jean Vanier angestoßenen Bewegung, in der „von gleich zu gleich“ zusammenleben Menschen mit und ohne Behinderung . Er war dort für den „schwersten Fall“ verantwortlich, und er beschreibt in diesem Buch, wie dieser Mensch zu seinem geistigen Lehrer geworden ist.)

Vielleicht, weil Advent ist: Für den Eintritt in die Geschichte (als Mensch) entschied Gott sich für Nicht So.
Und wenn das Unerträgliche in mir (Stroh, das geht gar nicht!) hervorgekehrt und ansichtig gemacht der Ort wäre für die Umkehrung der Begriffe? Und ob darin die Herzlehrerschaft der Andersbehinderten für mich Normalverhinderter besteht...

// Eine Handvoll Murmeln, die aneinander klockern..
sowohl innerhalb dieses Kommentars als auch der Kommentare untereinander. Danke, dass diese Form der Begegnung möglich ist.
viele Grüße!

Anonym hat gesagt…

„Etwas in diesem Blick ist da, was sich nicht Mark nennt“.

Was ist dann "Mark" - der "behinderte" Körper? Und wie ist dann das zu beschreiben, was über diesen "eingeschränkten" Leib hinausgeht?

Was kann man im Zusammenhang mit Behinderung in Bezug auf das Verhältnis von Körper, Geist und Seele sagen?

Herzlich, Ch.

Anonym hat gesagt…

"...Ganz generell ist die Frage: wenn ich auf eine menschliche Gestalt schaue & wenn ich versuche einen Blick zu „lesen“ - inwieweit dringe ich dann wirklich zu einem Menschen vor? Ist an dieser Stelle die phänomenologische Vorgehensweis berechtigt? Oder bilde ich mir lediglich etwas ein?..."

Ich glaube, dass es schon ein großes Glück ist, wenn wir Menschen haben, die mit "Phänomenologie" an diese Fragen herangehen, die sich im "Lesen" versuchen.
Ist es nicht mit jeder Lektüre auch so? Wir lesen die gleichen Worte - aber die Bedeutung der gelesenen Worte kann sehr unterschiedlich bewertet werden...
Nach einer phänomenologischen Betrachtung (der menschlichen Gestalt) - so fremd sie sein mag, kann sich aber das Wesen aussprechen, offenbaren, in die Sichtbarkeit kommen.
Die "Gefahr" liegt, in Bezug auf "Behinderung", in der Urteilsbildung - in der Interpretation der phänomenologischen Betrachtungsweise. Welche Bedeutung haben die Phänomene, die betrachtet werden? Erst an dieser Stelle scheiden sich die Geister.

Ohne Urteilsbildung kommen wir jedoch nicht weiter!

Die Bedeutung des Begriffes "Phänomenologie" ist in ihrer Bandbreite die Folgende (Fremdwörterduden):

1. Wissenschaft von den sich dialektisch entwickelnden Erscheinungen der Gestalten des [absoluten] Geistes u. Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins (Hegel).
2. streng objektive Aufzeigung u. Beschreibung des Gegebenen, der Phänomene (nach N. Hartmann).
3. Wissenschaft, Lehre, die von der geistigen Anschauung des Wesens der Gegenstände od. Sachverhalte ausgeht u. die geistig-intuitive Wesensschau (anstelle rationaler Erkenntnis) vertritt (Husserl).

Die Frage für mich ist, wie wir zu einer moralischen Urteilsbildung der betrachteten Phänomene kommen.

Danke für die Denkanstöße!

Anonym hat gesagt…

Andrea ist betroffen von Nicols, Wortwahl und Aussagen, momentan auch sprachlos, aber nicht wortlos und nicht gedankenlos. Danke

Anonym hat gesagt…

Von Antje Klettner

Irgendwie ist das ja eine absurde Situation, die du da beschreibst. Es hört sich an, als ob du vor deinem Bruder stehst und wartest, dass er dich anschaut und dir berichtet, was in ihm vorgeht.

Du weißt, er macht das nicht, und das ist seine Entscheidung.

Wie wäre es, wenn du auf das hörst, was er sagt, und mit ihm abhaust; wenigstens für ein Stündchen. Und mit ihm koffie trinkst, da habt ihr doch eine Gemeinsamkeit.

Und wenn du ihn mal fütterst, auf das Klo setzt oder ihn wickelst, da hättet ihr reichlich Gelegenheit zu nonverbaler Kommunikation. da könntest du ihn ganz gut kennen lernen, er offenbart sein Wesen in seiner Körpersprache.

Du bist auf Worte angewiesen, ein gutes Gespräch ist was Schönes. meistens jedoch, nach meiner Erfahrung, produzieren Worte Missverständnisse; der Tonfall und die Stimmung und das was nicht gesagt wird sind oftmals wichtiger als das ausgesprochene.

Anonym hat gesagt…

Das mit einer stummen Nähe ist ja auch eine besondere Sache, da sich hineinzutasten und zu fühlen, "fast leibfrei...", rein phänomenologisch schon einmal zu üben für später dann...
ABER: Jetzt haben wir unverwechselbar unseren Leib und unsere Sinne!
Carpe diem!, Solange es noch geht!
(Keine Angst davor haben, und wenn, dann die Angst hoffentlich bitte überwinden können)
Die Sinnesentwicklung von Menschen mit solchen Behinderungen ist auf besondere Weise ausgestattet.
Das Vokabular dieser Sinne ist von uns womöglich neu zu entdecken.
Und zum Staunen schön!
wenn wir natürlich sowieso unsere Angst vor Nähe garnicht erst aushalten und so weiter und so weiter..., dann bleibt aber hoffentlich zumindest die Erkenntnis, welchen Entwicklungsanstoß- und Aufruf sozusagen die behinderten Menschen uns für dieses Leben hier schenken.