20.12.2008

Behinderung als Schicksal (3). Über Fähigkeiten & Begabungen

Was ist eine Behinderung? Ich würde sagen, dass man behindert ist, wenn man etwas nicht tun kann, was weitaus die meisten anderen Menschen können. Wenn jemand zum Beispiel nicht sehen oder hören oder gehen kann, hat sie oder er eine Behinderung. Das gilt genauso für die „mentalen“ und „sozialen“ Fähigkeiten (englisch: faculties): es gibt Menschen die nicht denken, oder fühlen, oder wollen, oder sprechen, oder Gewohnheiten einschätzen, oder hinter-die-Wörter hören können. Auch diese Menschen sind behindert.

Bin ich behindert? Nach meiner Beschreibung nicht. Es gibt nichts, was ich nicht tun kann, was weitaus die meisten Menschen tun können. In dieser Hinsicht bin ich „normal“. Trotzdem gibt es ein paar Sachen, die ich sehr-sehr-sehr gerne tun möchte, wozu ich aber leider nicht die Fähigkeiten habe. Viel Schmerz hat mir zum Beispiel die Tatsache bereitet, dass ich nicht richtig Musik machen kann.

Musik bedeutet mir alles. Genauso wie Friedrich Nietzsche kann ich mir ein Leben ohne Musik gar nicht vorstellen. (Nein, Richard Wagner habe ich nie gemocht. Meine Helden heißen Beefheart & Zappa & Coltrane & Davis & Co.) In meiner Seele gibt es ein Zimmer, in dem ich mit mir & für mich so ungefähr alles „unbehindert“ machen & improvisieren kann, was es zu machen & zu improvisieren gibt: Rock & Blues & Jazz. Ich schaffe es aber ganz & gar nicht, diese innere Musik auch äußerlich hörbar zu „produzieren“. Wenn ich Gitarre spiele oder singe, klingt es unbeholfen.

Und das erlebe ich als eine Behinderung. Die innere Musikalität lässt sich aus irgendeinem Grund nicht nach außen umsetzen. (Ich würde sagen, weil mein Körper nicht mitmacht.) Von einer Behinderung kann diesbezüglich aber nicht gesprochen werden, weil ja weitaus die meisten Menschen diese Fähigkeit gerade NICHT haben. Wenn jemand richtig Musik machen kann, sprechen wir deswegen von einer Begabung.

Behinderung und Begabung haben etwas gemein. Sie sind beide nicht „normal“.

Bernard Lievegoed, der Pionier der anthroposophisch-heilpädagogischen Bewegung in Holland, erzählte mir einmal, dass er sehr-sehr-sehr gerne Musiker geworden wäre. (Seine Helden waren eher Bach & Brahms & Schubert.) Weil er aber nicht richtig musizieren konnte, hat er realistischerweise darauf verzichtet. Und deswegen, so meinte er, hat sich seine Orientierung verschoben und er hat sein Leben der Anthroposophie gewidmet. Der zwangsläufige Verzicht auf Musik öffnete ihm also den Weg zur Geisteswissenschaft. Und niemand wird bestreiten, dass Lievegoed als Anthroposoph sehr begabt war.

Eine Behinderung ist also als ein „zwangsläufiger Verzicht“ zu betrachten. Nun ist dieser doppelte Begriff natürlich widersprüchlich, weil ein Verzicht eine Wahl bedeutet und deswegen nicht ganz zwangsläufig sein kann. Ein Mensch der nicht gehen, denken oder sprechen kann, hat sich dafür nicht entschieden und ist ja eher, wie Martin Heidegger sagen würde, in den Umstand der Behinderung „geworfen“ worden.

Entscheidend für das anthroposophische Denken über Behinderung ist aber gerade der Gedanke, dass ein Entschluss vorliegt, der allerdings vor der Geburt getroffen worden ist. Laut Rudolf Steiner gestaltet der Mensch sein eigenes Leben – er wirft sich selber in die spezifischen Umstände seines Lebens. Warum? Weil er dadurch zu spezifischen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften gelangt. Dadurch, dass wir uns nach der Geburt nicht bewusst an den vorgeburtlichen Entschluss erinnern können, erleben wir die Umstände unseres Lebens als zwangsläufig.

(Die einzige Erinnerung die da ist, nennen wir „Ahnung“. Wir spüren, dass gewisse Umstände etwas mit uns zu tun haben, d.h. nicht willkürlich auf uns zu kommen. Interessant an dieser Stelle ist, dass Steiner die Ahnung, genauso wie Plato, als eine wichtige Tür-zum-Wissen versteht. Seinen Ahnungen nachzugehen & sie zu untersuchen & zu prüfen führt, laut Rudolf Steiner, zu einem Wissen-von-sich-Selbst. In einer Kultur des Herzens werden Ahnungen ernst genommen.)

Noch ganz abgesehen davon, ob wir uns mit dem Gedanken eines vorgeburtlichen Entschlusses anfreunden können, scheint mir eine fruchtbare Frage zu sein: Wenn jemand nicht gehen, oder nicht sprechen, oder nicht denken kann, oder nicht ... zu welchen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften führt denn das? Könnte diesbezüglich eine Art Phänomenologie der Wirkungen der Behinderungen entstehen, die unsere Bewertungen vom defizitären Denken befreit?

Eine Phänomenologie der Wirkungen von Behinderung könnte nur aus konkreten Beschreibungen bestehen. Ich meine, dass ein paar von solchen Beschreibungen schon in den Kommentaren zu meinen zwei Blogs der letzten Wochen zu finden sind. Ich würde mich freuen, wenn noch mehr Erfahrungsberichte folgen.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Oh je, ich kann's nicht mehr hören und lesen: diese tiefschürfenden Gedanken, die sich Nicht-Behinderte über Behinderte machen. Das ist ungefähr so relitätsnah, wie Beiträge von Männern zu dem spezfisch Weiblichen im Wesen einer Frau und einer "Entwicklungshilfe", die von Menschen geplant und durchgeführt wird, die sich nicht an dem Einmaligen und So-Geworden-Sein der Empfänger dieser "Entwicklunghilfe" orientiert, sondern die ihre Standards alleine aus den Vorstellungen der Entwicklungshelfer darüber bezieht, was "den anderen" fehlt.
Ich habe das "Privileg" beide Seiten zu kennen: bis in meine frühen zwanziger Jahre war ich "normal" und seitdem bin ich (körper)behindert. Aus dieser Perspektive schlage ich folgende Umschreibung von Behinderung vor: Behinderung drückt sich NICHT primär darin aus, dass ich etwas nicht kann, was die meisten Menschen können, sondern darin, in welchem Umfang mich die anderen Menschen (durch ihre fixierte Tunnelwahrnehmung auf meine Behinderung) und die durch sie geschaffenen Bauwerke, in meinen Entfaltungsmöglichkeiten behindern!
Und noch etwas. Es gibt sie nicht: die Behinderten. Sie sind genau so differenziert und individuell wie alle anderen Menschen auch - mal ganz abgesehen davon, dass "die Behinderten" sich auch ganz gravierend dadurch unterscheiden, ob es sich um eine Früh- oder Geburtsbehinderung oder eine Spätbehinderung, um eine sog. geistige Behinderung (umgangssprachlich ausgedrückt) oder eine chronifizierte psychische Erkrankung handelt. Von "den Behinderten" zu sprechen ist ungefähr so geistreich, wie Aussagen über "die Männern" und "die Ausländern", etc. von sich zu geben.
Und das Nicht-vorhanden-Sein einer spezifischen Begabung (der Musikalität) in seinen Gedanken und Überlegungen auch nur in die Nähe von einer sog. Behinderung zu rücken, zeugt von totaler Ignoranz. Es gab in den 70er Jahren mal so einen Slogan:" Wir sind doch alle irgendwie behindert!" Eine solche Dummheit kann wirklich nur jemand von sich geben, der ganz und gar nicht betroffen ist und sich damit vor der "Anforderung" schützt, sich tatsächlich darin einzufühlen, welch' ein Lebensgefühl entsteht, wenn andere Menschen einen (fast) ständig behindern.
Schon einmal einen Menschen mit Down-Syndrom beobachtet, wenn er sich Sinneseindrücken (Natur, Tiere, Musik) ganz hingibt? Oder einen "behinderten" Sportler, der sich vollständig auf den Wettkampf konzentriert? In solchen Momenten sind diese Menschen mitnichten "behindert"; das werden sie erst, wenn sie sich wieder in den Kontakt mit den "normalen" Menschen begeben müssen.
Ich finde es auch sehr aufschlußreich, dass es in den bisherigen Kommentaren überwiegend um Behinderungen ging, die von Geburt an vorhanden sind. Ja, so ist die anthroposophische Blickrichtung: für einen Menschen, der ein solch' schweres Schicksal mit auf die Erde bringt, muss man sich einsetzten. (Es könnte sich ja auch um eine bedeutende Persönlichkeit handeln, die eine "Ausruhinkarnation" durchmacht...)Was aber macht man mit einem Menschen, der plötzlich körperbehindert ist? Das Verhalten, welches sich als Antwort auf diese Frage ergab, war mehr als 1x derart "einfühlsam", dass ich es, seit inzwischen mehr als einem Jahrzehnt, vorziehe nicht mehr in anthroposophischen Zusammenhängen zu arbeiten, da ich außerhalb von diesen deutlich weniger behindert werde. Hm, was lässt sich aus dieser Erfahrung nun schließen???
In diesen Kontext passt auch der Hinweis auf die vorgeburtliche Entscheidung. Sicher, es gibt sie, ohne jeden Zweifel. Und daraus lässt sich auch ableiten, dass jeder Mensch für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist. Problematisch wird dieses Wissen nur, wenn es quasi gegen den Betroffenen angewandt wird, indem man es ihm um die Ohren haut und sich selber so vor einem Mitfühlen schützt. Warum auch sollte man den (seelischen) Schmerz eines Menschen aushalten und ihm hilfreich zur Seite stehen, wenn er sich das alles doch selber "eingebrockt" hat? Ja, die Verantwortung für das eigene Schicksal ist eine Realität, aber niemand hat das Recht, dies einem Betroffenen in bester Schulmeister-Manier unter die Nase zu halten. Diese Tatsache kann ein Betroffener nur aus freien Stücken und ganz für sich alleine entscheiden/annehmen. (Und wenn er dies kann und sich eben nicht an dem grausamen (da sinnlosen!) "Warum ich!!!" den (seelischen) Hals bricht, so ist dies ein Akt der Gnade seitens der geistigen Welt!)
Diese Gedanken verstehen sich durchaus als Beitrag zu einer "Phänomenologie der Wirkung von Behinderung".

Anonym hat gesagt…

Ich möchte noch von einer Begegnung mit einem Menschen erzählen.
Ich habe eine Patentante, die in der Pfalz wohnt. Als Kind durfte ich ein paar Mal einige Wochen in den Sommerferien bei ihr verbringen. Die Tante hatte mehrere Kinder; in dem gleichen Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebte,wohnte auch noch ihre Schwester und deren Familie. Ein Kind mit Down - Syndrom. Sie hieß Barbara. Barbara hatte einen besonderen Bezug zu meiner Patentante, ihrer leiblichen Tante, und war viel lieber in ihrer Familie. Ich mochte Barbara ganz gern und sie mich. Barbara nannte sich selbst Baralla. Sie liebte Musik und Singen und Bewegung zu Musik. Ich hatte in einem Kindergarten einen sogenannten Sitztanz gelernt. Es ist ein Gesang, zu dem man im Kreis sitzend verschiedene Bewegungen mit Armen und Beinen machte. Den zeigte ich Barbara. Sie war voll begeistert und wollte ihn immer wieder mit mir und anderen Kindern machen. Vor kurzem hat meine inzwischen recht alte Patentante mit mir telefoniert. Barbara ist nun Mitte 40. Die Tante meinte, Barbara könne den Sitztanz immer noch. Sie hat mich daran erinnert. Ich habe ihn selbst komplett vergessen, die Musik und die Bewegungen. Ich weiß nur noch, dass es ihn gab.
Barbara hat manchmal herzzerreißend geweint, vor allem über Lieblosigkeit. Ihr Weinen hat mich immer zutiefst gerührt.

Anonym hat gesagt…

Behinderung als Schicksal(3) habe ich gelesen und dachte dabei an meine Freundin die im Alter von 25 Jahren ein Motorunfall hatte. Zuerst war sie einige Zeit in Coma, dan revalidierte sie in verschiedene Häuser und wohnte dann in Leendert Mees Huis in Bilthoven(NL) Dann möchte sie mehr selbständig leben und zog ein in eine kleine Wohngemeinschaft. Leider klappte das nicht und jetzt wohnt sie bei ihre Eltern zu Hause. Sie übt jeden Tag und ist sehr liebevoll und nett. Immer wieder ist sie sehr dankbar wenn man sie besucht, schreibt oder telefoniert. Eine nicht angeborene Behinderung ruft(wenigstens für mich) viele Fragen auf.
Herzliche Grüssen
Wim Maas

Anonym hat gesagt…

lieber anonym.. ich habe dies ganz genauso erlebt und ganz besonders in bezug auf meinen sohn erlebt. zunächst galt er als normal, dann als behindert und zu guter letzt als höchstbegabt nach sechs jahren heilpädagogischer schule. so ist die begegnung mit dem anderen sehr deutlich auch und mit von unseren gedanken über den anderen abhängig. das kann und konnteschon immer zu fataler situationen führen. wer ist davon frei? ich bemühe mich es zu üben und dabei öffnen sich ganz neue perspektiven.