25.02.2011

Umbruch in Arabien. Die Bedeutung einer tiefen Verwandtschaft

Die arabische Welt bewegt sich, und stellt in ihrer Bewegung, in ihrem Vorsatz, sich auf Kommendes zu orientieren, die europäischen Länder vor eine Probe. Was in Europa seit langem stillschweigend als Widerspruch akzeptiert wurde, als Lüge wenn man will, wird durch den Aufbruch auf einmal deutlich ins Licht gehoben, und aus diesem Grund ist die Ratlosigkeit in Europa groß.

Der Widerspruch beherrscht das europäische Handeln in der Welt bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert. Einerseits meinen die „erleuchteten“ Länder etwas in die Welt bringen zu müssen: die humanistisch-christliche Moral, die Freiheit, die Demokratie, die Trennung von Staat und Religion, die Würde des Menschen... Europa hatte und hat diesbezüglich ein eindeutiges Selbstverständnis: es ist weltweit zuständig für alles was „Aufklärung“ heißt.

Andererseits hat Europa sich unverschämt aus der Welt geholt, was es braucht: Sklaven, Gold, Silber, Diamanten, Kaffee, Tee, Pfeffer und zuletzt auch billige Arbeitskräfte und Unmengen an Öl. Nur wenige Europäer wissen zum Beispiel, dass die Industrialisierung in ihren Ländern damals mit dem Gold und dem Silber aus Peru, Kolumbien und Bolivien finanziert worden ist. Und heute ist Europa absolut abhängig von den Öl-Lieferungen aus den arabischen Ländern. (Ein Drittel des Öls, das in Deutschland täglich verbraucht wird, kommt aus Libyen.)

Die Lieferung der Güter wurde und wird durch politische, diplomatische und militärische „Maßnahmen“ abgesichert, die nicht mit den aufgeklärten moralischen Botschaften zu vereinbaren sind. Mit der Botschaft der Freiheit kam gleichzeitig die Realität der Unterdrückung. Bereits 1860 veröffentlichte der Holländer Multatuli sein Buch „Max Havelaar“, in dem er an Hand der damaligen Situation in Indonesien den Widerspruch kristallklar aufdeckte. Und seitdem wissen die Europäer eigentlich auch, dass sie in einer Lüge leben, auch wenn sie dies meistens nicht zugeben.

Die arabisch diktatorischen Herrscher haben den europäischen Belangen bis zum gestrigen oder eben heutigen Tag gedient, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens haben sie die Lieferungen von Öl und anderen Produkten an Europa sicher gestellt, wofür sie (nicht die Völker) reichlich belohnt wurden. Das Geld, das die diktatorischen Clans auf diese Art und Weise gesammelt haben, wird auf Konten von europäischen Banken, vor allem in der Schweiz, aufbewahrt.

Zweitens haben die arabischen Herrscher die Angst der Europäer vor „muslimischem Fundamentalismus“ nicht nur übernommen, sondern in der eigenen Bevölkerung systematisch angestachelt. Eine negative Darstellung des Islams wurde kreiert und immer wieder neu belebt. Vor kurz noch meinte Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi, dass er dafür gesorgt hätte, dass Typen wie Osama bin Laden in ihre Schranken verwiesen wurden. Die tragische Verschränkung der europäischen Ängste mit den Interessen der arabischen Alleinherrscher hat zur Geburt eines Islam- Doppelgängers geführt.

Und nun sind es die arabischen Schwestern und Brüder, die Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit verlangen. Sie erinnern die Europäer nicht nur daran, dass sie ihre Nachbarn sind, sondern auch daran, dass sie eine gemeinsame Geschichte haben, die uralt ist. Die Zeugnisse dieser Geschichte sind zum Beispiel in den Büchern der drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam – zu finden, vor allem allerdings auch in den politischen, kulturellen und sozialen Idealen, die sich auf die Frage der Gemeinschaft beziehen. Was ist Gemeinschaft? Gerade in dieser Frage begegnen sich die Nachbarn.

Die arabischen Schwestern und Brüder stellen die europäischen Nachbarn auf eine Probe. Rein intellektuell, so könnte man sagen, geht es dabei um eine alte „philosophische“ Frage: Wie sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ZUSAMMEN zu denken? Oder anders gesagt: Wie kann der Widerspruch zwischen christlich-humanistischer Moral einerseits und wirtschaftlichem Handeln (in der Gestalt des Kapitalismus) überwunden werden? Die Frage ist allerdings nicht als eine rein intellektuelle Sache zu verstehen, sie ist eine soziale Angelegenheit geworden. Aus europäischer Sicht stellt sich die Frage so: Was ist Europa ohne Arabien? Die Antwort ist schlicht und einfach: nichts.

Arabien ist im Kommen. Es ist ein Missverständnis zu meinen, dass alles, was im Kommen ist, auch unbedingt angenehm ist. Wenn Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein, Jordanien, Palästina und all die anderen arabischen Staaten sich in Richtung Demokratie bewegen, ändern sich die existentiellen Voraussetzungen, nicht nur für Israel im Besonderen, sondern auch für Europa und die USA insgesamt. Die arabischen Völker werden den Schatten der Vergangenheit – sie beruhen auf einem Denken, das aktuell noch immer in Europa herrscht - ohne Ängste thematisieren. Auch das ist nämlich Freiheit: Handeln ohne Angst.

Um Europa zu erhalten, das heißt, um den großen Ideen treu zu bleiben, die den europäischen Diskurs ausmachen, auch wenn sie angeblich paradox sind, ist es notwendig, dass Europa sich an dem arabischen Diskurs, der im Grunde genommen auf den gleichen Idealen beruht, allerdings einen anderen Weg gegangen ist, beteiligt. Was sagt uns dieser andere Weg über die Ideen und Ideale, die beides sind: Ein Startpunkt aus der Vergangenheit und eine Bestimmung für die Zukunft?

Als der große Europäer Friedrich Schiller so locker und selbstverständlich schrieb: „Alle Menschen werden Brüder!“, was schwebte ihm dabei vor Augen? Eine sichere Bestimmung? Oder war er einfach naiv idealistisch? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, inwieweit Europa seine Brüder als Brüder und seine Schwestern als Schwestern annimmt. Ein wunderbarer Aspekt der Umbrüche in den arabischen Ländern liegt darin, dass diesbezüglich ein Angebot gemacht wird. Manche Araber hassen die Europäer und suchen trotzdem Anerkennung auf Grund der tiefen Verwandtschaft.

19.02.2011

Meine Freunde, die Ägypter und ich. Alte Fragen in neuen Kleidern

Immer wieder weisen die wunderbaren Fäden des Lebens auf Zusammenhänge hin, die sich schwer erklären und „denken“ lassen. Ich bin manchmal in Bezug auf die fein-feurig-farbigen Flechtwerke zwischen Menschen sprachlos, staune über diese fast leichtsinnig hin und her springenden Funken, die gemeinsamen musikalisch klingenden Lebensmotive und vor allem auch über die so genannten „Aufgaben“, die erst in Begegnungen eine Gestalt bekommen.

Das Leben fügt sich, öffnet Türen, stellt Weichen. Im Moment befinde ich mich in einem gesteigerten Zustand der Sprachlosigkeit. Ich wäre nicht einmal halbwegs im Stande in einem Text zu beschreiben, wie die Schicksalsverbindungen, die Berührungen und Verkettungen, die Referenzen und Analogien sich gerade in den letzten Monaten in meinem Leben zeigen. Das Leben scheint mir im Moment ein Buch zu sein, dessen tausend Seiten sich gleichzeitig im Jetzt lesen lassen. Und ja, die Botschaften sind schwindelerregend.

Alte und fast vergessene – müsste ich sagen: abgehakte? – Verbindungen zu Menschen und Gruppen von Menschen werden auf einmal höchst aktuell. Sie drängen sich nicht auf, sondern erscheinen zögernd-schüchtern in meinem Blickfeld, stellen behutsame Fragen, knüpfen an Vergangenes an, orientieren sich allerdings auf Zukünftiges. Mir scheint es so zu sein, dass die alten und bekannten Themen neue Kleider gefunden haben und sich wieder auf den Boulevard St. Michel wagen.

Und ich brauche sie nur zu begrüßen, was ich allerdings nicht MUSS. Ich kann es auch lassen und mich abwenden, was im Grunde genommen bedeutet: in meiner Stube (Rainer Maria Rilke: „drin du alles weißt“) bleiben. In dieser Stube, die ich erst in den letzten zehn Jahren gebaut und eingerichtet habe, bin ich sehr gerne, weil es dort eine Ruhe zum Reflektieren und die Nähe zur Poesie gibt. In dieser Stube bin ich so richtig bei mir.

Es sind nicht nur alte Freunde, die sich melden, auch neue klopfen an die Tür meiner Stube, sagen etwa: „Hallo, ist jemand da? Habe gehört, dass hier jemand lebt...“ – und ich öffne dann die Tür und staune: Vor mir steht ein Mensch, den ich nicht kenne, dessen Blick mir aber sehr bekannt vorkommt, als ob er vertrauten Sternenstaub zu mir schickt. Nein, ich lasse die Menschen nicht in meine Stube hinein, setze mich aber mit ihnen auf eine Bank in meinem Garten und schaue auf die Schneeglöckchen, die gerade schüchtern anfangen zu blühen.

Und ich höre zu. Und rede. Und merke, dass offenbar etwas ganz Bestimmtes ansteht. Die Freunde scheinen sich im Moment eine bestimmte Frage zu stellen. Und diese Frage ist genau die Frage, die ich in den letzten zehn Jahren in meiner Stube versucht habe zu begreifen. Ich weiß leider nicht, wie diese Frage fest umrissen zu beschreiben wäre.

Sie scheint, wie die tausend Seiten des Lebensbuches, tausend Gesichter zu haben. Ich kann nur versuchen, die Frage annähernd zu beschreiben, in der Hoffnung, dass die Leser mich korrigieren, meine Worte ergänzen, neue Ebenen der Fragestellung erörtern, dringend nachfragen, Fragezeichen in Ausrufezeichen verwandeln... (Sprachlich übrigens eine interessante Angelegenheit: Diese Frage scheint nur als Performance in Erscheinung treten zu wollen.)

Die Frage hat mit Beziehung zu tun, und mit organischem und elegantem Umbruch. Sie scheint irgendwie ein Licht auf konkrete Schicksalsbezüge werfen zu wollen, etwa auf die Möglichkeit FLIESSEND miteinander in ein Kommen zu geraten, ohne großartige Entscheidungen treffen zu müssen, Vereine zu gründen, Kongresse zu organisieren, Fonds einzurichten... Die Frage hat die Aura von Merkur: Sie kommt und geht, glänzt und rollt wie Quecksilber (klingt also wie die Stimme von Silvio Rodríguez: „En busca de un sueño“), ist immer nur als Tropfen da und rutscht weg, wenn das Gleichgewicht fehlt.

Die Frage versucht die Vorhaben und Aufgaben und Ziele (und was es sonst noch so gibt) gleichzeitig nach unten und nach oben zu verschieben, in gewissem Sinne zu spalten. Nach unten geht es dabei um die Frage: Was macht unsere Beziehung aus, was kann sie tragen, was kann sie bewirken, welche Weichen können wir auf die Basis unserer Verbindung stellen? What difference can we make, just the two or three or four of us?

Und nach oben: Wie geraten wir in die Leichtigkeit des Fließens? Vielleicht ist diese Frage verkehrt formuliert, und sie müsste lauten: Wie kommen wir von der Schwere weg, von jeglichem „koordinieren“ und „planen“ und „umsetzen“ und „durchsetzen“ wollen, von „Projekten“ und „Konzepten“, von gewichtigen „Sitzungen“ und „Vereinbarungen“. Ich meine, gerade an dieser Stelle haben die Tunesier und die Ägypter uns in den letzten Wochen etwas gezeigt. Der Umbruch in diesen Ländern war (bis jetzt) gerade das: organisch und elegant, und Gott-sei-dank unaufhaltsam, genau wie Merkur auch.

12.02.2011

Praktiken einer Kultur des Herzens (3). Florian Lück erzählt

Florian Lück beantwortet gerne meine Fragen, die ich allerdings in diesem Text weglasse. Der Leser braucht meine Fragen nicht, um zu verstehen, was Florian zu sagen hat. Also spricht Florian, ohne eine Einmischung meinerseits:

„Ganz offensichtlich wohne ich in einem alten Gutshaus, das zu einem großen Teil immer noch eine Baustelle ist. Mit mir wohnen noch zehn andere Menschen mehr oder weniger fest hier und dazu kommen immer wieder Gäste, die kürzer oder länger bleiben. Der Grund für das, was hier passiert, ist die Idee einiger Menschen, einen sozialen Freiraum zu schaffen. Es geht um den Versuch, ein Milieu zu kultivieren, das dem einzelnen Menschen gewidmet ist. ´Schone fremde Freiheit – und zeige deine eigene!` ein Zitat Schillers, das im Weiteren beides als unendlich schwierig beurteilt.“

„Dieses innere Geschehen spielt sich äußerlich auf einem, sich im Wiederaufbau befindlichen historischen Gut ab, in einem kleinen Dorf in Nordvorpommern. Ich selbst befinde mich hier als Hausmeister, Gärtner, Handwerker, als Verwalter, Feuerwehrmann und Gemeindevertreter, als Nachbar und Dorfbewohner, aber auch als Gesprächspartner, als Gegenüber, als Wahrnehmender und Spiegelnder, als Freund oder Gefährte, bald als Vater, aber vor allem als Mensch, als ich selbst. Der eigentliche Bau, die unsichtbare Architektur des Freiraums, setzt voraus, dass ich bei mir bin, dass ich, so gut ich kann, so authentisch und wahrhaftig wie möglich, mich selbst lebe – für andere.“

„So geht es hier zuerst vielmehr darum, sich in Frieden zu lassen, zu üben, sich gegenseitig frei zu lassen; und auf der anderen Seite darum, das eigene Freiheitswesen, den eigenen Impuls zu finden und ihm Ausdruck zu verleihen. Mit dem Freiraum eröffnet sich ein offenes Feld das freilässt, was geschehen soll, was zu geschehen hat, was anstrebenswert wäre. Es geht einerseits um eine Balance zwischen dem Gefühl, ein absolut sinnloses Projekt zu machen, und andererseits der Ahnung, dass heute nichts wichtiger, notwendiger, fruchtbarer, ja schöner für eine zukünftige Gesellschaft ist, als diese Kultursubstanz.“

„Ich stehe meistens so um acht Uhr auf – öfters auch früher, manchmal auch später. So gut wie immer ziehe ich meine Baustellenklamotten an, packe Laptop und Handy, gehe kurz ins Badezimmer und dann in die Küche. Ich mache mir einen Kaffee und gehe auf die Veranda, schaue in den verwilderten Gutspark direkt gegenüber, lasse das Wetter und die ganze Atmosphäre auf mich wirken und horche, was bei mir so los ist – was aus der Nacht oder dem gestrigen Tag noch nachklingt oder was vielleicht vor mir liegt.“

„Ich will, dass das Haus bewohnbarer wird, mehr Gästezimmer entstehen, dass Park und Garten wieder glänzen. An einem normalen Tag – hm, normale Tage gibt es nicht! – findet man mich in entsprechenden Tätigkeiten. Aber genauso arbeite ich, wenn ich zwei Stunden in ein Gespräch vertieft einem anderen Menschen begegne; oder wenn mir eine neue Facette des Freiraums bewusst wird. Eigentlich wache ich gerade erst an meinem Arbeitsplatz auf, an dieser unsichtbaren Baustelle einer menschlichen Gesellschaft.“

„Unser Versuch, einen Freiraum zu kultivieren, erforderte unserer Ansicht nach auch einen freien Arbeitszusammenschluss, und eben keine gemeinsame existentielle Bindung an eine Rechtsform die ein Einkommen verteilt. Die Entscheidung zur Zusammenarbeit sollte nicht aus der Not geboren werden, ein Einkommen zu bekommen. Darüber hinaus begeistert mich die Idee der Trennung von Arbeit und Einkommen im Hinblick auf eine Gesellschaft, in der ich gerne leben würde. In einer solchen richten die Menschen ihre Biografie mehr und mehr danach aus, was sie ihrem eigenen Impuls nach tun wollen und nicht, und nicht danach, wo es Geld zu verdienen gibt.“

„Mir scheint es, dass die in unserer Arbeitswelt durchaus vorhandene Brüderlichkeit im Wirtschaften nicht zum Bewusstsein und zum Erleben kommt, weil das egoistische Motiv Geld-für-sich-selber-verdienen viel zu stark ist. Wie soll ich eine Arbeit lieben, zu der mich die Notwendigkeit eines Einkommens zwingt? Was mich nicht frei lässt, kann ich nicht lieben. Die Arbeit von diesem Bleischleier irgendwie zu erleichtern, scheint mir angemessen, sowohl für den Einzelnen als auch für die Arbeit selbst.“

„Mein Einkommen kommt dadurch zustande, dass verschiedene Menschen mir im Monat einen größeren oder kleineren Betrag auf mein Konto überweisen, so dass ich zurzeit gute 500 Euro habe, mit denen ich einigermaßen auskomme. Unser Freiraum, der sich dazu noch bis heute dagegen wehrt, sich von einer juristischen Person fassen zu lassen, entzieht sich auch einer ´Verkaufbarkeit von Ergebnissen`, zum Beispiel Stiftungen gegenüber, die auch noch das Problem haben, nicht Menschen, sondern gemeinnützige juristische Personen mit Geld fördern zu dürfen oder im höchsten Fall Menschen für bestimmte Ergebnisse honorieren dürfen. Aber wirklich schenken, frei, bedingungslos, mit vollem Risiko, ergebnissoffen? Was soll daran steuerrechtlich gemeinnützig sein?“

04.02.2011

Das offene Feld der Freundschaft. Über Ehrlichkeit und Treue

Ehrlichkeit und Treue gehören zu den Tugenden, die einer freundschaftlichen Beziehung dienlich sind. Sie machen allerdings im Grunde genommen eine Schere aus: Dort wo sie sich kreuzen, tut es manchmal richtig weh. Ehrlichkeit bezieht sich auf Wahrheit, und Wahrheit verstehen wir manchmal als Grundlage unserer Entscheidungen, was „scheiden“ und „trennen“ bedeutet. Mit einem Willen zur Wahrheit, mit Ehrlichkeit also, geht immer eine Gefahr einher: Mein Freund könnte mir etwas enthüllen oder verraten, (oder etwas tun), mit dem ich, warum auch immer, nicht leben könnte oder wollte.

Das Ideal der Treue hingegen, hat mit Wahrheit gerade nichts zu tun; es verspricht eine Verbindung, die darauf beruht, dass Scheidungen und Trennungen gerade nicht anstehen. Die Bedeutung des Wortes Treue geht auf das indo-germanische "deru" zurück, was Eiche bedeutet; Treue heißt also etwa: fest sein wie eine gewichtige Eiche. Vollkommene Treue ist bedingungslos, hat also einen Kern, in dem trennende Überlegungen keine Wirkung oder keinen Einfluss haben. Dort wo Treue herrscht, sind die Verhältnisse gefügt, ist die Welt eindeutig konstituiert, werden unwandelbare und unbezweifelbare Voraussetzungen geschaffen und gehandhabt.

Treue sucht man nicht, man übt sie höchstens aus. Wahrheiten hingegen müssen immer wieder gefunden werden. Wahrheiten nehme ich an, oder lehne ich ab. Die Feststellung, dass etwas „unwahr“ ist, gehört somit wesentlich zur Tätigkeit einer Wahrheitsfindung; anders gesagt: Die Idee der Wahrheit umfasst die Unwahrheit, eben auch die Lüge. Von seinem Wesen her ist Wahrheit vielfältig und differenziert, Treue hingegen erweist sich als einheitlich und geschlossen, was bedeutet, dass ein Akt der Untreue per definitionem das Ende von Treue bedeutet.

Die Tätigkeit der Treue – kann man eigentlich diesbezüglich von einer Tätigkeit sprechen? – umfasst keine Untreue, im Gegensatz zum Willen der Wahrheit der die Unwahrheit mit einschließt. Nur der Wille zur Wahrheit ist im Stande begrifflich Treue und Untreue zu umfassen. Eine Verletzung der Treue läuft deswegen immer über die Wahrheit: Sie stellt fest, dass etwas nicht oder anders gesagt worden ist, eine „Lüge“ also ans Tageslicht gekommen ist, die zu einer Vertrauensfrage führt. Im Zustand des Vertrauens berühren sich Ehrlichkeit und Treue.

Treue ist eine Urgewalt. Sie ist der Wille zum Tragen. Sie ist der Untergrund des Lebens, Basis und Fundament, Masse und Substanz. Auf meine Treue-zu-Dir allerdings ein Licht zu werfen, ist schwierig, vielleicht eben unmöglich, vor allem paradox: Sobald sie beleuchtet wird, wird sie in Frage gestellt. Treue ist eine Sache des reinen Wollens, vergleichbar mit dem Tiefschlaf: Wir kommen mit unserem normalen Bewusstsein nicht an die Treue heran, können sie höchstens „erleben“, was – als Erkenntnis verstanden – ein Akt der Intuition ist.

Treue ist eine Wirkung der Liebe, die sich mit einer Art Tarnkappe in den dunklen Bereich des Wollens hineinbegibt, in untergründige Tunnel und Höhlen des Lebens, und dort Verbindungen stiftet. Im Gewand der Treue zeigt sich die Liebe als eine gewaltige Kraft, die nie in irgendeiner Vorstellung anschaulich gemacht, höchstens innerlich „gehört“ werden kann. Das Warum einer bestimmten Treue ist undenkbar, liegt im Bereich der Sprachlosigkeit, kann höchstens als Gefühl gespürt werden.

Wahrheit hingegen bedeutet immer ein Reflektieren, eine beleuchtende Distanzierung, eine Trennung zwischen mir und Dir, zwischen mir und „Es“; mit ihr geht ein Schritt nach hinten und eine Öffnung nach oben einher, dorthin, wo das Licht von gestern auf den heutigen Tag scheint, wo die in der aktuellen Gegenwart vorhandenen Gegebenheiten in einer breiten Landschaft gezeigt werden. (Um es in den Worten von Sammy zu sagen: Wahrheit wird von links nach rechts, Treue von rechts nach links geschrieben.)

Die beiden Pole zwischen Ehrlichkeit und Treue öffnen in menschlichen Beziehungen ein dynamisches Feld von Spannungen; sie erzeugen kontinuierliche Unsicherheiten, die einen Grund in der Art und Weise haben, wie der Mensch beschaffen ist. Weil der Mensch beides ist, ein denkendes Wesen und ein wollendes Wesen, geht er in jeder menschlichen Beziehung zwischen zwei Säulen hindurch: An der einen Seite steht die leuchtende Wahrheit, an der anderen Seite die verhüllte Liebe; und in der Mitte sein damit ringendes Gefühl.