In den zwölf heiligen Nächten (2). Über das Lauschen, Fragen und Wollen
In den heiligen Nächten steht das Lauschen an. Im Lauschen, so schrieb ich letzte Woche, werden wir still. „Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können“. In den Kommentaren auf meinen Text entstand darauf eine interessante Wendung, die mich seitdem beschäftigt.
Die Wendung hat mit einer Frage zu tun, und zwar mit dieser: Liegt dem inneren Lauschen nicht immer eine – vielleicht verborgene – Frage zu Grunde? Kann man lauschen, ohne zu fragen? Bedeutet Lauschen nicht einfach: Eine Frage zu haben, die sich darin zeigt, dass wir etwas hören wollen? Oder vielleicht anders gesagt: Wenn ein Wollen vorliegt, in diesem Fall ein Wollen zum Lauschen, können wir dann sagen, dass somit in uns immer auch eine – vielleicht verborgene – Frage lebt?
In dieser Wendung vom Lauschen zum Fragen öffnet sich ein ganz großes Thema, das nicht nur mit dem Lauschen, sondern überhaupt mit dem Wollen zu tun hat. Man könnte das Wollen als eine unbewusste seelische Tätigkeit verstehen – im Wollen schlafen wir, erst im Denken sind wir komplett wach – die überhaupt als die Quelle unserer Fragen zu definieren wäre. Die Wendung beinhaltet also drei Schritte: der erste Schritt führt zum Lauschen, der Zweite zum Lauschen-als- Frage, der Dritte zur Frage-als-Wollen.
Ich will immer ETWAS hören. Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, kommen wir zwangsläufig zu Platon, der meinte, dass wir uns nur nach etwas sehnen können, was wir schon kennen – wir haben es nur vergessen. Alles Wollen und somit alles Fragen geht aus Sicht des griechischen Philosophen darauf zurück, dass es einmal eine Verbindung gab, eine Art einheitliche und runde Beziehung, die allerdings verloren gegangen ist. Platon zufolge sind wir immer auf der Suche, das zu heilen, was zerbrochen ist. Diese Sichtweise gehört zu den Kerngedanken einer spirituellen Lebensauffassung, und sie bedeutet im Grunde genommen, dass mich nur dasjenige berührt, was (schon) zu mir gehört.
Der (aristotelische) Einwand liegt nahe: In der platonischen Sichtweise kann es so etwas wie das „Neue“ nicht geben. Ich lasse die Spannung zwischen Altem und Neuem für heute einfach im Raum stehen. Um Platon allerdings nicht nackt dastehen zu lassen, diesbezüglich nur eine Bemerkung: das Neue liegt für Platon gerade in der Wiederkehr des Alten. Neu ist aus seiner Sicht, was wir aus dem Bereich des Verlustes bewusst zurück erobert haben.
Was ist aber eigentlich eine Frage? Spannend ist, was die Sprachwissenschaftler über das Verb „fragen“ zu sagen haben. Das Wort kommt so nur in der deutschen und niederländischen Sprache vor (vragen), und ist überraschenderweise mit „Furche“ (Ackerstrecke) verwandt. Die Grundbedeutung des Verbs ist also: „wühlen und aufreißen“, und damit sind wir in der Tat im Bereich des Wollens angekommen: erstens weil das unbewusste Wollen uns immer wieder aufwühlt, zweitens weil der Akt des Fragens zu etwas Aufgewühltem führt. Es ist wie mit einem Acker: Um neues Leben zu ermöglichen, muss er aufgewühlt werden.
Das innere und äußere Lauschen könnte also gleichzeitig in zwei Richtungen gehen: ich lausche auf „Etwas“ (eine zarte Stimmung in mir, das Singen einer Amsel beim Sonnenuntergang) und versuche mich so in meine Ohren hinein zu begeben, dass ich wirklich bei und mit und in diesem „Etwas“ bin. Um dies zu erreichen, muss ich mich irgendwie in etwas „Fremdem“ (was allerdings vielleicht gar nicht so fremd ist) verlieren. Und ich bewege mich gleichzeitig nach innen, zu diesem Ort, wo ich bei und mit und in mir bin, wo mein „sanfter Wille“ (Georg Kühlewind) sich bemerkbar macht.
Der vollkommene Akt des Zuhörens bedeutet so gesehen zweierlei: ich schlafe in „Etwas“ ein (verliere mich) und wache in einer Frage auf (finde mich wieder), die schon vorher meine unbewusste Frage war, im Aufwachen aber zur bewussten Frage wird. Wenn es zum Beispiel um das bezaubernde Singen einer Amsel geht, fällt mit sofort ein, was meine lebenslange Frage beinhaltet: Was macht die passionierte Mischung von Melancholie, Vertrauen und Dankbarkeit aus, diese herzzerreißende Hingabe zum Abschied? Und ich weiß, warum ich meine Freunde und Verwandten nicht gerne zum Bahnsteig begleite: Mit dieser leidenschaftlichen Art des Abschieds tue ich mich immer schwer. Ich sage lieber einfach: Tschüs!
Mit welcher Frage lebe ich aber in diesen heiligen Nächten? Ich sitze gerade in meiner Küche, schreibe diesen Text und höre auf Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“. Ich weiß nie, ob ich Bach hasse oder liebe, auf jeden Fall berührt er mich immer wieder. Und meine Frage ist auf einmal klar: Ich möchte so schreiben und leben, wie er Musik gemacht hat. Die unendlichen und vielseitigen Motive des Lebens trotz aller Dissonanzen transparent machen, das ist das, wonach ich mich heute sehne, da liegt meine Frage, das ist das, was ich will. Ich danke meinen Leserinnen und Lesern für diese schöne Wendung und hätte noch die Frage: was wollt ihr?