31.12.2010

In den zwölf heiligen Nächten (2). Über das Lauschen, Fragen und Wollen

In den heiligen Nächten steht das Lauschen an. Im Lauschen, so schrieb ich letzte Woche, werden wir still. „Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können“. In den Kommentaren auf meinen Text entstand darauf eine interessante Wendung, die mich seitdem beschäftigt.

Die Wendung hat mit einer Frage zu tun, und zwar mit dieser: Liegt dem inneren Lauschen nicht immer eine – vielleicht verborgene – Frage zu Grunde? Kann man lauschen, ohne zu fragen? Bedeutet Lauschen nicht einfach: Eine Frage zu haben, die sich darin zeigt, dass wir etwas hören wollen? Oder vielleicht anders gesagt: Wenn ein Wollen vorliegt, in diesem Fall ein Wollen zum Lauschen, können wir dann sagen, dass somit in uns immer auch eine – vielleicht verborgene – Frage lebt?

In dieser Wendung vom Lauschen zum Fragen öffnet sich ein ganz großes Thema, das nicht nur mit dem Lauschen, sondern überhaupt mit dem Wollen zu tun hat. Man könnte das Wollen als eine unbewusste seelische Tätigkeit verstehen – im Wollen schlafen wir, erst im Denken sind wir komplett wach – die überhaupt als die Quelle unserer Fragen zu definieren wäre. Die Wendung beinhaltet also drei Schritte: der erste Schritt führt zum Lauschen, der Zweite zum Lauschen-als- Frage, der Dritte zur Frage-als-Wollen.

Ich will immer ETWAS hören. Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, kommen wir zwangsläufig zu Platon, der meinte, dass wir uns nur nach etwas sehnen können, was wir schon kennen – wir haben es nur vergessen. Alles Wollen und somit alles Fragen geht aus Sicht des griechischen Philosophen darauf zurück, dass es einmal eine Verbindung gab, eine Art einheitliche und runde Beziehung, die allerdings verloren gegangen ist. Platon zufolge sind wir immer auf der Suche, das zu heilen, was zerbrochen ist. Diese Sichtweise gehört zu den Kerngedanken einer spirituellen Lebensauffassung, und sie bedeutet im Grunde genommen, dass mich nur dasjenige berührt, was (schon) zu mir gehört.

Der (aristotelische) Einwand liegt nahe: In der platonischen Sichtweise kann es so etwas wie das „Neue“ nicht geben. Ich lasse die Spannung zwischen Altem und Neuem für heute einfach im Raum stehen. Um Platon allerdings nicht nackt dastehen zu lassen, diesbezüglich nur eine Bemerkung: das Neue liegt für Platon gerade in der Wiederkehr des Alten. Neu ist aus seiner Sicht, was wir aus dem Bereich des Verlustes bewusst zurück erobert haben.

Was ist aber eigentlich eine Frage? Spannend ist, was die Sprachwissenschaftler über das Verb „fragen“ zu sagen haben. Das Wort kommt so nur in der deutschen und niederländischen Sprache vor (vragen), und ist überraschenderweise mit „Furche“ (Ackerstrecke) verwandt. Die Grundbedeutung des Verbs ist also: „wühlen und aufreißen“, und damit sind wir in der Tat im Bereich des Wollens angekommen: erstens weil das unbewusste Wollen uns immer wieder aufwühlt, zweitens weil der Akt des Fragens zu etwas Aufgewühltem führt. Es ist wie mit einem Acker: Um neues Leben zu ermöglichen, muss er aufgewühlt werden.

Das innere und äußere Lauschen könnte also gleichzeitig in zwei Richtungen gehen: ich lausche auf „Etwas“ (eine zarte Stimmung in mir, das Singen einer Amsel beim Sonnenuntergang) und versuche mich so in meine Ohren hinein zu begeben, dass ich wirklich bei und mit und in diesem „Etwas“ bin. Um dies zu erreichen, muss ich mich irgendwie in etwas „Fremdem“ (was allerdings vielleicht gar nicht so fremd ist) verlieren. Und ich bewege mich gleichzeitig nach innen, zu diesem Ort, wo ich bei und mit und in mir bin, wo mein „sanfter Wille“ (Georg Kühlewind) sich bemerkbar macht.

Der vollkommene Akt des Zuhörens bedeutet so gesehen zweierlei: ich schlafe in „Etwas“ ein (verliere mich) und wache in einer Frage auf (finde mich wieder), die schon vorher meine unbewusste Frage war, im Aufwachen aber zur bewussten Frage wird. Wenn es zum Beispiel um das bezaubernde Singen einer Amsel geht, fällt mit sofort ein, was meine lebenslange Frage beinhaltet: Was macht die passionierte Mischung von Melancholie, Vertrauen und Dankbarkeit aus, diese herzzerreißende Hingabe zum Abschied? Und ich weiß, warum ich meine Freunde und Verwandten nicht gerne zum Bahnsteig begleite: Mit dieser leidenschaftlichen Art des Abschieds tue ich mich immer schwer. Ich sage lieber einfach: Tschüs!

Mit welcher Frage lebe ich aber in diesen heiligen Nächten? Ich sitze gerade in meiner Küche, schreibe diesen Text und höre auf Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“. Ich weiß nie, ob ich Bach hasse oder liebe, auf jeden Fall berührt er mich immer wieder. Und meine Frage ist auf einmal klar: Ich möchte so schreiben und leben, wie er Musik gemacht hat. Die unendlichen und vielseitigen Motive des Lebens trotz aller Dissonanzen transparent machen, das ist das, wonach ich mich heute sehne, da liegt meine Frage, das ist das, was ich will. Ich danke meinen Leserinnen und Lesern für diese schöne Wendung und hätte noch die Frage: was wollt ihr?

25.12.2010

In den zwölf heiligen Nächten. Die Entzündung einer Kultur des Herzens

In den zwölf heiligen Nächten, so besagt die Tradition, öffnen sich die Türen zur geistigen Welt. Die Schwelle zwischen Himmel und Erde, so heißt es, wird durchlässig. In der Verinnerlichung, die mit Weihnachten einher geht, wird ein gesteigerter Dialog zwischen mir und Mir, zwischen dir und Dir und – würde ich sagen – zwischen Dir und Mir möglich. Und weil es sich um einen geistigen Dialog handelt, der über die üblichen Erkenntnisse hinaus geht, steht die Tätigkeit des Lauschens an.

Lauschen gehört zu den schönsten Wörtern der deutschen Sprache. Lauschen ist eine Sache der Ohren, diese wunderbaren und eleganten Wölbungen an unseren Häuptern, die sanft das greifen, was eigentlich nicht zu ergreifen ist. Wenn man versucht die Laute des Wortes zu „schmecken“ – Wörter zu schmecken ist eine poetische Haute Cuisine – gerät man innerlich spontan in eine Bewegung, die irgendetwas mit schleifen und rauschen und tasten und auch mit fangen zu tun hat – einem Fangen allerdings, das eher passiv funktioniert, so, als ob es gelänge, Schmetterlinge dazu zu verführen, freiwillig ins Netz zu flattern.

Lauschen ist eine ganz leise und ganz zarte Implosion. Die Ohrmuscheln wölben sich nach außen, werden von Klängen berührt, die sie in sich aufnehmen und nach innen leiten, man könnte vielleicht besser sagen: nach innen begleiten, und dort – wo ich bei Mir bin – eine neue Form anbieten, eine wesentliche Existenz. Rainer Maria Rilke dichtete: „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!/ O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!/ Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.“

Im Lauschen werden wir still. Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können. Ohne stilles Lauschen - keine Geburt. Das Bild ist uns ja vertraut: man setzt sich bei einer Kerze nieder, wird still wie die sanft flackernde Flamme, und lauscht... Und im Lauschen gelangt man in sich selber an eine Schwelle, wie im Winterwald: schüchtern wagen sich Rehe aus dem Dunkel auf die Lichtung.

Es geht beim Lauschen nicht um klare Gedanken, sondern um Gefühle, die wir manchmal ein bisschen unbeholfen mit Ahnungen, Sehnsüchten und Träumen gleichsetzten. Eigentlich müssen wir allerdings einräumen, dass uns die richtigen Worte fehlen. Die Stimmungen, die an der Schwelle zur geistigen Welt auf uns zu kommen, sind eher als Gestalten zu verstehen, mit denen man „sprechen“ kann – ein Sprechen, das eigentlich ein gegenseitiges Lauschen bedeutet. Gefühle – nicht Emotionen sind hier gemeint – sind tatsächlich wie Rehe: sie haben eine eigene Gestalt, einen eigenen Willen, eine eigene Domain.

In den heiligen Nächten geht es also um Natalität, um das ständige und meistens unbewusste Geschehen in uns, das uns leise nach vorne bringt. In den ersten heiligen Nächten bieten sich die Ahnungen und Sehnsüchte an, die uns berühren und verführen, dann folgen die Vorsätze, die wie Navigationsinstrumente im Reich-des-im-Kommen-Seins wirken: ein Vorsatz ist genau das, was das Wort ausdrückt: ein Vor-Satz, man kann sich immer statt nach links doch noch nach rechts bewegen. Und wenn die heiligen Nächte durch den Jahreswechsel geschritten sind, taucht das Bedürfnis nach Entscheidungen auf. Die Gestaltung des kommenden Jahres beruht auf der Aktivierung dieser großen Drei: Sehnsucht, Vorsatz und Entscheidung.

Interessant: beim Lauschen werden Sehnsüchte, Ahnungen und Träume aktiv. Sie bekommen einen Raum, einen inneren Ort, in dem sie in Erscheinung treten können, in dem sie ihre eigene Geschichte erzählen können, eine Erzählung, die es nur gibt, wenn wir ihr lauschen. Erzählungen, die nicht gehört werden, gibt es nicht, (so wie es auch keine Texte gibt, die nicht gelesen werden). Wäre es nicht schön, die verborgenen Erzählungen der heiligen Nächte ins Licht zu heben? Mit unserem Versuch entzündet sich eine Kultur des Herzens.

18.12.2010

Praktiken einer Kultur des Herzens (2). Über die Unternehmung Sil

In meinem vorletzten Weblog (05.12.2010) schrieb ich Folgendes über einen guten Freund, den ich als Schicksalsgefährten betrachte: „Sein Begabungsprofil besteht daraus, dass er konkret spüren kann, welche Potenziale zwischen den Menschen verborgen liegen. Man könnte nicht einmal sagen, dass er ein NETZWERKER ist, weil seine erweckenden Tätigkeiten weit darüber hinaus gehen. Ich betrachte ihn als einen SCHICKSALSWERKER“.

Auf der finanziellen Ebene, so berichtete ich weiter, kriegt er sein Leben allerdings nicht organisiert, was auch damit zu tun hat, dass die öffentliche Anerkennung für seine Begabung fehlt. Dazu schrieb ich: „Letztendlich müssen und können und dürfen es doch die „freien“ Bürger sein, die „Freunde“ also, die sich aus Freiheit dieser Verpflichtung stellen? Praktisch gesagt: zwanzig mal fünfzig Euro im Monat würden tausend Euro bringen. Und davon könnte ein erfahrener Schicksalswerker, der gewohnt ist, mit wenig Geld auszukommen, für eine Weile gut leben, sagen wir erst einmal: für ein Jahr?“ In den Kommentaren auf meinen Vorschlag entstand eine interessante Debatte – ich empfehle den Lesern, die neu dazu stoßen, die Beiträge nachzulesen.

Ich möchte an dieser Stelle von mir aus Folgendes sagen. Erstens sei gemeldet, dass viele Menschen per Email oder am Telefon auf den Vorschlag positiv reagiert haben. Es sieht so aus, dass Menschen aus drei Ländern – Belgien, Holland und Deutschland – sich an dem Projekt beteiligen werden. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: manche Menschen haben geahnt oder erkannt, um wen es hier konkret geht, und halten die Arbeit meines Freundes für wichtig. Andere meinen, dass die Zeit für solche Projekte reif sei. Warten auf „politische Entscheidungen“ (zum Beispiel in Bezug auf das Bedingungslose Grundeinkommen) würde nicht nur heißen, dass Chancen verpasst werden, sondern vor allem auch, dass an der persönlichen Verantwortung von freien Bürgern vorbei gegangen würde.

Ich werde in der nächsten Zeit von diesem Projekt auf meinem Weblog weiter berichten. Ich nehme mir die Freiheit, dem Projekt einen Namen zu geben: „Unternehmung Sil“. Dieser Titel kommt von einem Strandgutsammler aus Terschelling namens Sil. Er hatte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Mut, seinen Sehnsüchten zu folgen, entgegen den moralischen Gepflogenheiten seiner Zeit. Wie der Strandräuber Sil wandert mein Freund ständig zwischen sozialem Festland und dem Meer der Zukunft: die soziale Brandung ist sein weites Arbeitsfeld.

Zweitens möchte ich ein paar Missverständnisse wegräumen. In einer Kultur des Herzens wird nicht von „helfen“ gesprochen, sondern von „unterstützen“. Es geht ganz und gar NICHT darum, karitativ zu sein: von dem Gedanken, dass es „arme“ Menschen gibt, die von den Wohlhabenden Hilfe bekommen, ist eine Kultur des Herzens weit entfernt. Man sollte dazu an dieser Stelle auch verstehen, dass mein Vorschlag, 50 Euro pro Monat beizusteuern (was für manche Menschen viel Geld ist), nicht entscheidend ist. Einige Menschen haben dies auch erkannt, und sich auch mit einem geringeren Betrag gemeldet. Letztendlich könnte man auch EINEN Euro pro Monat beitragen – es geht nicht um die Menge, sondern um die Beteiligung. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man diesbezüglich eigentlich – wie üblich – von „Schenkgeld“ sprechen kann.

Es geht um die Beteiligung an der Biographie eines anderen Menschen, und die geht ja nicht ausschließlich über eine finanzielle Ebene. Wenn wir von „neuen“ Gemeinschaften reden – und sehnen wir uns nicht danach? – bleibt alles Gerede nur Gerede, wenn der Ausgangspunkt nicht in den konkreten Beziehungen zu konkreten Menschen gefunden wird. Es sind die individuellen biographischen Fragestellungen, die zeigen wo es lang geht, nicht die gesellschaftlichen, ideologischen und politischen Ziele – die doch immer abstrakt sind – und den heutigen Diskurs beherrschen. Die Achsen neuer Gemeinschaften bestehen aus freien und gewollten Beziehungen, und aus entsprechenden Entscheidungen die von Angesicht zur Angesicht getroffen werden.

Der französische Beziehungsphilosoph Emmanuel Lévinas beschrieb die aktuelle Lage in der europäischen Gesellschaft so: „Man möchte [in der heutigen Gesellschaft; JvdM] ein Verständnisprinzip, das den Menschen nicht mehr umfasst, dass das Subjekt ein Prinzip aufstelle, das nicht mehr von der Sorge um das Schicksal des Menschen umfasst werde.“ An die Stelle konkreter Beziehungen sind Staaten, Banken und karitative Stiftungen getreten, die – so besagt das Dogma – „objektiv“ urteilen können. In einer Kultur des Herzens existiert diese Objektivität nicht, weil Schicksal immer eine persönliche-überpersönliche Angelegenheit ist.

Mit konkreten Schicksalen sind konkrete Aufgaben, Anliegen und Vorsätze verbunden. Andere Aufgaben, Anliegen und Vorsätze gibt es nicht. Die Zeit, dass Menschen sich im Rahmen einer politischen Partei, einer Gewerkschaft oder einer wohlwollenden Stiftung auf abstrakte Ziele einigen konnten, ist längst vorbei. Die Knotenpunkte in einer Kultur des Herzens beruhen auf der gegenseitigen und freien Anerkennung der Begabungen und Intentionen von Menschen, die sich als Schicksalsgefährten verstehen. (Und es muss nicht einmal sein, dass man seine Schicksalsgefährten auch privat kennt.)

Eine große Frage bleibt allerdings, wie solche Projekte gestaltet werden. Ich werde die „Unternehmung Sil“ in der nächsten Zeit als Anlass nehmen, auf die Frage des Geldes und seiner Existenz in einer Kultur des Herzens zu schauen. Ich würde mich über Beiträge, Kommentare und Vorschläge sehr freuen, weil in einer Kultur des Herzens der Weg nur gemeinsam gefunden wird. Ich würde sagen: was wir brauchen sind Konferenzen an der Brandung.

12.12.2010

Ein unsichtbares Komitee. Der kommende Aufstand

Ich räume ein, der Text hat mich elektrisiert. Vor allem die ersten siebzig Seiten sind brillant geschrieben, die Analysen scharf und manchmal sehr überzeugend, die rhetorischen Flammen heiß, Ton und Inhalt souverän. Der Text nennt sich ein Manifest, die Autoren kommen aus Frankreich, bleiben allerdings anonym. Ein Aufstand wird nicht ausgerufen, sondern einfach angekündigt. „Wir befinden uns schon jetzt in der Untergangsbewegung einer Zivilisation. Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss“, schreibt das Komitee, das aus strategischen Gründen „unsichtbar“ bleiben will…

Die Probleme sind bekannt: Arbeitslosigkeit, Finanzkrisen, Umweltkatastrophen, Migration, das Auseinander fallen von Europa... Das unsichtbare Komitee meint allerdings, dass die eigentliche Krise eine andere ist. „Die Erhaltung des Ichs in einem Zustand des permanenten Halbverfalls, in einem chronischen Halbversagen, ist das am besten gehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge“, schreibt es.

Und: „Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesensmäßig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität begründet“. Hier wird also nicht auf die „anerkannten“ Probleme geschaut, sondern auf die Stelle des individuellen Menschen in einer Gesellschaft, die mit dem individuellen Menschen nicht rechnet.

Der Mensch, so meint das Komitee, ist von jeder Zugehörigkeit losgerissen: von seiner Familie, seinen Freunden, seinem Viertel, seiner Geschichte, seinem Beruf und seiner Berufung, nichts gehört ihm mehr. Durch die Zwänge der Wirtschaft ist er „enteignet“ von seinem Selbst: er soll nicht arbeiten um sein Leben zu leben, sondern sein Leben aufgeben, um zu arbeiten. Was sein Leben ausmacht, innerlich und äußerlich, ist schon längst nicht mehr relevant. Der Mensch ist sich selber fremd geworden, und „sein Hass gegen den Fremden verschmilzt mit dem Hass gegen sich selbst als Fremden“.

Das sind kräftige Sätze, die viel Wahrheit beinhalten. Ganz stark sind auch die folgenden: „Es gibt keine Umweltkatastrophe. Es gibt diese Katastrophe, die die Umwelt ist. Die Umwelt ist das, was dem Menschen übrig bleibt, wenn er alles verloren hat.“ Und: „Was als Umwelt erstarrt ist, das ist eine Beziehung zur Welt, die auf der Verwaltung aufbaut, das heißt auf der Fremdheit“. Rudolf Steiner würde an dieser Stelle sagen, dass die Katastrophe keine Katastrophe, sondern eine Chance der jungen Bewusstseinsseele ist. Die Katastrophe bestünde aus seiner Sicht eher daraus, dass sie nicht als Chance wahrgenommen wird.

Als letzter starker Satz: „Zu jedem Leben gehört eine Dosis Wahrheit, die das abendländische Konzept nicht kennt.“ Weniger stark scheinen mir allerdings die revolutionären Vorschläge zu sein, die auf den letzten dreißig Seiten des Manifestes gemacht werden. Die erste Empfehlung ist immer noch stark: fange bei deinen Wahrheiten an. „Eine Wahrheit ist nicht etwas, das man besitzt, sondern etwas, das einen trägt“. Auch die zweite Empfehlung trifft zu: nimm deine Freundschaften ernst. „Jede Begegnung ist Begegnung IN einer gemeinsamen Affirmation“. Das klingt nach einer Kultur des Herzens.

Mit ein paar Aspekten habe ich allerdings Probleme. Das erste ist, dass in den Text immer wieder der „Partisan“ romantisiert wird. Der Kämpfer wird als eine Art Widerstandssoldat beschrieben, der machen darf, was er will, solange er der Sache dient und außerdem nicht erwischt wird. Schmerzen darf er den dummen oder gerade schlauen „Anderen“ offenbar zufügen, das ist man in revolutionären Bewegungen gewohnt. Wer mit den dummen Anderen gemeint ist, wird in dem Text klar: die sich anpassenden Bürger, (nicht WIR, die gerade das Manifest lesen!)

Anonym bleibt der schlaue Andere, der Feind, der in dem Text immer wieder „man“ genannt wird, der mit Erfolg seine offenbar unwürdigen Ziele verschwörerisch durchsetzt. Er scheint sich unsichtbar auf den Chefetagen großer Unternehmungen aufzuhalten. Ich glaube, dass so ein „man“ nicht existiert. Wenn es einen Feind gibt, so meine ich, dann müsste er in uns selber gesucht werden. Revolutionen, in ihren Ausgang darin finden, dass die Anderen Schuld haben, brauchen wir nicht mehr…

“Wenn wir einmal in die Sichtbarkeit eingetreten sind, sind unsere Stunden gezählt“, schreibt das Komitee. Diese Haltung ist verständlich, bedeutet allerdings einen Schritt zurück. Was eher hilft, sind strahlende „Iche“, die sich souverän ins Lichte der Öffentlichkeit stellen. Ein unsichtbares Komitee macht sich selber zum Geschwür, den angeblichen Komplizenschaften der großen Unternehmungen nicht unähnlich. „Man“ macht sich auf diese Art und Weise zu einem Feind, den es nicht gibt.

Dem Komitee zufolge müssen Gemeinschaften (in dem deutschen Text wird irreführend von „Kommunen“ gesprochen: romantisch-revolutionäre Rhetorik!) entstehen, die sich „nicht durch ein Drinnen und ein Draußen definieren, wie Kollektive es im Allgemeinen tun, sondern durch die Dichte der Verbindungen in ihrem Innern“. Das ist sehr richtig, eben entscheidend. Dieses Innen durch Anonymität zu schützen, führt allerdings zwangsläufig zu einer Trennung zwischen innen und außen. Und damit kreiert „man“ gerade das, was „man“ bekämpfen will: die Fremdheit.

05.12.2010

Praktiken einer Kultur des Herzens. Über die Finanzierung neuer Begabungsprofile

Wenn in der heutigen Gesellschaft von „Arbeit“ gesprochen wird, ist damit immer „bezahlte Arbeit“, eine Erwerbstätigkeit gemeint. Arbeiten bedeutet heute nicht mehr primär, etwas Sinnvolles zu tun, oder eben überhaupt etwas tun, was man von sich aus auch wirklich tun will, sondern, ein Einkommen zu generieren. In diesem Sinne ist arbeiten in unserer Gesellschaft eine heilige Pflicht: jeder mündige Bürger hat in dieser Hinsicht quasi eine souveräne Verantwortung für seine eigene Existenz.

Wenn jemand, warum auch immer, nicht im Stande ist, diese Verantwortung erfolgreich zu verwirklichen, dann kriegt er Geld vom Staat. In diesem Zusammenhang wird dann von so etwas wie „Solidarität“ gesprochen, was so viel heißt wie: In unserer aufgeklärten Gesellschaft lassen wir die Unglücklichen und Ungeschickten und „Arbeitsbehinderten“ nicht im Stich. Im Grunde genommen beruht diese Solidarität allerdings auf einer Angst: Zu viele Menschen mit gravierenden Existenznöten bringen Unruhe in die Gesellschaft, was letztendlich die aufgeklärte Ordnung der Dinge bedrohen könnte.

Von dem Gedanken, dass „freie“ Menschen das tun müssten, was sie von sich aus – auf der Basis von „freien“ Entscheidungen – tun wollen, sind wir diesbezüglich weit entfernt. Um zu dieser Freiheit zu gelangen, gibt es in der heutigen Gesellschaft eigentlich nur einen Weg, nämlich, sich als freier Unternehmer zu definieren. Mit allen anderen Formen der bezahlten Arbeit geht eine Einbindung in unfreie Zusammenhänge einher: man arbeitet für McDonalds, für das Ministerium, für eine Waldorfschule oder für Greenpeace. Dass die konkreten oder abstrakten Ziele der einen Organisation vielleicht „gut“ und die der anderen vielleicht „weniger gut“ sind, ändert daran nichts.

Ein freier Unternehmer zu werden, bedeutet allerdings nicht, dass man unbedingt das macht, was man machen will. Ich brauche an dieser Stelle nicht alle Faktoren zu beschreiben, die einen Unternehmer daran hindern, seine „Arbeit“ frei zu gestalten – sie sind bekannt. Dazu kommt noch die grundsätzliche Frage, ob die zu Grunde liegende Entscheidung wirklich frei war; der Impuls ein „freier“ Unternehmer zu werden, beruht manchmal auf unbemerkten Unfreiheiten.

Mir geht es in diesem Text vor allem um die Tatsache, dass es eine ganze Menge von Menschen gibt, die etwas wollen, etwas wirklich WOLLEN, was als Arbeitsmotiv – vielleicht besser gesagt: als Tätigkeitsmotiv – von der öffentlichen Gesellschaft nicht verstanden und anerkannt wird. Um einen pädagogischen Begriff des Heilpädagogen Henning Köhler in einen sozialen zu modifizieren: es gibt „neue Begabungsprofile“, die nicht als solche wahrgenommen werden. Anders gesagt: Menschen KÖNNEN etwas, was allgemein nicht als sinnvolle Tätigkeit anerkannt ist.

Ein Beispiel bietet ein guter Freund von mir. Es ist nicht leicht zu beschreiben, was er genau macht. Er ist ständig unterwegs, arbeitet an sogenannten „ökologischen“ und „sozialen“ Projekten, verbindet Menschen miteinander, kann „lesen“ was Menschen wollen, öffnet Türen, setzt erreichbar-unerreichbare Ziele, begeistert durch seine positive Lebenshaltung. Um es genauer zu sagen: sein Begabungsprofil besteht daraus, dass er konkret spüren kann (was nicht heißt, dass er es immer in Worte fassen kann), welche Potenziale zwischen den Beteiligten verborgen liegen. Man könnte nicht einmal sagen, dass er ein „Netzwerker“ ist, weil seine erweckenden Tätigkeiten weit darüber hinaus gehen. Ich betrachte ihn als einen „Schicksalswerker“.

Auf der finanziellen Ebene kriegt er sein Leben allerdings nicht organisiert. Er steht diesbezüglich vor einem Abgrund, den er übrigens mit einer gewissen Leichtigkeit akzeptiert. Trotzdem ist dieser Abgrund das, was ein Abgrund ist: ein Abgrund. Sich als „Arbeitsloser“ vom Staat durchfüttern zu lassen, das will er nicht, nicht weil er dann zu wenig Geld bekäme – er kommt mit ganz wenig aus – sondern weil mit dem Geld die Verpflichtung verbunden ist, sich für Jobs zu bewerben, die er nicht machen will. Er steht also vor einer Frage, die keine Frage ist: weitermachen mit dem, was er wirklich machen will, oder damit aufhören und sich beim Arbeitsamt melden.

In einem Blogtext kann man solchen biographischen Situationen nicht gerecht werden, weil immer hundert Sachen auch noch eine Rolle spielen, für die hundert Seiten nötig sind. Ich meine allerdings, dass diesbezüglich eine dringende Frage vorliegt, die für die Entfaltung einer Kultur des Herzens entscheidend ist. Einfach darauf zu warten, bis das bedingungslose Einkommen eingeführt wird, geht nicht, stärker noch, um einmal so weit zu kommen, werden schon heute gerade die angedeuteten neuen Begabungsprofile gebraucht. Was heißt das?

Das heißt meiner Meinung nach, dass die konkreten Schicksalsflechtwerke um den Beteiligten herum, eine Initiative ergreifen müssen. Letztendlich müssen und können und dürfen es doch die „freien“ Bürger sein, die „Freunde“ also, die sich aus Freiheit (man könnte auch sagen: auf Basis eines Verständnisses) zu einer Verpflichtung stellen? Praktisch gesagt: zwanzig mal fünfzig Euro im Monat würden tausend Euro bringen. Und davon könnte ein erfahrener Schicksalswerker, der gewohnt ist, mit wenig Geld auszukommen, für eine Weile gut leben, sagen wir erst einmal: für ein Jahr?

Sich an der Biografie eines „Freundes“ zu beteiligen, ist ein wichtiger Aspekt einer Kultur des Herzens. Ohne diese praktische Beteiligung gibt es keine Kultur des Herzens. Zu der Entfaltung einer solchen Kultur gehört eben, dass diesbezüglich Erfahrungen und Vorstöße gemacht werden. Mit dem Einstieg in diese Beteiligung werden die sozialen Orte der Zukunft, die auf gegenseitiger, freier Anerkennung basieren, kreiert. Mit einer alten solidarischen Unterstützung hat das nichts zu tun.