In den zwölf heiligen Nächten. Die Entzündung einer Kultur des Herzens
In den zwölf heiligen Nächten, so besagt die Tradition, öffnen sich die Türen zur geistigen Welt. Die Schwelle zwischen Himmel und Erde, so heißt es, wird durchlässig. In der Verinnerlichung, die mit Weihnachten einher geht, wird ein gesteigerter Dialog zwischen mir und Mir, zwischen dir und Dir und – würde ich sagen – zwischen Dir und Mir möglich. Und weil es sich um einen geistigen Dialog handelt, der über die üblichen Erkenntnisse hinaus geht, steht die Tätigkeit des Lauschens an.
Lauschen gehört zu den schönsten Wörtern der deutschen Sprache. Lauschen ist eine Sache der Ohren, diese wunderbaren und eleganten Wölbungen an unseren Häuptern, die sanft das greifen, was eigentlich nicht zu ergreifen ist. Wenn man versucht die Laute des Wortes zu „schmecken“ – Wörter zu schmecken ist eine poetische Haute Cuisine – gerät man innerlich spontan in eine Bewegung, die irgendetwas mit schleifen und rauschen und tasten und auch mit fangen zu tun hat – einem Fangen allerdings, das eher passiv funktioniert, so, als ob es gelänge, Schmetterlinge dazu zu verführen, freiwillig ins Netz zu flattern.
Lauschen ist eine ganz leise und ganz zarte Implosion. Die Ohrmuscheln wölben sich nach außen, werden von Klängen berührt, die sie in sich aufnehmen und nach innen leiten, man könnte vielleicht besser sagen: nach innen begleiten, und dort – wo ich bei Mir bin – eine neue Form anbieten, eine wesentliche Existenz. Rainer Maria Rilke dichtete: „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!/ O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!/ Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.“
Im Lauschen werden wir still. Wir hören auf das, was im Kommen ist, was Anfang, Wink und Wandlung bedeutet, was geboren werden will und unser Lauschen braucht, um in der Gegenwart ankommen zu können. Ohne stilles Lauschen - keine Geburt. Das Bild ist uns ja vertraut: man setzt sich bei einer Kerze nieder, wird still wie die sanft flackernde Flamme, und lauscht... Und im Lauschen gelangt man in sich selber an eine Schwelle, wie im Winterwald: schüchtern wagen sich Rehe aus dem Dunkel auf die Lichtung.
Es geht beim Lauschen nicht um klare Gedanken, sondern um Gefühle, die wir manchmal ein bisschen unbeholfen mit Ahnungen, Sehnsüchten und Träumen gleichsetzten. Eigentlich müssen wir allerdings einräumen, dass uns die richtigen Worte fehlen. Die Stimmungen, die an der Schwelle zur geistigen Welt auf uns zu kommen, sind eher als Gestalten zu verstehen, mit denen man „sprechen“ kann – ein Sprechen, das eigentlich ein gegenseitiges Lauschen bedeutet. Gefühle – nicht Emotionen sind hier gemeint – sind tatsächlich wie Rehe: sie haben eine eigene Gestalt, einen eigenen Willen, eine eigene Domain.
In den heiligen Nächten geht es also um Natalität, um das ständige und meistens unbewusste Geschehen in uns, das uns leise nach vorne bringt. In den ersten heiligen Nächten bieten sich die Ahnungen und Sehnsüchte an, die uns berühren und verführen, dann folgen die Vorsätze, die wie Navigationsinstrumente im Reich-des-im-Kommen-Seins wirken: ein Vorsatz ist genau das, was das Wort ausdrückt: ein Vor-Satz, man kann sich immer statt nach links doch noch nach rechts bewegen. Und wenn die heiligen Nächte durch den Jahreswechsel geschritten sind, taucht das Bedürfnis nach Entscheidungen auf. Die Gestaltung des kommenden Jahres beruht auf der Aktivierung dieser großen Drei: Sehnsucht, Vorsatz und Entscheidung.
Interessant: beim Lauschen werden Sehnsüchte, Ahnungen und Träume aktiv. Sie bekommen einen Raum, einen inneren Ort, in dem sie in Erscheinung treten können, in dem sie ihre eigene Geschichte erzählen können, eine Erzählung, die es nur gibt, wenn wir ihr lauschen. Erzählungen, die nicht gehört werden, gibt es nicht, (so wie es auch keine Texte gibt, die nicht gelesen werden). Wäre es nicht schön, die verborgenen Erzählungen der heiligen Nächte ins Licht zu heben? Mit unserem Versuch entzündet sich eine Kultur des Herzens.
15 Kommentare:
WEIHNACHTEN
In der Einsamkeit der zwölf heiligen
Nächte erleben wir Abschied und
Neubeginn.
Inne halten, stille werden, angesichts
zagender Sehnsucht und zartem Heimweh,
endgültig auszubrechen
aus Kaufrausch und Schlaraffia,
der große Grund und Alles
liegt nur in dem einen Kinde,
das zu aller Erdenheile
uns aufs neue – jedes Jahr -
ins Herz hinein
geboren wird.
(Michael Heinen-Anders)
Über die heilige Nächte, schau mal:
http://sophiepannitschka.blogspot.com/
Das ist einer der schönsten Texte, die ich über die Zeit zwischen den Jahren gelesen habe. Vielen Dank.
Glasblume.
Ja, sehe ich auch so...
...weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiaitve ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen...
Hannah Arendt grüßt aus der geistigen Welt.
Hannah Arendt war verbunden mit Martin Heidegger. Er hat immer davon gesprochen, dass wir auf den Tod hinzu leben, sie meinte eher: wir können immer wieder neu geboren geboren werden. Sie nannte das: die Natalität des Menschen.
Ja, es ist immer beides.
Im Kommen und im Gehen sein. Ankommen und Weggehen. Geboren werden und sterben. Begegnung und Abschied.
Der Zeitenstrom strömt und strömt. Und wir kommen und gehen und kommen wieder und gehen wieder...
Und dazwischen zünden wir eine Kerze an und erzählen von dem, was die Zwischenzeit, die Zeit dazwischen erzählt.
Und dann beginnen wir wieder etwas.
Die Fußspuren der Menschheit zeigen es.
Hannah Arendt und Martin Heidegger - wie Tag und Nacht, wie Geburt und Tod - für eine Kultur des Herzens.
Eine schöne weihnachtszeit! In den tagen zwischen den jahren hält die zeit an, ein großes gefühl von freiheit entsteht. Man hat das glück alles noch einmal neu machen zu können, sachen neu uzu ergreifen, nachdem man altes überdacht hat: 12 tage im lauschraum.
ES GELINGT,
DAS TRÄUMEN
IN DEN NÄCHTEN.
WIE EINSCHLAFEN
IN WAHRHEITEN
UND AUFWACHEN
IN SCHÖNHEITEN.
BIST DU MEIN TRAUM?
Im Urbeginne ist die Erinnerung
Und die Erinnerung lebt weiter
Und göttlich ist die Erinnerung
Und die Erinnerung ist Leben
Und dieses Leben ist das Ich des Menschen
Das im Menschen selber strömt
Nicht er allein, der Christus in ihm
Wenn er sich an das göttliche Leben erinnert
Ist in seiner Erinnerung der Christus
Und als strahlendes Erinnerungsleben
Wird der Christus leuchten
In jede unmittelbar gegenwärtige Finsternis
(Rudolf Steiner,GA 152, 7.3.1914)
Möge uns diese Meditation durch uns zurückführen in das Wesentliche.
Danke für diesen schönen Text, Jelle.
Ist dem aktiven Lauschen nicht das aktive Fragen zugeordnet? Wer nicht frägt, kann nichts erlauschen. Wer nicht frägt, kann auch sich selbst in einem tieferen Sinne nicht begegnen.
Geistiges Wissen gebiert sich aus dem sich Zurücknehmen Können auf ein "nichts zu wissen" oder anders ausgedrückt, über alle Vorstellungen hinaus sich zu öffnen für eine "Terra Ingognita." Sich zu öffnen für eine Geburt, die in den Lebensströmen Raum-zeit-losen Lauschens zum Erfahrenden Ereignis für ein erwachendes Ich werden können.
Bernhard Albrecht
Lieber Bernhard Albrecht, Du hast recht: ohne Frage kein Lauschen. Danke. Ich stelle mir jetzt die Frage: was ist denn meine Frage? Herzlich,
Lieber Jelle,
danke für Deinen Hinweis auf Sophie Pannitschkas Weihnachtsfragen!
herzlich,
SST
zu FRAGEN und LAUSCHEN:
Bisher erschien mir mein Lauschen nicht als Reaktion auf eine Frage.
Ich lausche einfach. Auch ohne Frage.
Vielleicht habe ich eine irgendwo im Innern, aber ab wann ist eine Frage eine Frage? Bisher ging ich davon aus: sobald ich sie bewußt stelle, vielleicht formuliere.
Eine fragende Haltung dagegen ist offener.
Hat denn eine Frage nicht auch schon immer etwas Abgeschlossenes in sich, etwas Eingeschränktes? Eine Frage ist Ziel gerichtet.
Wenn ich lausche, ist das anders.
Wenn ich mit den Ohren lausche, dann ist in gewisser Weise auch etwas abgeschlossen und zielgerichtet in Bezug darauf, dass ich mit den Ohren höre.
Aber zumeist höre ich doch mit mehr als nur den Ohren.
Und lauschen tue ich mit noch mehr als nur den Ohren.
Es gibt einen Raum noch vor der Frage, der mit dem Lauschen zu tun hat.
Bezüglich der Geburt und des geistigen Wissens, des Erkennen des Selbst ...
beziehe ich das einmal ganz profan auf leibliche Geburten, die ich als Gebärende einige Male erleben durfte, so gab es ihn immer in mir, den "Raum" (- ich will es mal so benennen-) vor den Fragen bezüglich des werdenen Menschenwesens.
Und so ist das auch heute noch. Zuerst der Raum, dann die Frage.
Raum und Lauschen sind sozusagen Eins.
SST
Liebe SST - ja, wann ist eine Frage eine Frage? Schwierige Frage... Schon kann ich mir vorstellen, dass es eine Stimmung des Fragens gibt, die über eine konkrete Frage hinaus geht. Fragen werden manchmal "geboren", das heißt: auf eine andere Ebene sind sie "geistig" schon da. Lauschen und fragen: ein schönes Thema! Herzlich, Jelle
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