Die Freundschaft als Gebet
Ich habe das Zitat von Jacques Derrida schon einmal als Motto rechts oben auf meinen Weblog gestellt. Und weil die zwei Sätze mich nicht loslassen, zitiere ich sie heute noch einmal. In seiner „Politik der Freundschaft“ schreibt Derrida: „Freundschaft ist nie eine gegenwärtige Gegebenheit, sie ist der Erfahrung des Wartens, des Versprechens oder der Verpflichtung anheimgegeben. Ihr Diskurs ist der des Gebets, er konstatiert nichts, er stiftet, er beruhigt sich nicht bei dem, was ist, er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in der Zukunft öffnet“.
Der erste Satz beinhaltet ein Paradox. Erst wird gesagt, dass die Freundschaft „nie eine gegenwärtige Gegebenheit“ sei, dann jedoch, dass sie eine „Erfahrung“ sei, was darauf hin deutet, dass sie in der Gegenwart erlebt wird. Die Erfahrung bezieht sich auf das Warten, das Versprechen oder die Verpflichtung – solange wir in der Gegenwart (auf die Freundschaft? auf den Freund? auf meine Bereitschaft auch wirklich ein Freund zu sein?) warten können, solange wir an einem Versprechen festhalten, ist die Freundschaft als Erfahrung da.
Ihr Diskurs ist der des Gebets... Im Gebet richten wir uns auf etwas Größeres, etwas, dass über uns hinaus geht, auf etwas Göttliches. Wir glauben (nehmen an, ahnen, hoffen?), dass das Größere auch tatsächlich existiert, uns bemerkt, uns hört, auch wenn es nicht gegenständlich und handgreiflich in der Gegenwart vorhanden ist. Beten ist der Versuch einer Wiederverbindung, was das Wesen der Religion ausmacht: Im Gebet versuchen wir eine verloren gegangene Beziehung wieder herzustellen.
Er (der Diskurs der Freundschaft) konstatiert nichts... Konstatieren bedeutet auf schönem Deutsch: feststellen, also FEST STELLEN, etwas fixieren, etwas eine eindeutige Bedeutung zuschreiben. Im Diskurs der Freundschaft bleibt alles in der Schwebe, einem Zustand, der manchmal schwer auszuhalten ist, weil er uns in unseren Unsicherheiten nicht gerade bestärkt. Wir sind immer wieder geneigt, uns mit Urteilen (über Freunde und Feinde) Sicherheiten zu verschaffen.
Er stiftet... Derrida sagt nicht: der Diskurs der Freundschaft „gründet“, sondern „stiftet“, was eher eine luftig-feurige Angelegenheit ist. Die etymologische Herkunft des Wortes ist laut Duden 7 unbekannt, verrät in alten Wörtern wie „Stiftskirche“ und Redewendungen wie „Unheil stiften“ allerdings noch die ursprüngliche Bedeutung. Stiften heißt so etwas wie „verursachen“ – in der gegenwärtigen Erfahrung des Wartens wird etwas verursacht, das sich als Wirkung erst in der Zukunft entfaltet.
Er beruhigt sich nicht bei dem, was ist... Auch wenn man in Ruhe wartet – Gelassenheit ist eine hohe Tugend – bleibt man nicht bei dem, was ist, sondern bei dem, was noch nicht ist, anders gesagt: das was ist, wird als etwas Unvollkommenes vollkommen in seinem Im-Kommen-sein genommen. Das was ist, wird nicht genommen als etwas, das beruhigt, sondern es wird umgekehrt in Ruhe genommen als etwas, das in seiner Unvollständigkeit auf etwas Kommendes hinweist.
Er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in die Zukunft hinein öffnet... In der Freundschaft (die eine nie gegenwärtige Gegebenheit ist) wird eine Verantwortung gespürt, die es noch nicht gibt, sondern sich erst in der Zukunft öffnet. Die Verantwortung, die es noch nicht gibt, so verstehe ich Derrida, bedeutet in der Gegenwart allerdings schon eine Verpflichtung. Noch ganz abgesehen von der wunderbaren Formulierung, dass Verantwortungen sich ÖFFNEN, überrascht an dieser Stelle der definitive Sprung Derridas in die Zukunft. Unbekannte Verantwortungen, die es in der Gegenwart noch nicht gibt, führen zu Verpflichtungen in der Gegenwart, einer Gegenwart jedoch, die es eigentlich nicht mehr gibt, sobald man „unterwegs“, das heißt: im Kommen ist.
Die Sichtweise Derridas auf die Freundschaft öffnet eine Verantwortung, die es noch nicht gibt. Sie geht somit mit einer konkreten und höchst aktuellen Verpflichtung einher, die vor allem bedeutet: nicht festlegen wollen, nicht urteilen wollen, ja, stattdessen: warten wollen, versprechen wollen und beten wollen. In der Freundschaft wird über eine hartnäckige Differenz hinaus die offene Zukunft zelebriert. Und weil Derrida von einem Gebet spricht, verstehe ich ihn so, dass es dabei aus seiner Sicht erst einmal um eine innere Tätigkeit geht, erst einmal...