21.11.2010

Fragment über die Feindschaft. Das Schicksal von Kain und Abel

Waren Kain und Abel Feinde? Ja, sie waren genauso Feinde, wie sie Brüder waren. In nächster Nähe hat Kain auf Abel und Abel auf Kain gewartet, in der Vertrautheit der Familie, dort wo Jacques Derrida zufolge „einzig der Freund willkommen ist.“ Weil die berühmte biblische Erzählung gerade in ihren Details sehr aussagekräftig ist, zitiere ich aus Genesis 4:

„Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder an und erschlug ihn“.

Aus dieser Erzählung geht nicht zwingend hervor, wie man vielleicht meinen könnte, dass die Feindschaft zwischen Kain und Abel asymmetrisch war, als ob Kain seinen Bruder Abel gehasst hätte, und nicht umgekehrt. Was in Abel vorging, wird in der Genesis nicht erzählt; in alten jüdischen Legenden wird allerdings berichtet, dass vor dem Mord ein Gespräch zwischen Kain und Abel stattgefunden hat, in dem Kain versucht hat, seinem Bruder Abel, seinen Schmerz-von-Gott-abgewiesen-zu-sein, zu vermitteln.

Kain meint, dass Gott die Welt mit „willkürlicher Macht“ regiert, was aus seiner Sicht „nicht gut“ ist. Abel lässt sich auf die Argumente von Kain nicht ein und beharrt darauf, dass Kain offenbar „schlecht“ ist, sonst hätte Gott dessen Opfer doch nicht abgelehnt. Das Urteil Gottes, so wie er es versteht, ist Abel also wichtiger, als die Nähe zu seinem Bruder; ein Umstand, der Kain zusätzlich tief verletzt. Die Legende ist nur so zu verstehen: Aus Abels Sicht war Kain, wegen des Urteils Gottes, schon zum Feind geworden.

Was geschieht? Die Geschichte ist doppelt zu lesen. Einerseits ist deutlich, dass Kain nicht ertragen kann, dass seine „Möglichkeiten“ von der Seite Gottes und somit auch Abels, offenbar nicht anerkannt werden. Aus Neid – oder Enttäuschung? – tötet er Abel und wird dafür bestraft; andererseits scheint es gar nicht um eine Strafe zu gehen, sondern um eine große Aufgabe, die ihm zugeteilt wird: Herr über die Dämonen zu werden.

Die Geschichte zeigt, dass beide von Anfang an und jeder für sich, getrennte Wege gingen. Kain wollte Ackerbauer sein, was im Grunde genommen bedeutet, dass er aktiv in die natürlichen Gegebenheiten einzugreifen hatte; Äcker sind in der Natur nicht einfach so vorhanden, sie müssen aus der Natur erobert, jedes Jahr neu bereitet werden. Mit dem Ackerbau fängt in der Geschichte der Menschheit dasjenige an, was wir Kultur nennen: eine von Menschenhand gestaltete Kreation, in der von Gott gegebenen Wirklichkeit. Mit dem Ackerbau begibt sich der Mensch anfänglich aber grundsätzlich in den Bereich der Technik, die eine Instrumentalisierung der Schöpfung bedeutet. Mit dem Ackerbau ist eine Geisteshaltung verbunden, die als Emanzipation zu verstehen ist: der Mensch macht sich frei von einem unbewusst Eingebettet-Sein in Gottes Werk und kreiert von sich aus ein zusätzliches Werk.

Kains Bruder Abel wollte jedoch ein Schafhirt sein, das heißt, in der Nähe zu Gott bleiben. Er hütete, was Gott den Menschen gegeben hatte, ohne in die Natur einzugreifen oder von sich aus etwas Eigenes gestalten zu wollen. Er wollte einfach bei den Schafen SEIN und in diesem Sein bei Gott sein. Das Wollen Abels und das Wollen Kains waren somit polar: wo der jüngere Brüder sich in einem vertikalen Einklang mit Gott befinden wollte, das man im Sinne von Martin Heidegger als Sein beschreiben könnte, suchte der Ältere eine horizontale Spannung zur gegebenen Welt, die eher als das Seiende zu deuten wäre.

Der schicksalsträchtige Mord fand, laut den Legenden, gerade an dem Ort statt, wo später der Tempel von Salomo gebaut wurde, das Heiligtum also, das als sakraler Brennpunkt des jüdischen Volkes galt. In dem späteren Bau des Tempels wiederholte sich die Spannung zwischen Kain und Abel, was an der Tatsache sichtbar wurde, dass der König und Bauherr Salomo mit seiner religiösen Weisheit als ein Repräsentant Abels und der Architekt Hieram Abiff mit seinen technischen Fähigkeiten als ein Nachfahre Kains angesehen wurde. Das Herz der alten jüdische Kultur, so wurde es verstanden, lag also gerade in der Spannung zwischen den beiden Geisteshaltungen – der Weg des Volkes Israels ging aus dem Konflikt der beiden Brüder hervor, oder anders gesagt: Die Feindschaft, die eine Bruderschaft war, konstituierte die jüdische Gemeinschaft.

8 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle,

man darf nicht vergessen, dass Kain damit bestraft wurde, dass er von nun an das 'Kainszeichen' an sich trug und von der Nachfahren Abels, den Abeliten gehasst wurde.
Aber im Durchgang durch zahlreiche Inkarnationen (u.a. Tubal-Kain und Hieram Abiff) wandelte sich Kain.
Er wurde zum Lazarus und als dieser von Christus eingeweiht.
Von nun an war Lazarus-Johannes fürwahr ein Gottbegnadeter und 'Herrscher über die Dämonen'.
Schließlich er-öffnete Kain in seiner späteren Inkarnation als Christian Rosenkreuz die christlichen Mysterien erneut, speziell für Menschen des Bewußseinsseelenzeitalters und schuf für diese die als christlich-rosenkreuzerische Einweihung bekannt gewordene Einweihungsmethode.
Christian Rosenkreuz zählt zusammen mit Meister Jesus zu den Leitern der esoterischen Schule des Okzidents, was seinen heutigen spirituellen Rang auf besondere Weise unterstreicht.
Die Frage ist diese: Wäre Kain ohne die Schandtat des Brudermordes auch so weit gekommen? Oder motivierte ihn dieses verübte Verbrechen nun erst recht zur Imitatio Christi?

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

FEINDSCHAFT

„Und willst Du nicht
mein Bruder sein,
dann schlag ich Dir
die Rübe ein!“
So einfach und direkt
ist sie meist nicht:
die Feindschaft.
Kommt sie doch oft
auf leisen Sohlen,
schaut was gibt es
noch zu holen.
Ist der Feind
erst ausgesaugt
lässt man ihn liegen.
Unverdaut.

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

"...schaut was gibt es
noch zu holen.
Ist der Feind (Freund!)
erst ausgesaugt
lässt man ihn liegen.
Unverdaut".
(...und der Freund wird zum vermeintlichen "Feind" durch die eigene Vorteilsgewinnung. Der Freund bleibt Freund, aber der Freund der den anderen Freund ausgebeutet hat, wird sich selbst zum Feind und projiziert das weg von sich zum anderen hin...)

Michael,
ich mag dein Gedicht, danke! Es hat mich beflügelt ein wenig damit zu spielen.

Jelle,
mich interessiert sehr was dein inneres Herzwerk ist, dass du im Anschluss über das Scheitern das Fragment von Kain und Abel bringst. Siehst du in beiden Initiativen Repräsentanten der Kain- und Abel-Strömung?
Was denkst du über dich? Bist du ein "Zerschlager" (Zerstörer) und erwirbst dir damit die Möglichkeit in deiner Entwicklung weiter zu kommen?
...Nach dem Motto: wenn ich einen Schritt weiter komme, müssen zwei andere fallen?!)

Etwas gefällt mir an diesem Fragment nicht, ich kann noch nicht genau sagen was.
Welche Entwicklung machen diejenigen, die in der Abelströmung zu Hause sind? Bleiben sie die dummen Schafhirten, die immer "ausgesaugt" werden - bis sie eines Tages genug haben - und plötzlich aufstehen...um dann auch zu zerschlagen?

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe(r) Anonym, ich verstehe leider nicht, was gemeint ist mit: die Hirten wirden ausgesaugt. Und warum könnte/müsste/dürfte ich ein Zerstörer sein? Herzlich, Jelle

Andrea hat gesagt…

Das Ausgesaugtsein ist ja aus Michaels Gedicht im zweiten Kommentar.! Der Abel, der im göttlichen Sein Lebende, die Weisheit( Salomos) in sich tragend, kann sich ja eventuell auch ausgenutzt vorkommen? Der Kain ackert und "schufftet" erschafft neue Welten und braucht doch die Weisheit auch, ganz alleine aus sich heraus gehts nicht. Das ist mein Erklärungs- versuch für das Bild des Ausgesaugtseins"(der Hirten) Das andere sollte der Anonym erklären würde mich auch interessieren.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Andrea, ja, das ausgesaugt sein kommt aus dem Gedicht von Michael. Bei Michael geht es allerdings um den Feind im allgemeinen Sinne. Ich wollte nur verstehen, wie "Anonym" dies auf Kain und Abel bezieht. Ich würde sagen: beide "Parteien" können das Gefühl haben, ausgesaugt zu sein. In meiner Darstellung ist Kain nicht nur Täter und Abel nicht nur Opfer. Herzlich! Jelle

Andrea hat gesagt…

Ja gut Jelle, aber was weiter damit? Mit dem Täter der nicht nur Täter ist sondern auch Opfer. Ich könnte da gerne dazu noch mal mehr und noch deutlichere Erklärungen brauchen. Ich habe es schwer mit diesen Geschichten, schon lange!
Ich gerate leicht in das Fahrwasser, dass die Hirten es einfacher zu haben scheinen.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Andrea, ich meine, ein (eventuelles) Scheitern liegt darin, dass wir vor allem DIES nicht geschafft haben: aushalten und warten und ertragen und innen halten. Die große Idee entzündete nicht nur Erkenntnisse, die sich als Ahnungen zeigten, sondern auch Willensimpulse, die allerdings stark an unsere Persönlichkeiten gebunden waren. Ob die Impuls (Elias-Adventura) gescheitert ist, kann ich immer noch nicht sagen. Mir ist es allerdings schon ein Anliegen, von den Gesichtspunkten der anderen zu erfahren. Ich schrieb am Ende meines ersten Beitrags: „Ich stellte mir die Frage: ist Adventura gescheitert?“ Und dann: nein, ich meine nicht, dass Elias-Adventura zu verstehen wäre, als ein „Konflikt“ zwischen „Kain“ und „Abel“. Ich habe in dem Text über Kain und Abel die Elias Inititiav Gemeinschaft auch gar nicht erwähnt. Wohl meine ich allerdings, dass in den Spannungen in Elias-Adventura Geisteshaltungen gewirkt haben, die über die rein persönliche Ebene hinausgehen. Mir scheint es eine Sackgasse zu sein, nur auf die persönliche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Beteiligten zu schauen. Ich möchte, auch im Nachhinein, auf diese Art und Weise mit der Frage des (eventuellen) Scheiterns umgehen. Herzlich, Jelle