Versuch zu einer adamitischen Sprache. Über eine Freundin
Sie ist eine Freundin. Ihre ganze Art ist fest und gleichzeitig weich. Ihre Natur ist von einer Qualität geprägt, die Joseph Beuys dem Fett zuschreibt: Sie bewahrt, ruht in sich selber, ist nicht so sehr an einer Form interessiert, sondern an Masse und Tiefe.
Die Dauer der Zeit liegt ihr offen in ihrer Langsamkeit. Für Gespräche nimmt sie sich Zeit, viel Zeit, die sie auch hat. Sie sitzt dann fast unbeweglich auf einem Sofa, hört mit großen Ohren zu, spricht eine Sprache ohne Hast und Druck, ist bei jedem Wort, bei jedem Gedanken voll dabei, bewegt sich innerlich wie der große Saturn in weiten Kreisen, alles umfassend, alles tragend, alles in eine Breite und eine Tiefe ziehend.
Stille Momente, auch wenn sie länger dauern, sind ihr nicht unangenehm, ganz im Gegenteil: Sie meint, dass es so etwas wie eine sinnlose Leere nicht gibt oder eben überhaupt nicht geben könnte.
Ihr Wohnzimmer ist ein Ort-zum-Sein. Alle Gegenstände stehen an der richtigen Stelle, kommen einander nicht zu nah, stören nicht, sprechen nicht zu laut, sind nicht zum Schweigen verdammt. Für die Blumenvasen (die es immer reichlich gibt), die Kerzenständer, die sanften Kissen und eben die Bücher, die sie gerade liest – sie liest immer etwas, ist immer in ein Thema versunken – findet sie die richtige Stelle, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Sie mag Fragen, weil sie Antworten mag. Um die Frage zu stellen, mit der sie gerade lebt, nimmt sie sich viel Zeit. Sie führt aus, bezieht sich auf die Vergangenheit, erwähnt vielleicht relevante Autoren, ohne sie zu zitieren, weil sie immer in umfassenden Zusammenhängen denkt, bewegt sich tastend vorwärts, bis die Frage-als-Frage einwandfrei im Raum erscheint.
Eigentlich stellt sie die Frage nicht, sie kreiert eine stimmige Umgebung, die EINE stimmige Umgebung. Sie nimmt sich die Zeit, um die Frage im Hier und Jetzt entstehen zu lassen. Auch wenn sie dazu Sachen erzählen muss, die schon längst bekannt sind, wiederholt sie in aller Ruhe die Details, als ob sie noch nicht bekannt gewesen wären.
Und wenn die Frage letztendlich erscheint, sieht sie wie ein weißer Schwan aus. (Ist der lange Hals des Schwans nicht reine Frage?) Und interessant: Wenn umgekehrt ihr jemand eine Frage stellt, hält sie inne, schaut auf die Regungen, die spiegelnd in ihrem Innersten erscheinen, wartet und wartet, bestimmt also das Tempo der Zeit, und versucht dann langsam die Frage in ihren Worten zu formulieren.
Sie will eine Meisterin der tragenden Tiefe sein. Nicht, dass sie keine Wut kennt. Ein aufkommender Ärger wird allerdings in ihrer Welt „verbuttert“, sie breitet sich verhalten in der inneren Masse aus, wirkt deswegen immer indirekt und wird gemäßigt aus allen Poren ihrer Seele fast anonym und atmosphärisch ausgeatmet.
Es wäre ein Fehler zu denken, dass dadurch ihr Ärger und ihre Wut weniger massiv wirken würden, ganz im Gegenteil, die mächtige Verhaltenheit erzeugt einen Schatten von einem enormen Kaliber. Selber merkt sie allerdings nicht, dass sie von dieser machtvollen Gestalt begleitet wird, die auf ihre Vertrauten und Kollegen manchmal erschreckend wirkt. Alle wissen: An dieser Stelle muss man bei ihr ein bisschen aufpassen.