Kollaps und Tanzkunst. Die Finanzkrise als Schwellenübergang
Jetzt haben die Amerikaner sich zu Wort gemeldet und mitgeteilt, dass sie es gar nicht gut finden, dass Länder wie Deutschland vorhaben, in den nächsten Jahren einträglich zu sparen. Der Weg aus der dreifachen Krise (Wirtschaft, Finanzen, Währung) liege, laut den Amerikanern, gar nicht darin, dass wir damit aufhören, üppig auf Pump zu leben, sondern ganz im Gegenteil: der Schritt nach vorne liege eher darin, dass wir uns große Investitionen vornehmen würden.
Dieser Gedanke ist ziemlich einfach. Jeder Unternehmer weiß, dass neue Einnahmen erst dann entstehen, wenn neue Produkte entwickelt und damit neue Kunden erreicht werden. Und das kostet Geld. Der Gedanke des Sparens ist allerdings genauso leicht zu verstehen: wenn man mehr Geld ausgibt, als man verdient, entstehen Schulden, die am Ende nicht mehr zu schultern sind.
Sparen oder investieren? Obwohl ich in Sachen Wirtschaft und Finanzen ein Laie bin, meine ich jedoch sagen zu können, dass an dieser Stelle nicht von einem Entweder-Oder die Rede sein kann. Sparen: ja! Investieren: ja! Die Frage ist nur: wo sollen wir sparen und wo sollen wir investieren? In Deutschland und in den anderen europäischen Ländern sind diese Fragen noch nicht einmal halbwegs geklärt.
Politiker haben sich mit der Tatsache abzufinden, dass große Maßnahmen, egal ob sie auf Sparen oder Investieren ausgerichtet sind, von den Wählern verstanden und getragen werden müssen. Maßnahmen, die von den Bürgern nicht angenommen werden, führen erstens dazu, dass die Politiker bei der nächsten Wahl abgewählt werden - und das wollen sie nicht - und zweitens gibt es die reale Gefahr, dass in der Bevölkerung ein heftiger Unmut entsteht. Gesellschaftliches Chaos gilt es aus dem Blickwinkel der Politiker unter allen Umständen zu vermeiden.
Ich habe den Eindruck, dass die Politiker vor allem damit beschäftigt sind, dem Chaos vorzubeugen. Alles darf sein, nur kein Umschwung. Der Gedanke, dass die wirtschaftlichen und finanziellen „Ereignisse“ der letzten Jahre im Grunde genommen laut um neue Blickwinkel und Perspektiven auf das gesellschaftliche Leben fragen, soll nicht gedacht werden. Alles muss bleiben, so wie es ist, weil die Angst vor Neuem zu groß ist. Anders gesagt: die Politiker trauen den Bürgern diese Krise nicht zu. Sie bemühen sich den Eindruck zu erwecken, dass die Krise nicht auch eine persönlich-biographische Angelegenheit ist, die jede Person betrifft.
An dieser Stelle regiert uns noch immer das Denken von Karl Marx. Nicht die persönliche Haltung der Menschen oder die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben und die Welt bestimmen das wirtschaftliche und soziale Leben, sondern die großen, entfremdeten und funktionalen Strukturen, die als Ausdruck äußerer Machtverhältnisse verstanden werden. Die Sichtweise von Michel Foucault - als Beispiel – nämlich, dass Macht eine veränderliche Angelegenheit zwischen konkreten Menschen ist, kann in politischen Zusammenhängen noch immer nicht fruchtbar gedacht und angenommen werden.
Das Ergebnis: die Bürger lehnen sich bequem zurück, stellen sich nicht die Frage: was hat das alles eigentlich mit mir zu tun? und schauen abwartend auf die „großen“ Taten der Politiker. Dieser tragische Umstand scheint mir die Quelle der eigentlichen Krise zu sein. Obwohl die Haltung der Politiker verständlich ist – Chaos macht keinen Spaß! – führt sie dazu, dass die Krise nicht wirklich auf der Ebene ankommt, auf die sie gehört: in das konkrete Leben von allen konkreten Menschen.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wo man sparen und wo man investieren sollte, braucht man eine Idee davon, wo man hin will. Die Lösung des Problems liegt nicht in einem schlauen Denken über „wie-die-große-fremde-Welt-nun-einmal-funktioniert“, sondern in einer Vorstellung davon, wohin wir wollen. Auch abstrakte Begriffe wie „Bildung“ und „alternative Energien“ (in die wir doch investieren zu müssen?) bringen uns an dieser Stelle nicht viel weiter. Wichtiger sind diesbezüglich zumindest zwei Fragen: Wer soll wozu „gebildet“ werden? Und: Wozu brauchen wir „Energie?“
Ich wünsche mir ein kleines bisschen mehr Chaos. Und ich glaube, dass dieser Zustand auch kommen wird. Von allen Menschen – nicht nur von Politikern – wird eine wache Aufmerksamkeit verlangt, die auch dann gehandhabt werden kann, wenn die vertrauten Koordinaten im sozialen Leben auf einmal nicht mehr tragen. Die Krise kann uns, wenn wir uns das zutrauen, über eine Schwelle bringen, die Neuland verspricht. Wir müssen dafür aber nicht schon heute wissen wollen, was die Gegebenheiten dieser neuen Welt ausmachen.
Ich würde sagen: Bei all dem kräftig sparen, was darauf hinzielt, die alten Koordinaten aufrecht zu erhalten; und genauso kräftig in Fähigkeiten und Instrumente investieren, die uns beim Schwellenübergang helfen, in den richtigen Momenten die stimmigen Entscheidungen zu treffen. Und an dieser Stelle gilt: Wir dürfen in eine Tanzkunst investieren.