Ungreifbare Flüssigkeiten. Ein neues Lernen in einer Kultur des Herzens
Die Menschheit betritt Neuland. Und das Betreten von Neuland fragt um eine neue Art des Lernens und Erkennens. Auf hunderterlei Arten und Weisen ist das neue Lernen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern beschrieben worden. Spontan zu erwähnen sind an dieser Stelle, das „dialogische Denken“ von Jürgen Habermas, das „dialogische Prinzip“ von Martin Buber, die „soziale Plastik“ von Joseph Beuys, das „Diskurs-Denken“ von Michel Foucault und die „Dekonstruktion“ von Jacques Derrida. Hinter all diesen abenteuerlichen Sprachschöpfungen stecken Ahnungen, Sehnsüchte und Vorsätze.
Die Ahnung besagt, dass die Wirklichkeit nur scheinbar mit gegenständlichen und funktionalen Begriffen zu greifen ist. Die physische „Greifbarkeit“ der Welt scheint nicht mehr eindeutig „vorhanden“ zu sein und eine neue Art des Begreifens, das eher auf einem aktiven Mitmachen beruht, wird erahnt. Extrem einseitig wird dieses Ahnen im Konstruktivismus umgesetzt: was wir Welt nennen, ist nicht gegeben, sondern wird von Menschen ständig neu konstruiert.
Die Sehnsucht bedeutet beinhaltet ein Verlangen nach Ausfahrt, Lichtung, Erweiterung, Vertiefung, Erhöhung, Befreiung – sie hat hundert Namen. An der Tatsache, dass Rudolf Steiner an dieser Stelle die merkwürdige Andeutung ätherische Welt“ benutzt, übrigens neben weiteren Umschreibungen, brauchen wir uns nicht zu stören. Er war ja am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert in seinem Diskurs nun einmal auf theosophische Begriffe orientiert. Die Wirklichkeit, nach der wir uns sehnen, lässt sich sprachlich nicht fixieren.
Der Vorsatz bezieht sich auf eine humane Beteiligung. Egal was gedacht und gemacht wird, die Quellen liegen nicht länger in Ideologien, Systemen, Theorien, Konzepten und Weltanschauungen, sondern in den Menschen selber. Entscheidend ist, was sich in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu mir, in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu dir, in dem Ringen um freie Beziehungen-zwischen-uns als fruchtbar, notwendig und bedeutungsvoll erscheint. Der Vorsatz ist ein neues Lernen, dass sich unterwegs vollzieht und nicht vorprogrammiert ist. Die Inhalte des Lernens haben nie einen abstrakten Status, sind nie losgelöst von Raum und Zeit, treten in konkreten Umständen auf, werden wachgerufen und zelebriert im direkten Antlitz der Erscheinungen.
Eine Kultur des Herzens ist zu verstehen als ein unüberschaubares Flechtwerk von Menschen, die gemeinsam versuchen, diesen Weg zu gehen. Sie ist gleichzeitig Quelle, Bedingung und Ziel – Ursache und Wirkung. Die Substanz einer Kultur des Herzens liegt in der ungreifbaren Flüssigkeit zwischen mir und dir, zwischen uns, letztendlich ist sie als eine machtvolle Kraft zu verstehen. Wenn zwei Menschen in Freundschaft etwas mit einander gestalten wollen, im privaten oder im öffentlichen Bereich, öffnet sich ein Feld, wo Macht in Freiheit neu geordnet werden kann.
Ein guter Freund meinte, dass man über eine Kultur des Herzens nicht schreiben könne, gerade weil sie nicht überschaubar sei. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich glaube, dass die Kultur des Herzens tausend Texte braucht, geschrieben von mir und von dir, von ihr und von ihm, um gerade die Vielfalt erlebbar zu machen. Wenn ich versuche, mein Verständnis der Sache auf die sprachliche Ebene zu bringen, wird sofort deutlich: es gibt noch viel mehr Fenster. Sachen nicht fixieren zu wollen, heißt nicht, dass man schweigen muss.
Mit Dank an Sophie Pannitschka
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