12.01.2008

Waldorfkindergärten. "Wie geht es Euch mit mir?"

In einem Kindergarten sind drei „Räume“ zu unterscheiden. Der erste Raum ist der physische Raum, d.h. der Raum, der mit den Händen gebaut wurde. In diesem Raum gibt es unter anderem einen Eingangsbereich, einen Spielbereich, eine Küche und einen Garten. Meistens ist der physische Raum eines Waldorfkindergartens warm und einhüllend gestaltet. Über die Gestaltung des physischen Raumes hat man sich bis in die kleinsten Details viele Gedanken gemacht. An dieser physischen Ebene kann man deswegen immer einen Waldorfkindergarten eindeutig erkennen.

Der zweite Raum ist ein Raum in der Zeit. Der Tag, die Woche, die Jahreszeit und das Jahr sind in Waldorfkindergärten auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet. Das Ideal ist eine rhythmische Einrichtung, die auf das pulsierende Tragen der Zeit basiert. Auch hier geht es um Einhüllung: Das Kind wird durch die rhythmischen Wiederholungen durch den „Zeitleib“ getragen. Die Gefahr auf dieser Ebene liegt darin, dass sich Rhythmus unbemerkt in Takt verwandelt. Was ursprünglich als ein tragender und freier Raum gemeint ist, verwandelt sich in einen Zwang.

Der dritte Raum ist ein sozialer Raum. Es geht dabei um eine sozial-räumliche Wirklichkeit, die durch die Erwachsenen stark mitkreiert wird. Dieser Raum besteht aus einem Flechtwerk von Beziehungen zwischen Menschen – Kinder, Erzieher, Eltern und Vorstände. Und weil nur die Erwachsenen im Stande sind, sich bewusst (aus dem Ich, oder Selbst) zu diesem Flechtwerk zu verhalten, sind sie angewiesen, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Mir scheint es gerade diese Ebene zu sein, diese sozial-räumliche Wirklichkeit, die, generell gesprochen, nicht genügend beachtet wird in Waldorfkindergärten (und in vielen anderen Organisationen auch).

„Kinder leben in dem Schatten zwischen den Erwachsenen“. Diesen Satz sagte mir einmal Bernard Lievegoed. Er meinte damit, dass die Kinder seelisch und unbewusst in den Verhältnissen zwischen den Erwachsenen „leben“ – und vor allem auch in den Unmöglichkeiten & Verstrickungen & unfinished business & Ängsten & unterschwelligen Kämpfen zwischen ihnen. Die Kinder sind in dieser Hinsicht wie Fische im Meer: Sie können sich nicht gegen die tiefen und oft kräftigen Unterströmungen im Wasser wehren. Für Kinder bilden diese sozialen Strömungen genauso eine reale Umgebung, wie die physischen und zeitlichen Räume.

Ich meine, dass Bernard Lievegoed genauso gut hätte sagen können, dass die Kinder auch in den „Lichtungen“ (Heidegger) zwischen den Erwachsenen leben. Die Kinder leben nicht nur in dem sozialen Schatten, sondern auch in Möglichkeiten & Befreiungen & Öffnungen & Freuden & gemeinsamen Zielsetzungen zwischen den Erwachsenen. Wenn etwas zwischen zwei Erwachsenen geklärt ist, und dadurch eine Öffnung entsteht, bedeutet das für die Kinder eine lichtende Öffnung ins Leben hinein.

Wie kann dieser dritte Raum in Kindergärten gestaltet werden? Ein erster Schritt wäre natürlich Selbsterkenntnis, d.h., dass jeder Erwachsene ehrlich und gleichzeitig liebevoll auf sich schaut. (Ja, ehrlich und liebevoll, denn einen Kampf mit sich selber anfangen, bringt nichts.) Michel Foucault nennt das „die Sorge um sich“. Diese Sorge besteht laut Foucault darin, dass ein freies Selbst eine freie Beziehung zu sich selber konstituiert. Erst wenn ich eine freie Beziehung zu mir selber suche, entsteht die Möglichkeit, eine freie Beziehung zu den anderen Menschen zu suchen.

Rudolf Steiner meint, dass Selbsterkenntnis die erste Bedingung für eine erzieherische Tätigkeit ist. In einer Kultur des Herzens aber kann noch ein zweiter Schritt gemacht werden. Die Voraussetzung dafür aber ist, dass ein Team eines Kindergartens erstens den dritten Raum bewusst anerkennt (als genauso wichtig nimmt wie die physischen und zeitlichen Räume), und zweitens versteht, dass deren Gestaltung nicht von alleine läuft. Das Verstehen dieser beiden Aspekte ist nicht nur aus pragmatischen Gründen erforderlich, sondern auch weil nur eine klare Einsicht der Sache, die Freiheit gewährleistet. Diesen dritten Raum kann man nur aus Freiheit betreten. (Genauso, wie man nur aus Freiheit fruchtbar Selbsterkenntnis betreiben kann.)

Meistens werden Fragestellungen auf der sozialen Ebene erst dann angesprochen, wenn es Probleme gibt. Das führt oft dazu, dass Personen sich angegriffen fühlen, und meinen, sich verteidigen zu müssen. In einer Kultur des Herzens werden soziale Fragestellungen auf eine „phänomenologische“ Ebene gehoben, d.h., dass regelmäßig (einmal im Monat?) in dem Team die Fragen gestellt werden: Wie geht es mir mit mir in der Arbeit, wie geht es mir mit Dir (und Euch), wie geht es Dir (und Euch) mit mir? Das „Phänomenologische“ liegt darin, dass versucht wird, die gegenseitigen Wahrnehmungen ohne moralische Bewertung im Raum stehen zu lassen. Die Mitglieder des Teams versuchen so ehrlich wie möglich zu beschreiben, „wie es mir mit Dir in der Arbeit geht“ und hören unbefangen zu „wie es Dir mit mir geht“.

Mit diesen Fragen wird ein Weg in einer Landschaft, wo wir meistens träumerisch herumgehen, erörtert. Was ich hier als Vorschlag beschreibe, kann nur ein Anfang sein. Letztendlich wird es um die Pflege einer Kultur gehen, die Neuland beinhaltet. Bis heute liegt diese Pflege nur in den Händen professioneller Spezialisten, wie Konfliktberater und Supervisoren. Der Gedanke aber, dass man manchmal unbedingt Spezialisten braucht, mag berechtigt sein, kann im Grunde aber auch ein Hindernis sein, wenn es darum geht, die wichtigen Sachen des Lebens selber in die Hand zu nehmen.

Klar ist, dass nicht nur Freiheit sondern auch Vertrauen erforderlich ist. Meine Erfahrung aber ist, dass gerade dann das Vertrauen wächst, wenn ein gemeinsamer Versuch gemacht wird. Das heißt aber auch, dass Unzulänglichkeiten in diesem Vorgang akzeptiert werden. Das betreten dieses Raumes müssen wir noch lernen. Dieser Vorgang wird oft beanstandet mit der Begründung, dass man die persönliche und die sachliche Ebene in der Zusammenarbeit trennen soll. Ich meine, dass gerade das in pädagogischen (und generell sozialen) Zusammenhängen nicht mehr geht. Die Kultur des Herzens rüttelt an dem alten römischen Dogma der Trennung zwischen privat und öffentlich.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

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