Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (1)
Ich heiße Samuel Ton Coster, bin 54 Jahre alt und habe keinen Job. Ich bin Dichter. Weitaus die meisten Gedichte, die in mir leben, haben aber die richtigen Worte noch nicht gefunden. Sie verbleiben im Status Nascendi. Ich habe mich dazu entschlossen, mein Leben diesen noch ungeschriebenen Gedichten zu widmen.
Ich wohne in einem Dachgeschoss mit zwölf schrägen Fenstern. Um mich herum in den Dachrinnen gibt es Tauben, zwei brutale Elstern und Katzen. Mich interessiert jeden Tag neu, was denen widerfährt. Auf meiner Terrasse, mit Ausblick auf den Dom, stehen zwei schlanke eiserne Stühle und ein kleiner runder Tisch aus Paris. Ich sitze dort gerne, trinke Kaffee und rauche Zigaretten. Ich schaue dann auf die Züge nach Paris, Zürich, Wien, Aachen und Koblenz, die langsam und gelassen ihrem von vornherein festgelegten Ausweg aus der Stadt folgen.
Es gibt nur noch ganz wenige Menschen, die mich Samuel oder eben Sam nennen. Meine Eltern sind schon lange gestorben und mein einziger Bruder lebt in Lima. Meine Freunde und ehemaligen Kollegen nennen mich noch immer STC, ausgesprochen klingt es wie Esteecee. Die Leute hier im Haus – Italiener, Türken und Iraner – kennen mich als Herrn Coster. Wenn ich mit mir selber rede, bezeichne ich mich als Sammy.
Sammy ist ein Kind. Und so ist es: Wenn ich zurzeit spontan an mich denke, sehe ich ein Kind, elf Jahre alt, das gerade aus dem Sanatorium entlassen wurde und versucht, sein Leben bei seinen Eltern zu Hause wieder aufzugreifen. Sammy hatte Tuberkulose, lag zehn Tage in einem Koma, verblieb dreizehn ewig lange Monate in dem Sanatorium, und steht jetzt im Wohnzimmer seiner Eltern, schaut um sich herum und fragt sich: Was jetzt?
Damals hatte Sammy keine Ahnung. Es war ihm, als ob er einen Fieberbrand in seinem Körper und seiner Seele erlebt hatte, wie ein lodernder Ausbruch von brennenden Todeskräften & Visionen & Träumen, die irgendwie versuchten, ihn aus seinen Schranken zu heben. Der Brand war jetzt aber vorbei, sein Bewusstsein wieder wach und die Welt leer. Die Welt war Brachland geworden. Ohne die richtigen Worte zu finden, fragte sich Sammy: Was ist zu tun in einer leeren Welt? Er wusste es nicht.
Ich weiß es eigentlich immer noch nicht. Dreiundvierzig Jahre später sind mir nur noch die Worte übrig geblieben. Alles andere ist weg oder scheint bedeutungslos zu sein. Eine Ahnung ist aber dazugekommen. Was mich von dem damaligen Sammy unterscheidet, ist gerade, dass ich mittlerweile diese Ahnung habe. Woher sie kommt, weiß ich nicht so genau, und wohin sie führt, weiß ich noch weniger. Sie ist aber da, stark & breit & tief & beglückend. Sie ist wie eine zurückgekehrte Vision aus der Zeit der Tuberkuloseerkrankung.
Bevor ich gleich auf meine Terrasse gehe, eine Tasse Kaffee trinke und auf die Tauben und die beiden Spitzen des Doms schaue (das Wetter ist heute crystal clear, die Spitzen werden sich also scharf und souverän in den Himmel hinein spritzen), werde ich versuchen, meine Ahnung in Worte zu fassen. Ich ahne, dass ich Sammy helfen soll, vom Fleck zu kommen. Ich ahne, dass er dreiundvierzig Jahre lang im Wohnzimmer seiner Eltern stehen geblieben ist. Ich ahne, dass nach dem Brand die Welt leer geblieben ist, weil Sammy die richtigen Worte nicht gefunden hat. Ich ahne aber auch, dass er in all den Jahren viel gesehen & erlebt & über die Worte hinaus verstanden hat. Ich ahne, dass er Esteecee braucht um die Worte zu finden. Und ich ahne, dass Esteecee Sammy braucht um sich in den Himmel hinein zu spritzen.
Sammy ist dreiundvierzig Jahre dabei gewesen und hat gestaunt und geschwiegen. Er war dabei, als sein Freund Louis starb. Er war dabei, als sein Freund Francis starb. Er war dabei, als gleichzeitig sein Meister Alexander und seine Freundin Gloria starb. Und er war dabei, als mich vor vier Jahren – ich war in Schweden – ein Pfeil ins Herz traf. Ich ahne, dass Sammy mir sagen kann, woher dieser Pfeil kam.
Mir fallen heute zum Schluss noch ein paar Sätze von Bob Dylan ein. „I am a poet, I know it, I hope I don´t blow it.“
(Mit Dank an Birgitt Kähler)
2 Kommentare:
Ein sehr schöner Text. Danke!
Mich berührt, dass Sammy mit ungeschriebenen Gedichten lebt – Wortverbindungen, -klängen und -bedeutungen die in statu nascendi verbleiben.
Sammy, was brauchst du um deinen Gedichten zu einer Geburt zu verhelfen? Ich habe das Gefühl, dass es für die Welt eine Bereicherung wäre, wenn diese Gedichte entstehen und zu leben beginnen.
Du sagst, du brauchst Esteecee um deine Worte zu finden – und Esteecee braucht dich, um in den Himmel zu kommen. Könnt ihr ein Treffen vereinbaren? Vielleicht entsteht etwas daraus.
Herzlich! Charlotte
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