Angelo Poliziano. Brief an seinen Freund Pico della Mirandola
Salve! Heute war ich im Garten unterhalb von Montepulciano, wo ich als Kind immer wieder gespielt habe. Weil ich schon so lange aus meiner Heimatstadt weg bin, und die Menschen mich nicht erkennen, konnte ich ungestört umher gehen. Es war heiß, unter dem Schatten der Obstbäume war es aber kühl. Die Erinnerungen die auftauchten, bestätigten mir nochmals, was ich schon wusste: ich lebte als Kind in einem Traum. So ist es lieber Freund: alles was ich in meinem Leben gedacht und geschrieben habe, ist eine Verarbeitung dieser kindlichen Träume. Ich habe nie etwas gedacht, was ich als Kind nicht schon geträumt hatte.
Am späten Nachmittag habe ich mich an die Stelle gewagt, wo damals der Leichnam meines Vaters gefunden wurde. Die kennst die Geschichte: er wurde – ich war zehn Jahre alt – wegen seiner Beziehung zu den Medicis in Firenze umgebracht. Wo seine Feinde ihn ermordet haben, ist nicht bekannt, die Stelle wo sie seinen Leichnam entsorgt haben, aber schon. Sie haben ihn unten bei der Stadtmauer in eine Quelle geworfen, gerade dort, wo ich als Kind immer wieder vorbei kam, wenn ich nach Hause wollte.
Ich hatte heute den Mut, mir die Stelle anzuschauen. Sie sah verlassen aus. Über dem quadratischen Loch, etwa zwei Mal zwei Meter, wachsen Buchse, die wie Arkaden über dem regungslosen Wasser stehen und es bedecken. Ich weiß noch, dass ich damals als Kind am Abend in das tiefe und dunkle Wasser schaute, um die ersten Sterne gespiegelt zu sehen. Heute wurde nichts gespiegelt – als ich mich nach vorne beugte – auch nicht mein Gesicht. Mir schien es so zu sein, dass die Quelle ihre Augen definitiv verschlossen hatte.
Du weißt, wie es damals weiter gegangen ist. Ich wurde nach Firenze geschickt und in der Familie von Lorenzo de Medici aufgenommen. Dort lernte ich die griechische Sprache kennen und übersetzte schon als Jugendlicher Fragmente aus den Werken von Homer. Marsilio Ficino und Christopher Landino wurden meine Lehrer. Sie führten mich in die Philosophie der Antike ein – vor allem in die Denkweise Platons, obwohl ich innerlich eher bei Aristoteles zu Hause war. Später wurde ich beauftragt, die Erziehung von Giulio, Piero und Giovanni, den Söhnen von Lorenzo und Clarissa, in die Hand zu nehmen.
Ich habe damals die schrecklichen Ereignisse mit meinem Vater schnell vergessen, so, als ob sie gar nicht zu meinem Leben gehörten. Sein Tod wurde in mir zu einem Loch, das zugewachsen ist. Im Nachhinein muss ich aber feststellen, dass dieses Loch mein ganzes weiteres Leben, mein Denken und mein Dichten grundsätzlich bestimmt hat. Alleine meine Neigung zum aristotelischen Denken und meine Abwehr gegen die im Träumen verankerte Sichtweise von Platon – ach, wie sehr hat Marsilio sich immer wieder geärgert! – lag in der Tatsache begründet, dass für mich der Schreck des Todes immer und überall lauert. Ist Aristoteles letztendlich nicht der große Philosoph des Todes?
Ich wollte nie ein Philosoph sein. Ich wollte mich, ohne es zu wissen, durch den Tod meines Vaters zu den Träumen meiner Kindheit zurück arbeiten, aber so, dass die poetischen Bilder rückwärts durch das Nadelöhr des Todes reifen konnten. Ich wollte, lieber Pico, als Dichter die Träume meiner Jugend im Lichte des Todes überprüfen. Und so verstand ich auch die Werke Homers: sie stellen die Frage der Katastrophe. Wenn Troja gefallen ist und die Helden tot sind, welche Bedeutung haben die Ereignisse dann im Nachhinein?
Als ich heute am frühen Abend an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, vorbei ging und das Fenster meines Schlafzimmers sah, brach mein Herz. Jeden Morgen hing ich damals aufgeregt aus dem Fenster, danach verlangend, mich in den Tag hinein zu begeben. Wie unschuldig, hoffnungsvoll und unbefangen sind wir als Kinder! Und wie weit entfernen wir uns als Erwachsene von dieser spontanen Freude? Liegt in dieser Frage nicht die eigentliche Aufgabe der Poesie und der Philosophie: Was sagt die Kindheit eigentlich über die Natur des Menschen aus? Welche Bedeutung-für-sich, ich meine: nicht nur als „Vorbereitung“, sondern als „Zustand“, hat die Kindheit zwischen Geburt und Tod? Oder anders gesagt: was aus der Kindheit ist deutlich stärker als der Tod?
Ich war noch in Gedanken versunken, als die Seitentür des Hauses sich öffnete, dort, wo damals das Getreide in den Speicher gebracht wurde. Eine alte Frau erschien, ich erkannt sie sofort als unsere Köchin. Verwirrt drehte ich mich um, machte ein paar Schritte und hörte sie dann sagen: „Angelo? Angelo? Bist du es?“ Ich wendete mich zu ihr und sagte: „Ja, Lucia, ich bin es...“ Sie kam auf mich zu, schaute mir in die Augen und sagte: „Ja, du bist es! Ich sehe es in deinen traurigen Augen.“ Und sie wies auf die alte Bank an der anderen Seite der Straße und sagte: „Komm, erzähl mir von Firenze!“
8 Kommentare:
LOB DER KINDHEIT
Die Kindheit
war ein zarter Ort.
Vieltausend
Versprechungen
gab es dort.
Die Kindheit
sie ist mir
gut gelungen.
Ich forschte nach
bei Pippi Langstrumpf
und den Nibelungen.
Als ich erwachte
nach langer Traumzeit
blieb mir nur eins:
Das Lob der Kindheit.
(Michael Heinen-Anders)
Ja, Poliziano, erzähle uns von Firenze!
Zypressen in Toskana: Natur als Kunst... Jelle, ein schönes Bild! Und der Himmel als Öffnung... P.
Mercie vielmool!!
Lieber Jelle, sich verbunden fühlen ist mir das wichtigste im Leben. Auch wenn es durch Schmerzen geht, es geht! LG Andrea
Lieber Jelle van der Meulen, ich hatte noch nie von Poliziano gehört, habe mich allerdings erkundigt, und jetzt meine Frage: warum sind Sie mit ihm beschäftigt? Können und wollen Sie etwas dazu sagen? Würde mich interessieren. Hans F.
Lieber Hans F., mich beschäftigt zur Zeit vor allem die Beziehung zwischen Poliziano und Pico della Mirandola. Sie waren befreundet. Wie ich schon einmal in einem Blog über Pico geschrieben habe: ich glaube, dass in der frühen Renaissance etwas "unerledigt" geblieben ist. Mir scheint das für die heutige Zeit wichtig zu sein - lesen Sie bitte nach, wenn Sie wollen. Letzendlich kann ich die Frage aber nicht beantworten: warum beschäftigt man sich gerade mit XXX und nicht mit YYY? Herzlich, Jelle van der Meulen
Schatz meines Herzens
Schatz meines Herzens.
Kind der eigenen Schmerzen.
Dein Körper ist wie ein Kerker,
von woraus du,
freiwillig verschlossen,
in die Welt
hinaus schaust.
Dein Körper ist wie ein Kerker,
von woraus du dich selber,
langsamerhand stärker,
Zukunftvergossen,
die Freiheit
hinein traust.
Die Angst fürs Urteil
der Andern
hat deinen Ursprung ausgespart
und die Verbindung mit ihr
bis auf heute und hier
fürs Dasein aufbewahrt.
So lebst du
kinderleicht mit den Kindern
und kannst trotzdem nicht verhindern,
dass du als Erwachsene
in der Schwere verletzlich bist.
Du musst wohl deinen eigenen Engel werden
um dich zuverlässlich ins Dasein
zu gebähren.
Ich habe das Kind gesehen
und im aufwehen der Gefühle
den Wind eines Flügels
im Innern gespürt.
Aber nur als Mensch
kannst du den Engel erden
und nur als Mensch
kannst du die Zärtlichkeit eines Kindes
mit Leben umhüllen.
Nur als Mensch
kannst du das eigene Dasein
mit dem Wunder deiner Liebe
aufs Innigste berühren.
Huub
24. April 2010
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