20.02.2008

Die Mission von Sebastian Gronbach

Gerade ist das erste Buch von Sebastian Gronbach erschienen. Ich verstehe das Buch als ein Ereignis. Und weil es mir empfehlenswert erscheint, an Ereignisse teilzunehmen, sage ich: lest sein Buch! Und mehr noch: bewegt die Inhalte, diskutiert die Statements, prüft die Urteile, und vor allem: schaut auf das, was er zu erreichen sucht. Denn ein Ding wird in seinem Buch klipp und klar: Sebastian Gronbach hat etwas vor.

Was hat er vor? Oder anders gesagt: was ist seine Mission? Mir scheinen über seinem Buch die Sätze Rudolf Steiners zu strahlen: „Ich möchte jeden Menschen / aus des Kosmos` Geist entzünden,/ dass er Flamme werde...“ Das Buch von Sebastian Gronbach beinhaltet Zündstoff, nicht um irgendeine Bombe explodieren zu lassen (vielleicht sieht es oberflächlich betrachtet so aus), sondern um Menschen zu entzünden. Und sein literarisches Vorgehen ist dabei verwirrend einfach und deswegen simpel kompliziert: sein Schreibakt ist als eine Art Selbstentzündung zu verstehen.

Sebastian Gronbach meint, dass die Anthroposophie Menschen braucht, die sich selber geistig entzünden. In diesem Sinne ist sein Buch zu verstehen als eine Antwort auf den Terror. Implizit vertritt er in seinem Buch eine Strategie des Geisteskampfes: die Strategie der freien Tat. Sieht man in seinem Buch einmal dieses positive Gegenbild des Terrors, versteht man, was er vorhat. Sebastian Gronbach macht deutlich, dass der Weg zu Freiheit und Liebe über unsere Sehsüchte (was uns schon bekannt war), Vorsätze und vor allem Entscheidungen läuft.

Sebastian Gronbach will nicht warten auf „etwas“, das vielleicht kommt. Gerade von dieser Strategie hat er sich verabschiedet. Nix üben! Sondern tun! Er ist im Sinne von Dieter Brüll zu verstehen als eine „urielische“ Seele, d.h. eine Seele, die im Hier und Jetzt einmalige und entscheidende Ereignisse hervorzurufen wünscht. Auf Freiheit und Liebe braucht man nicht zu warten. Und so ist auch sein Buch zu verstehen. Es handelt nicht über dies und jenes, sondern versucht über die Inhalte und literarische Vorgänge eine Beziehung zu den Lesern herzustellen. Implizit fragt er: Na, macht ihr mit?

16.02.2008

Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (3)

Fünf Jahre nach ihrem Tod war ich in der Slowakei. Ich saß an einem rohen Holztisch neben dem Bahnsteig des Bahnhofes in Banska Bystrica. Es war früh am Morgen und die nächtliche Kälte hing noch in der Luft. An einem zweiten Tisch saßen Waldarbeiter, die in lärmender Runde Wodka tranken. Der Zug nach Cervena Skala sollte erst in einer Stunde abfahren.

Ich holte das grüne Heft hervor, das ich noch in Amsterdam gekauft hatte, schlug es auf und wollte einige Zeilen aufschreiben, die mir während der nächtlichen Zugfahrt in den Sinn gekommen waren. Die erste Zeile, die ich aufschreiben wollte, enthielt den Namen der gestorbene Freundin. Ich schrieb: „Es ist fast fünf Jahre her, dass...“, und geriet ins Stocken. Gerade als ich ihren Namen aufschreiben wollte, schien die Welt um mich herum zu verstummen. Es entstand mitten unten den Waldarbeitern, den Bahnhofsgebäuden, den Bäume eine Stille; in dieser Stille fühlte ich auf einmal mit großer Gewissheit, dass ich den Namen der Freundin nicht aufschreiben dürfte. Ich müsste einen anderen Namen für sie finden.

Während die Waldarbeiter wieder Witze rissen und ich einen zweiten Becher Kaffee leertrank, schaute ich vor mich hin. Was war passiert? Offensichtlich ist es also so, dachte ich, dass die Geschichte von ihrer Person losgelöst werden muss. Es geht nicht um sie als Person, sondern um etwas, dass darüber hinausreicht, etwas, das einen anderen Name hat. Einfach schreiben, dass sich zu der und der Zeit dies und jenes zugetragen hat, führt also nicht zu der Geschichte, die erzählt werden will. Aber wovon sollte die Geschichte dann wohl handeln?

Da fiel mir etwas ein: Geschichte ist Vergangenheit, ihr Leben ist Vergangenheit, auch ihr Selbstmord gehört der Vergangenheit an. Solange man auf der Suche nach Vergangenem ist, wird man im Dunkel herumtappen, wird man sich schuldig fühlen, wird man wie ein zurückgelassener Hund am Gartenzaun weiter heulen. Und sofort fiel mir der Namen ein, den ich ihr geben würde, den Namen, den ich an jenem frühen Morgen im Zug noch gehört hatte, als ich der Stimme von Van Morrison lauschte.

„Gloria“.

08.02.2008

50+. Schweben zwischen Abschied und Anfang

Die Lebensphase worin man sich gerade befindet, funktioniert wie ein Okular. Mit jeder Lebensphase geht eine bestimmte Sichtweise auf die Welt einher. Die Lebensphasen sind in gewissem Sinne „Erkenntnisorgane“, das heißt empfindliche & empfängliche & empfindsame Sensoren. Aus den Tiefen des Lebensgangs tauchen geistige Flechtwerke von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen auf, die uns dazu bringen, das Leben und die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu „lesen“. (Michel Foucault würde an dieser Stelle nicht von Flechtwerken, sondern von „Epistemen“ sprechen.)

Ich bin 58 Jahre alt. Vor etwa vier Jahren ist in mir ein Flechtwerk von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen erschienen, das ich erst als rein persönlich aufgefasst hatte. Ich meinte etwa, dass die Tatsache, dass ich älter wurde und damit der Tod näher rückte, in mir meiner Natur entsprechend eine Art melancholische Nachdenklichkeit hervorrief. Mittlerweile meine ich aber, dass das zu linear und psychologisch gedacht ist. Das auf den Tod Zuleben (Heidegger) ist zwar ein wesentlicher Vorgang, der tatsächlich Nachdenklichkeit & Innerlichkeit & Schwermut erzeugt, erklärt aber die Inhalte des Flechtwerks nicht.

Wie sieht das Flechtwerk von Fragen & Ahnungen & Bildern & Stimmungen in mir aus? Mir scheint es so zu sein, als ob sich in mir eine Art Spaltung vollzogen hat. Im Laufe der letzten Jahre sind zwei Perspektiven entstanden. Sie existieren gleichzeitig nebeneinander und suchen eine Wechselbeziehung zueinander. Sie sind, so meine ich, aus einander hervorgegangen. Die Aufgabe wäre, die beiden Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die erste Perspektive hat mit Abschied zu tun. Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass mein Leben & meine Aufgaben & meine Beziehungen nicht mehr selbstverständlich sind. Mein Körper, mein Charakter, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen, meine Vorlieben und meine sozialen Verbindungen haben eine spontane Evidenz verloren. Ich erlebe mich nicht länger als selbstverständlich getragen durch das, was ich denke, fühle und mache. Oder anders gesagt: Das Leben spricht nicht länger die mich gestaltende Sprache der Schöpfung.

Mit dieser Perspektive ist eine tiefe Müdigkeit verbunden. Das Leben sieht aus diesem Blickwinkel so aus, als ob alles schon mal gewesen ist. Mit dieser Müdigkeit geht auch eine Art Untergangsstimmung einher. Die konkreten Träume & Erwartungen & Sehnsüchte, die mein Leben bisher spontan und selbstverständlich bewegt haben, verlieren allmählich ihre spritzige Evidenz. Ein bisschen überspitzt gesagt: In mir gibt es keine bewussten Anliegen mehr. Oder vielleicht besser: Es geht gerade nicht mehr um meine Anliegen. Sie sind irgendwie „alt“ geworden.

Die zweite Perspektive lässt sich viel schwieriger beschreiben, weil sie ungreifbar ist. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder feststellen müssen, dass in mir ein Gefühl von Sinn & Bedeutung & Richtung entsteht, wenn ich die Anliegen von anderen Menschen in mich hereinnehme und als Ausgangspunkt für mein Handeln akzeptiere. Es gibt ein paar Menschen in meinem Leben, die in dieser Hinsicht entscheidend auf mich wirken. Nicht überraschend ist vielleicht, dass die meisten dieser Menschen jünger sind als ich. Diese Menschen haben etwas vor, wollen dringend etwas erreichen, ringen mit bestimmten Fragestellungen, verstehen die Welt auf eine bestimmte Art und Weise, kriechen durch Nadelöhre und erleben eine Krise nach der anderen. Und vor allem: Sie stellen einiges auf die Beine.

Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass diese Menschen in meinem Leben eine Landschaft erörtern, Wege zeigen und Baustellen einrichten, die ich betreten darf, wenn ich will. Wenn ich es nicht will, kann ich es auch lassen. Klar ist, dass ich nachdrücklich gefragt werde, die Baustellen zu betreten. Klar ist auch, dass die Menschen meinen, dass ich etwas beitragen kann. Gleichzeitig lebt in mir aber das klare Gefühl, dass es nicht meine Baustellen sind. Es fällt mir nicht immer leicht, mich gerade mit dieser Tatsache abzufinden.

Mir scheint es so zu sein, dass mit 50+ die Evidenz der Gegenwart auf eine andere Ebene gehoben wird. Ein „Ereignis“ in der Gegenwart ist nicht länger ein Schub aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein, oder umgekehrt ein Zurückgreifen auf die Vergangenheit den sich gestalten wollende Zukunft entsprechend. Das Ereignis in der Gegenwart ist eher ein aufmerksames Schweben zwischen Geschichte und Utopie, ein nachdenkliches Hin- und Herneigen des Herzens zwischen Abschied und neuem Anfang. Und dieser Anfang ist nicht nur deswegen neu, weil er auf die Zukunft bezogen ist, sondern vor allem weil er über mich hinausgeht.

05.02.2008

Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (2)

In Schweden war es kalt. Die tausend und abertausend Birken standen gelassen im Schnee. Und ich meinte, mehr als einfach auf Frühling warten, konnten die Birken nicht aufbringen. Ich meinte aber auch, dass dieses Warten gleichzeitig ein Strahlen war, ein Zurückspiegeln eines horizontalen und souveränen Lichtes, dass klar und kalt aus dem Norden kam. Und ich fragte mich: „Samuel, warum magst du den Norden nicht?“

Ich denke südwärts. Alles was Bedeutung hat, liegt im Süden: der Tempel mit den Störchen, der Innenhof von Aristoteles, die Arbeitszelle von Pico della Mirandola, das unbeholfene Städtchen von Beethoven, der Turm von Rainer Maria Rilke und die Kneipen in der Südstadt. Der Süden ist nicht nur warm & geschmackvoll & berauschend, sondern auch reich an Bildern & Texten & Taten. Aristoteles hat die Wahrheit in Athen gesprochen und nicht in Göteborg.

Weil in Göteborg gewartet wird. Auf was? Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass die Leute in Schweden auch im Frühling und Sommer auf Frühling warten. Auch wenn es nach dem langen Winter endlich Frühling ist, ist der Frühling noch immer nicht richtig da. Nein, das liegt nicht daran, dass der Frühling in Schweden nicht vollständig wäre – ganz im Gegenteil, es gibt kaum Gegenden, wo es im Frühling so kräftig sprießt und sprosst als da oben. Es hat eher damit zu tun, dass Frühling in Schweden einfach mehr ist als Frühling.

Und das macht mir Angst.

Ich war nach Göteborg gereist, um mich mit der ganzen Welt zu beschäftigen. Zwei Männer, einer aus Israel und einer von den Philippinen, hatten etwa hunderdfünfzig Menschen zu einer Weltberatung zusammengerufen. Der erste war ein Philosoph, groß & mächtig & melancholisch & duftig wie eine Zeder aus dem Libanon. Er sprach von „geistigen Ereignissen“, die nur in der seelischen Versenkung erkennbar sind. Der zweite war ein Aktivist, klein & beweglich & immer erfolgreich, wie eine Schere aus Solingen. Er sprach von „sozialen Ereignissen“, die nur mit politischen Taten hervorzurufen sind. Die hundertfünfzig Menschen hörten zu, tranken Kaffee und Tee, schauten auf die tausend und abertausend Birken und versuchten, die Zukunft der Welt in den Griff zu kriegen.

Mir ging es nicht gut. Mir war die Welt zu groß. Mir war mein Herz zu groß. Mir schien es zu viel Blut und zu viel Schmerz zu geben. Mir schienen sich die hundertfünfzig Menschen wie hundertfünfzig Chaplins auf einer Leinwand hin und her zu bewegen. Aber natürlich hatten der Philosoph aus Israel und der Aktivist von den Philippinen recht: Die Welt brauchte dringend Hilfe. Geistige Versenkung und politische Handlung standen an – Einwände hatte ich also nicht. Ich schaffte es nur nicht, in die Haut von Chaplin hineinzuschlüpfen und mich auf der Leinwand wiederzufinden. Ich war in mir gefangen.

An einem Abend hielt der Philosoph aus Israel einen Vortrag. Ich saß ganz oben und ganz hinten im Saal und hörte zu. Ganz unten und ganz vorne stand der Philosoph wie eine Zeder auf der Bühne, die groß & breit & dunkel war. Niemand dachte an die Birken draußen; so weit es Bäume gab, war es nur noch dieser eine, der mächtig duftete. Das Dunkel um ihn herum schien mir aber alles andere als leer zu sein. Ich meinte, dass das Dunkel vollgepackt war mit unsichtbaren Wesen, die aus der ganzen Welt gekommen waren, um die Worte des Philosophen zu hören.

Und dann auf einmal geschah es. Mir fehlen immer noch die richtigen Worte, um genau sagen zu können, was passierte. Es geschah ungefähr Folgendes. Auf einmal sah ich mich hinter dem Philosophen auf der Bühne stehen. Ich saß also ganz oben und ganz hinten und sah mich ganz unten und ganz vorne. Ich meinte, ich wäre da unten wie ein Wächter-im-Dunkeln, ein Soldat, damit beauftragt, „etwas“, (nein, nicht den Philosophen – der brauchte das nicht) vor den Wesenheiten zu schützen. Und ich sagte mir: „Samuel, du hast eine Aufgabe in einem dir noch unbekannten Kampf“. Dann aber gab es ein kurzes Rauschen. Ein Pfeil wurde geschossen. Und dieser Pfeil traf mich, da vorne auf der Bühne, in meiner Brust. Ich sah, wie ich mit meiner Hand den Pfeil umfasste und überrascht um mich herum schaute. Woher kam der Pfeil? Ich schaffte es, stehen zu bleiben.

Seitdem gibt es diesen Pfeil in meiner Brust. Seitdem gibt es die Frage: Woher kam er? Und: wer hat ihn geschossen? Seitdem habe ich das Gefühl, eine Wunde zu haben. Egal was ich mache oder gerade nicht mache, mir fehlt eine Kraft. Und irgendwie meine ich, dass Sammy mir den Pfeil aus meiner Brust herausziehen kann. Ich stehe aber noch immer auf der Bühne in Göteborg, wie Sammy im Wohnzimmer seiner Eltern.

30.01.2008

Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (1)

Ich heiße Samuel Ton Coster, bin 54 Jahre alt und habe keinen Job. Ich bin Dichter. Weitaus die meisten Gedichte, die in mir leben, haben aber die richtigen Worte noch nicht gefunden. Sie verbleiben im Status Nascendi. Ich habe mich dazu entschlossen, mein Leben diesen noch ungeschriebenen Gedichten zu widmen.

Ich wohne in einem Dachgeschoss mit zwölf schrägen Fenstern. Um mich herum in den Dachrinnen gibt es Tauben, zwei brutale Elstern und Katzen. Mich interessiert jeden Tag neu, was denen widerfährt. Auf meiner Terrasse, mit Ausblick auf den Dom, stehen zwei schlanke eiserne Stühle und ein kleiner runder Tisch aus Paris. Ich sitze dort gerne, trinke Kaffee und rauche Zigaretten. Ich schaue dann auf die Züge nach Paris, Zürich, Wien, Aachen und Koblenz, die langsam und gelassen ihrem von vornherein festgelegten Ausweg aus der Stadt folgen.

Es gibt nur noch ganz wenige Menschen, die mich Samuel oder eben Sam nennen. Meine Eltern sind schon lange gestorben und mein einziger Bruder lebt in Lima. Meine Freunde und ehemaligen Kollegen nennen mich noch immer STC, ausgesprochen klingt es wie Esteecee. Die Leute hier im Haus – Italiener, Türken und Iraner – kennen mich als Herrn Coster. Wenn ich mit mir selber rede, bezeichne ich mich als Sammy.

Sammy ist ein Kind. Und so ist es: Wenn ich zurzeit spontan an mich denke, sehe ich ein Kind, elf Jahre alt, das gerade aus dem Sanatorium entlassen wurde und versucht, sein Leben bei seinen Eltern zu Hause wieder aufzugreifen. Sammy hatte Tuberkulose, lag zehn Tage in einem Koma, verblieb dreizehn ewig lange Monate in dem Sanatorium, und steht jetzt im Wohnzimmer seiner Eltern, schaut um sich herum und fragt sich: Was jetzt?

Damals hatte Sammy keine Ahnung. Es war ihm, als ob er einen Fieberbrand in seinem Körper und seiner Seele erlebt hatte, wie ein lodernder Ausbruch von brennenden Todeskräften & Visionen & Träumen, die irgendwie versuchten, ihn aus seinen Schranken zu heben. Der Brand war jetzt aber vorbei, sein Bewusstsein wieder wach und die Welt leer. Die Welt war Brachland geworden. Ohne die richtigen Worte zu finden, fragte sich Sammy: Was ist zu tun in einer leeren Welt? Er wusste es nicht.

Ich weiß es eigentlich immer noch nicht. Dreiundvierzig Jahre später sind mir nur noch die Worte übrig geblieben. Alles andere ist weg oder scheint bedeutungslos zu sein. Eine Ahnung ist aber dazugekommen. Was mich von dem damaligen Sammy unterscheidet, ist gerade, dass ich mittlerweile diese Ahnung habe. Woher sie kommt, weiß ich nicht so genau, und wohin sie führt, weiß ich noch weniger. Sie ist aber da, stark & breit & tief & beglückend. Sie ist wie eine zurückgekehrte Vision aus der Zeit der Tuberkuloseerkrankung.

Bevor ich gleich auf meine Terrasse gehe, eine Tasse Kaffee trinke und auf die Tauben und die beiden Spitzen des Doms schaue (das Wetter ist heute crystal clear, die Spitzen werden sich also scharf und souverän in den Himmel hinein spritzen), werde ich versuchen, meine Ahnung in Worte zu fassen. Ich ahne, dass ich Sammy helfen soll, vom Fleck zu kommen. Ich ahne, dass er dreiundvierzig Jahre lang im Wohnzimmer seiner Eltern stehen geblieben ist. Ich ahne, dass nach dem Brand die Welt leer geblieben ist, weil Sammy die richtigen Worte nicht gefunden hat. Ich ahne aber auch, dass er in all den Jahren viel gesehen & erlebt & über die Worte hinaus verstanden hat. Ich ahne, dass er Esteecee braucht um die Worte zu finden. Und ich ahne, dass Esteecee Sammy braucht um sich in den Himmel hinein zu spritzen.

Sammy ist dreiundvierzig Jahre dabei gewesen und hat gestaunt und geschwiegen. Er war dabei, als sein Freund Louis starb. Er war dabei, als sein Freund Francis starb. Er war dabei, als gleichzeitig sein Meister Alexander und seine Freundin Gloria starb. Und er war dabei, als mich vor vier Jahren – ich war in Schweden – ein Pfeil ins Herz traf. Ich ahne, dass Sammy mir sagen kann, woher dieser Pfeil kam.

Mir fallen heute zum Schluss noch ein paar Sätze von Bob Dylan ein. „I am a poet, I know it, I hope I don´t blow it.“

(Mit Dank an Birgitt Kähler)

20.01.2008

Waldorfkindergärten. "Distanz und Nähe"

In Kindergärten geht es um die Beziehung zu den Kindern. Diese Beziehung sollte immer im Zentrum stehen, unabhängig davon, was in einem Kindergarten passiert. Auch wenn die Mitglieder des Teams anfangen sich miteinander zu beschäftigen, geht es letztendlich darum, einen Raum für die Kinder zu schaffen.

Die Beziehung zu den Kindern wird durch eine eigenartige und oft auch verwirrende Verdoppelung konstituiert, die sich mit den beiden Begriffen Nähe und Distanz beschreiben lässt. In seinem Büchlein „Urdistanz und Beziehung“ (1965) spricht Martin Buber vom „Prinzip des Menschen“, d.h. von „einer Seinskategorie, die mit dem Namen des Menschen bezeichnet wird“. Diese Seinskategorie hat laut Buber ihren Grund und Anfang „in einer doppelten Bewegung“, die zwischen „Urdistanz“ und „In-Beziehung-treten“ abläuft.

Also, beides gleichzeitig: Abstand halten und Nähe suchen. Diese doppelte Bewegung ist ein Wesenszug in allen Menschen, nicht nur im psychologischen Sinne, sondern weit darüber hinaus. Es geht um eine Bewegung, die sich in der ganzen Dreiheit von Körper, Seele und Geist vollzieht. Diese doppelte Bewegung macht den Menschen aus, oder anders gesagt: In dieser Bewegung wird ein Mensch zum Mensch. Sobald diese Bewegung ins Stocken gerät oder sich in einer Einseitigkeit auflöst, hört der Mensch auf Mensch zu sein.

Ich meine, dass dieses Urphänomen in erzieherischen Beziehungen oft nicht genug respektiert und positiv-aktiv bewertet wird. Alles was Erziehung ausmacht, steht oft so stark im Vordergrund, dass die Beziehung unbemerkt in die Peripherie der Zufälligkeiten & Beliebigkeiten & Non-Ereignisse getrieben wird. In der Erziehung ist Erziehung eigentlich als die wichtigste Nebensache aufzufassen. Die Hauptsache ist die Beziehung, und die geht über die Erziehung hinaus.

In Bezug auf die Beziehung zu den Kindern gibt es zwei Fallen. Die erste ist, dass Beziehung einseitig als Nähe aufgefasst wird. Laut dieser Sichtweise gibt es erst dann Beziehung, wenn es Nähe gibt. Aber auch Abstand ist ein Ausdruck der Beziehung – vor allem wenn der Abstand nicht aus Beliebigkeit oder Unvermögen entsteht, sondern auf Bewusstheit basiert. Gerade in dem Abstand kann eine andere Art von Nähe entstehen. Diese andere Art ist nicht warm oder kuschelig, sondern eher frisch, wie eine Brise im Januar, ermöglicht aber Eigenheit. Viele Kinder sind dankbar und fühlen sich respektiert, wenn sie sich ohne physische Berührung und ohne Worte wahrgenommen wissen.

Die zweite Falle ist, dass wir den Grund der Beziehung im Kind suchen, d.h., dass wir das Kind beobachten und das tun, wovon wir meinen, dass das für das Kind richtig sei. Mir scheint es aber genauso wichtig zu sein, dass die Erwachsenen einfach machen, was sie von sich aus machen wollen. Wenn Erwachsene – ja, gerade auch in den Kindergärten – einfach tun was sie gerne tun, bieten sie den Kindern die Möglichkeit, über eine interessante Tätigkeit eine Beziehung anzuknüpfen. Wenn zum Beispiel eine Erzieherin sich gerne mit Pflanzen beschäftigt, soll sie in den Garten gehen und Rosen pflegen. Die Kinder kommen dann von alleine dazu, einfach weil sie neugierig sind.

Die Verdoppelung von Buber – Nähe und Distanz – lässt sich nicht in ein erzieherisches Konzept „umsetzen“. Sobald versucht wird aus dieser Bewegung eine Art Programm zu machen, ist die Bewegung und damit das Leben schon erstarrt. Das einzig denkbare Programm bedeutet, dass man sich auf das Leben-so-wie-es-kommen-will (Adventura – das was auf uns zukommt) einlässt. Und so wie das im Leben nun einmal ist, sind erzieherische Angebote per Definitionem immer uninteressant, weil sie eine Ansicht haben. (mit Dank an Birgitt Kähler)

12.01.2008

Waldorfkindergärten. "Wie geht es Euch mit mir?"

In einem Kindergarten sind drei „Räume“ zu unterscheiden. Der erste Raum ist der physische Raum, d.h. der Raum, der mit den Händen gebaut wurde. In diesem Raum gibt es unter anderem einen Eingangsbereich, einen Spielbereich, eine Küche und einen Garten. Meistens ist der physische Raum eines Waldorfkindergartens warm und einhüllend gestaltet. Über die Gestaltung des physischen Raumes hat man sich bis in die kleinsten Details viele Gedanken gemacht. An dieser physischen Ebene kann man deswegen immer einen Waldorfkindergarten eindeutig erkennen.

Der zweite Raum ist ein Raum in der Zeit. Der Tag, die Woche, die Jahreszeit und das Jahr sind in Waldorfkindergärten auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet. Das Ideal ist eine rhythmische Einrichtung, die auf das pulsierende Tragen der Zeit basiert. Auch hier geht es um Einhüllung: Das Kind wird durch die rhythmischen Wiederholungen durch den „Zeitleib“ getragen. Die Gefahr auf dieser Ebene liegt darin, dass sich Rhythmus unbemerkt in Takt verwandelt. Was ursprünglich als ein tragender und freier Raum gemeint ist, verwandelt sich in einen Zwang.

Der dritte Raum ist ein sozialer Raum. Es geht dabei um eine sozial-räumliche Wirklichkeit, die durch die Erwachsenen stark mitkreiert wird. Dieser Raum besteht aus einem Flechtwerk von Beziehungen zwischen Menschen – Kinder, Erzieher, Eltern und Vorstände. Und weil nur die Erwachsenen im Stande sind, sich bewusst (aus dem Ich, oder Selbst) zu diesem Flechtwerk zu verhalten, sind sie angewiesen, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Mir scheint es gerade diese Ebene zu sein, diese sozial-räumliche Wirklichkeit, die, generell gesprochen, nicht genügend beachtet wird in Waldorfkindergärten (und in vielen anderen Organisationen auch).

„Kinder leben in dem Schatten zwischen den Erwachsenen“. Diesen Satz sagte mir einmal Bernard Lievegoed. Er meinte damit, dass die Kinder seelisch und unbewusst in den Verhältnissen zwischen den Erwachsenen „leben“ – und vor allem auch in den Unmöglichkeiten & Verstrickungen & unfinished business & Ängsten & unterschwelligen Kämpfen zwischen ihnen. Die Kinder sind in dieser Hinsicht wie Fische im Meer: Sie können sich nicht gegen die tiefen und oft kräftigen Unterströmungen im Wasser wehren. Für Kinder bilden diese sozialen Strömungen genauso eine reale Umgebung, wie die physischen und zeitlichen Räume.

Ich meine, dass Bernard Lievegoed genauso gut hätte sagen können, dass die Kinder auch in den „Lichtungen“ (Heidegger) zwischen den Erwachsenen leben. Die Kinder leben nicht nur in dem sozialen Schatten, sondern auch in Möglichkeiten & Befreiungen & Öffnungen & Freuden & gemeinsamen Zielsetzungen zwischen den Erwachsenen. Wenn etwas zwischen zwei Erwachsenen geklärt ist, und dadurch eine Öffnung entsteht, bedeutet das für die Kinder eine lichtende Öffnung ins Leben hinein.

Wie kann dieser dritte Raum in Kindergärten gestaltet werden? Ein erster Schritt wäre natürlich Selbsterkenntnis, d.h., dass jeder Erwachsene ehrlich und gleichzeitig liebevoll auf sich schaut. (Ja, ehrlich und liebevoll, denn einen Kampf mit sich selber anfangen, bringt nichts.) Michel Foucault nennt das „die Sorge um sich“. Diese Sorge besteht laut Foucault darin, dass ein freies Selbst eine freie Beziehung zu sich selber konstituiert. Erst wenn ich eine freie Beziehung zu mir selber suche, entsteht die Möglichkeit, eine freie Beziehung zu den anderen Menschen zu suchen.

Rudolf Steiner meint, dass Selbsterkenntnis die erste Bedingung für eine erzieherische Tätigkeit ist. In einer Kultur des Herzens aber kann noch ein zweiter Schritt gemacht werden. Die Voraussetzung dafür aber ist, dass ein Team eines Kindergartens erstens den dritten Raum bewusst anerkennt (als genauso wichtig nimmt wie die physischen und zeitlichen Räume), und zweitens versteht, dass deren Gestaltung nicht von alleine läuft. Das Verstehen dieser beiden Aspekte ist nicht nur aus pragmatischen Gründen erforderlich, sondern auch weil nur eine klare Einsicht der Sache, die Freiheit gewährleistet. Diesen dritten Raum kann man nur aus Freiheit betreten. (Genauso, wie man nur aus Freiheit fruchtbar Selbsterkenntnis betreiben kann.)

Meistens werden Fragestellungen auf der sozialen Ebene erst dann angesprochen, wenn es Probleme gibt. Das führt oft dazu, dass Personen sich angegriffen fühlen, und meinen, sich verteidigen zu müssen. In einer Kultur des Herzens werden soziale Fragestellungen auf eine „phänomenologische“ Ebene gehoben, d.h., dass regelmäßig (einmal im Monat?) in dem Team die Fragen gestellt werden: Wie geht es mir mit mir in der Arbeit, wie geht es mir mit Dir (und Euch), wie geht es Dir (und Euch) mit mir? Das „Phänomenologische“ liegt darin, dass versucht wird, die gegenseitigen Wahrnehmungen ohne moralische Bewertung im Raum stehen zu lassen. Die Mitglieder des Teams versuchen so ehrlich wie möglich zu beschreiben, „wie es mir mit Dir in der Arbeit geht“ und hören unbefangen zu „wie es Dir mit mir geht“.

Mit diesen Fragen wird ein Weg in einer Landschaft, wo wir meistens träumerisch herumgehen, erörtert. Was ich hier als Vorschlag beschreibe, kann nur ein Anfang sein. Letztendlich wird es um die Pflege einer Kultur gehen, die Neuland beinhaltet. Bis heute liegt diese Pflege nur in den Händen professioneller Spezialisten, wie Konfliktberater und Supervisoren. Der Gedanke aber, dass man manchmal unbedingt Spezialisten braucht, mag berechtigt sein, kann im Grunde aber auch ein Hindernis sein, wenn es darum geht, die wichtigen Sachen des Lebens selber in die Hand zu nehmen.

Klar ist, dass nicht nur Freiheit sondern auch Vertrauen erforderlich ist. Meine Erfahrung aber ist, dass gerade dann das Vertrauen wächst, wenn ein gemeinsamer Versuch gemacht wird. Das heißt aber auch, dass Unzulänglichkeiten in diesem Vorgang akzeptiert werden. Das betreten dieses Raumes müssen wir noch lernen. Dieser Vorgang wird oft beanstandet mit der Begründung, dass man die persönliche und die sachliche Ebene in der Zusammenarbeit trennen soll. Ich meine, dass gerade das in pädagogischen (und generell sozialen) Zusammenhängen nicht mehr geht. Die Kultur des Herzens rüttelt an dem alten römischen Dogma der Trennung zwischen privat und öffentlich.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

03.01.2008

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (3) Werner Kuhfuss

Mir scheint es, in meiner Reihe von kurzen Beiträgen über die Waldorfkindergärten in Deutschland, unausweichlich zu sein, etwas zu dem Buch „Die Waldorfkindergartenpädagogik“[i] von Werner Kuhfuss zu sagen. Obwohl das Buch schon länger vorliegt, hat, so weit mir bekannt ist, kaum jemand darauf öffentlich reagiert.

Das Buch hat zwei Schichten. In der ersten Schicht geht es um die Frage, wie die Waldorfkindergartenpädagogik eigentlich zu verstehen ist. Ich muss schlichtweg sagen, dass die Beschreibungen von Kuhfuss diesbezüglich nicht nur sehr inspirierend sind, sondern eine seltsame Evidenz haben. Hier spricht ein Mensch, der souverän die Pädagogik im Sinne von Rudolf Steiner verinnerlicht hat und weit entfernt bleibt von Phrase & Routine & Konvention. Obwohl Wahrheit aus meiner Sicht eine wackelige Kategorie ist, meine ich sagen zu können, dass in dem Buch von Kuhfuss der Geist der Wahrheit wandert.

In der zweiten Schicht irrt aber ein Gespenst herum. Am Anfang des Buches, in einer „Vorbemerkung“, wird das Gespenst ins Leben gerufen. Werner Kuhfuss schreibt da unter anderem ein paar Sätze über Helmut von Kügelgen. Ich bin von Kügelgen persönlich nie begegnet, habe aber von ihm erzählt bekommen. Daraus habe ich verstanden, dass er einer der führenden Persönlichkeiten in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten in Deutschland war. Er hat eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Waldorfkindergärten in Europa und den USA gespielt. Von Kügelgen ist im Jahr 1998 gestorben.

Werner Kuhfuss schreibt: „Die Rolle Helmut von Kügelgens, den der Verfasser noch als Seminarist Anfang der fünfziger Jahre an der Uhlandshöhe in Stuttgart erlebte, müsste – in aller Hochachtung und Würdigung seiner Persönlichkeit und sonstigen pädagogischen Arbeit – ohne Vorbehalte untersucht werden“. Und: „Dem Verfasser scheint, dass die Wucht und die Bürde der Verantwortung für die Geisteswissenschaft eine haltbare und die Zeiten überdauernde Kindergartenpädagogik schaffen zu sollen, einen seelischen Mechanismus in Gang gesetzt haben, aus dem von Kügelgen sich nicht zu befreien vermochte und über dessen Folgen gegen Ende seines Lebens, so wird gesagt, er unglücklich gewesen ist“.

Was mit dem „seelischen Mechanismus“ gemeint ist, wird nicht erklärt. Klar aber ist, dass von Kügelgen, laut Kuhfuss, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Stärker noch, laut Kuhfuss scheint von Kügelgen dazu beigetragen zu haben, dass die Waldorfpädagogik in den Kindergärten sich in ihr Gegenteil verwandelt hat. Direkt nach den Bemerkungen über Helmut von Kügelgen erwähnt Kuhfuss einen Vortrag von Rudolf Steiner, in dem vom „Jesuitismus“ gesprochen wird. Steiner meinte damit eine Geisteshaltung, die darauf hinzielt, den Willen der Menschen gerade nicht frei zu lassen, sondern gezielt und absichtlich vorzuprogrammieren.

Laut Kuhfuss ist nun die Praxis in den Waldorfkindergärten als „jesuitisch“ zu verstehen. Er schreibt: „Durch die normierte Zeiteinteilung, die weltweit (...) auf angebliche Notwendigkeiten im Kleinkinderleben hinzielen, werden die Gewohnheitsleiber stereotyp und unindividuell präpariert, ganz im Sinne des den Jesuiten zugeschriebenen Satzes: ´Beeinflusse ein Kind bis zu seinem siebten Lebensjahr und du hast den Menschen fürs ganze Leben`.“ Über von Kügelgen schreibt Kuhfuss noch: „Mit dem Wort Jesuitismus ist somit nicht die Person Kügelgens gemeint, sondern eher der Charakter eines Verantwortungsmechanismus, der sich dann, nicht nur bei ihm, einschleichen konnte und kann (...).“

Die Rolle Helmut von Kügelgens in der Entwicklung der Waldorfkindergärten wäre also laut Werner Kuhfuss „vorbehaltlos“ zu untersuchen – und zwar „in aller Hochachtung und Würdigung seiner Persönlichkeit“. Mir scheint es aber alles andere als „würdigend“ zu sein, der Persönlichkeit Kügelgens ohne Argumente & Gesichtspunkte & Erklärungen eine Art „jesuitische“ Gefangenschaft, aus der er sich „nicht zu befreien vermochte“, zuzuschreiben. An dieser Stelle hat, so scheint es mir, Werner Kuhfuss noch einiges zu erklären. So lange er das nicht macht, trägt er dazu bei, dass die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten von Gespenstern heimgesucht wird.

Rein inhaltlich, d.h. ohne den unbegründeten Vorwurf des Jesuitismus´, kann ich aber gut nachvollziehen, was Werner Kuhfuss in seinem Buch versucht zu übermitteln. Er hat meines Erachtens recht, wenn er z. B. sagt, dass die weltweit uniforme Zeiteinteilung in den Kindergärten, die individuelle Entfaltung gerade nicht fördert. Ganz am Ende seines Buches fasst Kuhfuss sein Anliegen treffend zusammen. „Der heutige Waldorfkindergarten“, schreibt er, „ist einer der Gefühle, und zwar von Erwachsenen, die sie in die Kinder hinein projizieren. Der zukünftige Kindergarten ist einer, der die kosmische Intelligenz, die dem Wollen, Fühlen und Denken des Kindes innewohnt, (...) auf Erden zu bestätigen hat.“ Wenn das gelingt, werden Kindergärten freie Orte in einer Kultur des Herzens sein.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)
[i] Werner Kuhfuss, Die Waldorfkindergartenpädagogik, Verlag Ch. Möllmann, 2005

28.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (2) Gespenster

In sozialen Traumlandschaften gehen Gespenster herum. Auch in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es welche. Es geht dabei um Vorstellungen, die auf irgendeiner Art und Weise an den in meinem vorigen Blog beschriebenen Positionen festgemacht werden. So gibt es das Gespenst des Vorstandsmitgliedes eines Kindergartens, meistens ein junger Mann, der von Anthroposophie „keine Ahnung“ hat und versucht, den Laden „vernünftig“, d.h. „ahrimanisch“ zu verwalten. Dazu kommt das Gespenst des „orthodoxen“ Anthroposophen, der von „Reform“ nichts hören will, und an bereits Gesagtem festhält.

Dann gibt es die überforderte junge Erzieherin. Sie hat zwar ein bisschen Ahnung von Anthroposophie, schafft es aber nicht, ein eigenständiges und kreatives Verhältnis dazu zu entwickeln. Die Eltern haben leider „gar keine Ahnung von Anthroposophie“, müssen aber keine Ahnung haben – die Waldorfkindergärten sind ja für alle Kinder gemeint – sind aber oft ärgerlich ignorant. Zum Schluss muss hier der Funktionär der Vereinigung erwähnt werden, der in seinem dicken Auto anreist, links und rechts gute Ratschläge erteilt und Protokolle schreibt.

Das Spiel der Gespenster ist umnachtet. Um die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten herum gibt es die sogenannte öffentliche Gesellschaft, die weiterhin als eine Bedrohung verstanden wird. Pisa, Kibitz und Sprachstandsverfahren sind nicht nur untaugliche politische oder pädagogische Instrumente (was sie aus meiner Sicht klar sind), sie kriegen in der Welt der Gespenster etwas Dämonisches. Sie werfen große Schatten und machen die Gespenster fast unsichtbar. Wie das öfters mit Dämonen ist: Sie werden für die Unzulänglichkeiten in der Gemeinschaft der Gespenster verantwortlich gemacht.

Es gibt in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten nicht nur Gespenster, wie es in der öffentlichen Gesellschaft nicht nur Dämonen gibt. Es gibt in der Gemeinschaft vor allen Dingen Menschen, die unbedingt ein bewusstes Verhältnis zu den Gespenster finden müssen. Die Gespenster sind in dieser Hinsicht nur zu verstehen als hilfreiche Erscheinungen in sozialen Traumlandschaften; sie sind hilfreich, weil sie klipp und klar zeigen können, wo es welche Nöte gibt. Gespenster verneinen oder totschweigen, bringt nichts – sie arbeiten dann einfach ungestört weiter. Gespenster angreifen hilft auch nicht – sie werden dadurch nur stärker.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster als Kreaturen verstanden, die sich in Bezug auf ganz bestimmte Nöte gut auskennen. Gespenster haben Nöte geschluckt, weil sie Nahrung brauchen. Gespenster haben Nöte bis zur Vergessenheit verinnerlicht. Und weil sie von unseren Nöte leben, die wir aber nicht als Nöte verstehen, und weil die Gespenster außerdem nicht glauben, dass wir bereit sind, die Nöte auch wirklich als Nöte zu akzeptieren und anzuerkennen, bleiben die Gespenster sicherheitshalber im Dunkel. Umgekehrt glauben wir nicht, dass die Gespenster bereit sind, sich zu öffnen, gerade weil sie Nahrung brauchen. Zwischen uns und unseren Gespenstern existiert ein klassischer Vertrauensbruch.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster zum Gespräch eingeladen. Wie geht das? Die üblichen Rituale in Vorstandssitzungen, Teambesprechungen und Elterntreffen reichen nicht aus, oder besser gesagt, wirken in Bezug auf die Gespenster eher ausladend. Das Top 1 - Top 2 - Top 3 – plus – Protokoll – Schema erzeugt nicht nur eine scharfe Trennung zwischen dem was relevant und irrelevant wäre, sondern auch zwischen Licht und Dunkel. Was dunkel ist, bleibt draußen vor der Tür. Die Frage ist: Wie führt man Gespräche in Traumlandschaften?

Mit Gespenstern ins Gespräch zu kommen, ist eine Kunst. Auf der Ebene einer größeren Traumgemeinschaft, wo die Verbindungen meistens anonym sind, gilt es vor allem, nicht nur funktionell zu kommunizieren. Gespenster gedeihen in einem Klima, wo das verbale Hin und Her (oder leider oft nur das „Hin“) auf die sachliche Ebene reduziert wird. Dringend notwendig ist eine Kultur, in der Personen hinter den Positionen zum Vorschein kommen und in der (relativen) Öffentlichkeit sichtbar werden. Gerade persönliche Anliegen & Verletzungen & Hoffnungen & Träume & Unsicherheiten & Grollen & Wünsche & Vorsätze könnten ins Spiel gebracht werden.

Dabei braucht es aber nicht zu bleiben. Wenn sogenannte „subjektive“ Wahrnehmungen & Empfindungen & Erlebnisse sichtbar sind, können sie angeschaut und „objektiviert“ werden. (So ist das: Der zweite Schritt der Objektivierung kann erst fruchtbar vollzogen werden, wenn der erste Schritt der Subjektivierung stattgefunden hat. Den ersten Schritt zu unterdrücken, zum Beispiel dadurch, dass er nicht für „geistig“ gehalten wird, führt zu einer sozialen Lähmung.)

Es gibt in der Gemeinschaft der Kindergärten zwei „Spielfelder“, in denen das Gespräch mit den Gespenstern geübt werden kann: in den unterschiedlichen regionalen und überregionalen Treffen, und in der schriftlichen Form der Kommunikation. Mir scheint es eine Herausforderung zu sein, für beide Spielfelder neue Spielregeln zu finden. (Fortsetzung folgt)
(Mit dank an Birgitt Kähler)

21.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (1) Ereignisse

In der Waldorfkindergartenbewegung in Deutschland stehen zumindest drei grundlegende Fragen an. Die erste Frage betrifft die Grundidee des Kindergartens selbst. Aus welchen Gründen meinen wir, dass es Kindergärten geben soll? Und wie sollen sie aussehen? Die zweite Frage betrifft die Vorstellungen, die wir davon haben, was ein Kind eigentlich ist. Wenn wir meinen, dass es dieses wunderbare Wesen wirklich gibt (d.h. keine soziale „Konstruktion“ ist), was macht dann sein Wesen aus?

Und die dritte Frage bezieht sich auf die Bedeutung der Anthroposophie im Leben und Arbeiten in und um den Waldorfkindergarten. Wenn die Anthroposophie kein ideologischer Lieferant von pädagogischen Methoden & Rezepten ist, welche Bedeutung hätte sie dann? Klar müsste sein, dass diese drei Fragen – besser wäre vielleicht zu sagen: diese drei Untersuchungsfelder – eng miteinander verknüpft sind. An dieser Stelle gilt, dass man sich nicht in dem einen Untersuchungsfeld bewegen kann, ohne ständig auf die zwei anderen Bezug zu nehmen..

Über die zweite und die dritte Frage könnte gesagt werden, dass Rudolf Steiner sie schon beantwortet hat. Das stimmt durchaus, reicht allerdings nicht mehr aus. Erstens sind Antworten immer Aussagen unter bestimmten Umständen – und seit dem Tod Rudolf Steiners im Jahr 1925 hat sich viel verändert. Zweitens geht es gar nicht mehr um die Frage, was Rudolf Steiner damals gemeint hat. Die heutige Lebenspraxis wird dadurch bestimmt, was Menschen heute denken, fühlen und vor allem wollen. Und was die erste Frage angeht: Rudolf Steiner hat sich einfach nie mit der Einrichtung eines Kindergartens beschäftigt. Die Bewegung der Waldorfkindergärten ist erst nach seinem Tod entstanden.

Eine Falle wäre, sofort in die drei genannten Untersuchungsfelder einzusteigen und klare Statements abzugeben. Das wird hier und da getan, bringt aber nichts. Mir scheint nämlich, dass die drei Fragen eine Vierte hervorrufen, die eigentlich nie gestellt wird. Gerade diese Frage müsste ins Zentrum des Denkens gerückt werden. Die Frage lautet: Was sagt uns die Tatsache, dass die drei Fragen zu einer träumenden Gemeinschaft gehören? Oder anders gesagt: Wie wäre zu erreichen, dass diese Gemeinschaft von Menschen, die mit dem Impuls der Waldorfpädagogik verbunden sind, in Bezug auf die Fragen wach wird? Oder noch anders gesagt: Wie könnte in dieser Gemeinschaft wirklich ein Diskurs entstehen?

Hinter dieser Frage steckt ein klares Urteil. Die eigentliche Krise der Waldorfkindergärten liegt darin, dass leider von einer wachen Gemeinschaft nicht gesprochen werden kann. Dieser Umstand wäre auf unterschiedlicher Art und Weise zu beschreiben – heute versuche ich es folgendermaßen. Wenn man auf die unterschiedlichen „Positionen“ in der Waldorfkindergartenbewegung schaut, fallen ein paar Probleme auf. Mit Positionen meine ich hier: Man ist ein „Elternteil“ (excusez le mot, man müsste eigentlich sagen: ein Vater oder eine Mutter), ein Kind, eine Erzieherin, eine Kindergartenleiterin, ein Vorstandsmitglied, ein Funktionär der Internationalen Kindergartenvereinigung oder ein wohlwollender Unterstützer. (Für mich gilt, dass ich ein Funktionär bin. Ich bin in der Leitung des Seminars für Waldorfpädagogik in Köln tätig, und Mitglied des Verantwortungskreises der Internationalen Kindergartenvereinung in NRW.

Die lange und reiche Vergangenheit der Waldorfkindergartenbewegung hat dazu geführt, dass eine formale Welt von Positionen und dementsprechend mit scheinbaren Verantwortungen entstanden ist. Diese Verantwortungen sind aber losgelöst vom wirklichen Leben. Das heißt, dass Entscheidungen zwar formal getroffen werden können, in der Lebenspraxis aber nur von ganz Wenigen getragen werden. Egal, ob man auf die internationale Kindergartenvereinigung bundesweit, auf die Kindergartenvereinigung in beispielsweise NRW oder auf die einzelnen Kindergärten schaut, grundlegende Entscheidungen haben nie die Bedeutung, die sie haben müssen um wirklich Entscheidung zu sein, nämlich die Bedeutung eines Ereignisses.

In der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es keine Ereignisse mehr. Was ist ein Ereignis in einer Gemeinschaft? Ereignisse erzeugen Geschichte. Ereignisse gestalten die Biographie der Gemeinschaft. Das geht aber nicht von alleine. Mit Ereignissen ist es halt so, dass sie erst dann auch wirklich Ereignisse sind, wenn sie als Ereignis wahrgenommen und erlebt werden. Ereignisse die nicht gemeinsam wahrgenommen & erlebt & bewertet & integriert werden, sind kollektive Träume. Sie bleiben wie Schatten an der Wand. Sie bestimmen zwar eindringlich die Gefühle – und über die Gefühle auch die Gedanken und Taten – der Mitglieder der Gemeinschaft, sie erreichen aber nie die Transparenz, die als Bedingung für freie Entscheidungen notwendig ist. Erst wenn eine Gemeinschaft um gedankliche Transparenz ringt, d.h. einen aktiven und wachen Diskurs führt, entsteht ein gemeinsames Erleben von Ereignissen. (Fortsetzung folgt)
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

14.12.2007

Mani heute. "Stand up to be discontinued"

Stuttgart, den 6. Dezember. Roland van Vliet steht auf der Bühne im Saal von Forum3. Er redet. Ich schaue ihn an und komme an drei Phänomene nicht vorbei. Das erste ist seine riesige Gestalt. Nur weil ich Roland zu meinen Freunden rechne, darf ich schreiben, dass er physisch enorm ist. Sein Bauch ist groß, sein Kopf ist groß und seine Gebärden sind groß. Und weil seine Haare richtig lang sind – nein, wegen seinem vornehmen dreiteiligen Anzug sieht er gerade nicht wie ein Sechziger aus – wirkt das Ganze imposant. Irgendwie meint man, dass sich in seinem Körper alles Mögliche zusammengefunden hat, um strahlend & unausweichlich präsent zu sein.

Das zweite Phänomen betrifft sein Denken. Sein Denken ist groß & weit & gewichtig. Seine Gedanken haben Gewicht. Als er etwas über Nietzsche und Foucault sagt, spürt man ein Kilo Philosophie – ein Kilo, das übrigens trotz seines Gewichts frei & schwebend bleibt. So denkt Roland van Vliet: Er nimmt gewichtige Gedanken zwischen seine Arme und bewegt sie mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, als ob er ein Tänzer wäre mit einer Partnerin, die er mühelos hin und her bewegt. Alle wunderbaren Seiten der Partnerin werden uns gezeigt. Und müde scheint Roland nicht so werden – ganz am Ende schwitzt er nur ein bisschen.

Dann aber das dritte Phänomen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was der richtige Begriff dafür ist. Wirkt er charmant? Ja. Wirkt er liebevoll? Ja. Wirkt er empathisch? Durchaus. Ich würde es vorläufig so beschreiben: Er scheint eine Innenwelt zu haben, die sich weit über seinen Bauch und seine breiten Gebärden bis an die Hinterwand des Saals ausbreitet und den Zuhörern einen „Verbleib“ bietet, wo Wärme & Licht herrschen. Ich fühle mich in diesem Innenraum nicht nur „aufgehoben“, sondern auch zu mir geführt. Irgendwie scheint es mir so zu sein, als ob Roland ein jungfräuliches Lächeln verbreitet, das einen milden Riss in der harten Wirklichkeit verursacht.

Das Thema in Stuttgart ist der Manichäismus. Anlässlich des Erscheinens eines Buches von Roland über Manichäismus[i] sind etwa hundertfünfzig Leute aus Deutschland, Schweden, der Schweiz, Belgien und Holland zusammengekommen. Als Erster spricht Professor Alois van Tongerloo aus Leuven. Am Ende seines Vortrages erzählt er von den Namen der Hauptfiguren in der Gralsgeschichte. Als er den Namen „Parzival“ behandelt und die Bedeutung dessen beschreibt, klingt bisher Ungesagtes. Van Tongerloo meint, dass der Name Parzival nichts anderes bedeutet als: „Der das Umherschweifende erleidet in einer nicht koordinierten Bewegung“.

Dann bin ich dran. Ich hatte geplant, mit einem Zitat von Captain Beefheart anzufangen, nämlich: „Stand up to be discontinued“ – und ich mache das auch. Ich stelle aber fest, dass Beefhearts Aussage unerwartet eingebettet ist in der Übersetzung des Namens Parzival. Hatte die Aussage Beefhearts für mich schon eine Aura, so findet sie noch eine zweite nach innen gerichtete Strahlung in der neuen Bedeutung des Namens Parzival. Und ich denke: Wie kann es wahr sein, dass heute in Stuttgart diese beiden Sätze ungeplant (nicht koordiniert) zusammenkommen? Und ich merke, dass durch dieses Zusammenkommen das Umherschweifende greifbar wird.

Als Roland als Letzter auf der Bühne erscheint, kriegt das Umherschweifende eine Gestalt. Er lässt seinen geplanten Vortrag sein was er ist, (nämlich ein geplanter Vortrag), und reagiert spontan auf das, was Alois van Tongerloo und ich gesagt haben. Er spricht von der „ungeteilten Aufmerksamkeit“ – d.h. von der Fähigkeit, sich im wachen Bewusstsein mit den Dingen & Worten & Menschen & Gedanken & Gefühlen & Taten zu verschmelzen. Und er redet von Einheit und Verschiedenheit – ein Thema, das schon Plato sehr beschäftigt hat. Wo findet man die Einheit in der Vielfalt? Und umgekehrt natürlich genau so: Wo findet man die Vielfalt in der Einheit? Wenn ich Roland gut verstehe, meint er, dass wir die Einheit finden in dem Akt – was ja ein Ereignis ist – der Verschmelzung im wachen Bewusstsein. Das Bewusstsein ist die Stelle, wo die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt nicht nur erlebt, sondern vor allem erst kreiert und dann wieder aufgehoben wird.

Das Treffen in Stuttgart war ein Ereignis und ich empfehle, das Buch von Roland zu lesen.

[i] Roland van Vliet, Der Manichäismus. Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche, Urachhaus, 2007

03.12.2007

Der Beamte und Maler Janssen aus 1850

Frau Janssen führt uns über die breiten Treppen in ihr vornehmes Haus in Aachen. Unsere Stimmen klingen ein wenig hohl. Weil wir mit einer ganzen Truppe aus dem Kinderhaus „Kahlgrachtmühle“ zu ihr gefahren sind, schaffen wir es aber ohne Mühe das große Treppenhaus mit diskontinuierlichem Leben zu füllen. Frau Janssen bleibt ruhig. Das Haus bleibt auch ruhig. Die Statuen, die Möbel und die Teppiche ruhen in einer Zeit, die schon längst vorbei ist. Und wenn Björn und Marina aus Neugier verbotene Türen ausprobieren wollen, greift Frau Janssen ruhig ein. In diesem Haus herrscht noch feine Aristokratie.

Das Ziel unseres Besuches steht improvisorisch aufgestellt auf einem uralten Sofa, das wahrscheinlich sonst nie benutzt wird. Es betrifft ein Gemälde nach holländischer Art, hundertfünfzig Jahre alt. Frau Janssen heißt ja Janssen, weil ihre Familie aus der holländischen „Zelfkant“ stammt. Frau Janssen ist die Urenkelin eines Aachener Beamten, eines Herrn Janssen, der damals „nicht viel zu tun hatte und deswegen Zeit übrig hatte um zu malen“. Etwa 1850 ist der Maler auch mal an der Kahlgrachtmühle vorbei gekommen, hat sich dort hingestellt und sich über die Landschaft gefreut, die sich über die Dächer der Mühle in der Richtung nach Aachen offen und frei entfaltet.

Das Gemälde ist entzückend. Der Maler Janssen muss ein frischer, fantasievoller und liebender Beamte gewesen sein. Einerseits öffnet das Bild einen weiten Raum. Es übermittelt das Gefühl, dass die ganze Welt bereitwillig zu deinen Füßen liegt. Die Landschaft ist da, um herzlich betreten zu werden; die Welt ist da, um die Freiheit zu genießen. Andererseits zeigt das Bild wunderbare Details, die man leicht übersieht (wenn man sich, anders als die Janssens, die Zeit und die Ruhe nicht nimmt). Es gibt meditierende Störche, einen Mann, der gehetzt einen Esel forttreibt, Bauern, die entspannt Äpfel pflücken, eine Frau, die mit einem Kind unterwegs ist, die Spiegelung der Häuser in einem Teich, Rauch, der kerzengerade aus einem Schornstein steigt... Der Maler Janssen hat die Weite der Freiheit und die einzigartigen Einzelheiten des Lebens geliebt. Vor allem trifft mich aber, dass die Zeit in der Landschaft wie ausgeschaltet scheint – genau so, wie in dem vornehmen Treppenhaus und wie in der gehaltenen Gebärde der Urenkelin. Die Ruhe im Gemälde ist die gleiche Ruhe wie im Haus. Frau Janssen bewahrt noch immer die Ruhe, die ihr Urgroßvater innehatte.

Der Beamte und Maler Janssen aus dem neunzehnten Jahrhundert öffnet meine Augen für unsere Gegenwart. Mit seinen Augen schaue ich bei der Kahlgrachtmühle-von-heute herum und stelle fest: es gibt vieles, dass es damals noch nicht gab, und es gab vieles, dass es heute nicht mehr gibt. Nein, Störche gibt es nicht mehr. Nein, den Mühlenteich gibt es nicht mehr. Nein, die wunderbare Öffnung in der Landschaft nach Aachen gibt es nicht mehr.

Gibt es die Freiheit noch? Klar ist, dass die heutige Autobahn die weite und entzückende und zur Freiheit verführende Sicht auf die Landschaft weggenommen hat. Anders als damals liegt die Mühle heute in einer Ecke, fast verborgen in einer Achse zwischen Autobahn und künstlichen Hügeln von Schutt aus dem Krieg. Seit hundertfünfzig Jahren ist ja unheimlich viel passiert – und man merkt es! Mir scheint es, als ob das Leben dichter und dringender geworden ist.

Als wir aber versuchen die genaue Stelle zu finden, wo der Maler Janssen damals gestanden und auf die Mühle geschaut hat, sagt Martin Soltau: „Die Apfelbäume stehen noch genau so am Abhang wie damals“. Und so ist es. Ich schaue und sehe, dass die Obstbäume eine Art Sprung machen, als ob sie sich mit einem Ruck halb drehen, in den freien Himmel hoch „springen“ und sich dort an Licht und Luft freigeben. Gerade dieses Springen und sich in den freien Himmel Preisgeben, hat der Maler vor hundertfünfzig Jahren gesehen. Er hat es aber nicht nur gesehen, sondern auch in sich selber nachvollzogen, so dass er es malen konnte.

Auf einmal meine ich das Springen und das sich nach oben in Luft und Licht Freigeben-wollen, überall in der Landschaft zu sehen. Die Obstbäume präsentieren irgendwie ein Urbild für die Landschaft um die Kahlgrachtmühle herum. (Eben der kerzengerade Rauch aus dem Schornstein scheint mir auf einmal auch an dem freigebenden Springen beteiligt zu sein.) Und hundertfünfzig Jahre später kann ich es bestätigen Dieses sprunghaft sich Freigeben nach oben, in Luft und Licht hinein, ist gerade, was ständig mit uns in die Mühle passiert. Der Unterschied zu der damaligen Zeit ist nur, das die Voraussetzungen ein wenig bedrängter geworden sind. Die Sprünge sind aber dementsprechend schöner geworden.
(Mit dank an Ruthild Soltau)

21.11.2007

"Mani heute"

Am 6. Dezember erscheint in Deutschland von Roland van Vliet das Buch „Der Manichäismus. Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche“. Ich bin gefragt worden anlässlich des Erscheinens einen Vortrag zu halten. Als Titel für meinen Vortrag habe ich „Mani heute“ gewählt.

Ich habe diesen Titel gewählt, weil das Anliegen von Roland van Vliet darin besteht, den Manichäismus zu aktualisieren. Roland möchte alles andere, als den Eindruck erwecken, dass der Manichäismus als historisches Ereignis vorbei wäre. Auch wenn Roland sich in seinem Buch ausführlich mit der Vergangenheit beschäftigt, macht er das nur, um gedanklich und intentional ein Licht auf die spirituellen Brennpunkte der heutigen Zeit zu werfen. Als ich sein Buch las, musste ich ständig an diese Sätze von Michel Foucault denken: „Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Und was ist dieses `Jetzt´, innerhalb dessen wir die einen und die anderen sind ...?“

Was ist dieses `Jetzt´? Hat das `Jetzt` einen Inhalt? Wenn man versucht, sich dem Begriff ´Jetzt` tastend anzunähern, taucht sofort ein zweiter Begriff auf, nämlich `Ereignis´. Der Inhalt des `Jetzt´ ist immer ein Ereignis. Wenn man im Nu lebt, erlebt man ein Ereignis, man wird zum Ereignis. Das Ereignis kann alles sein: z. B. ein Gedanke, eine Erinnerung, aber auch ein wunderbares Tor von Podolski, ein Lied von Sting, ein Kuss, ein Unfall, die Stille, ausgesprochene Worte und unausgesprochene Worte, ein Espresso... Im `Jetzt´ - Martin Heidegger würde sagen: im Sein – gibt es nur Ereignisse.

Was ist ein Ereignis? Es gibt große Ereignisse, kleinere Ereignisse und winzig kleine Ereignisse. Ein winzig kleines Ereignis gab es letzte Woche noch in meinem Garten, als ich sah, wie ein Birkenblatt leise nach unten wirbelte und sich auf die Wiese zur Ruhe hinlegte. Ich war betroffen von der Leichtigkeit, der Ruhe und dem sich ohne weiteres Fallenlassen wollen – und das Geschehen vollzog sich nicht nur außerhalb von mir, sondern auch in mir. Tausende von Birkenblätter lagen schon auf der Wiese – niemand hat aber gesehen, wie diese heruntergefallen sind. Weil ich sah, wie gerade dieses Birkenblatt nach unten wirbelte, wurde es ein Ereignis. Ein Ereignis wird erst dann ein Ereignis, wenn es als Ereignis wahrgenommen, miterlebt und nachvollzogen wird.

Ein Ereignis scheint mir eine Schöpfungstat zu sein. Nicht nur Blätter sind daran beteiligt, sondern auch aufmerksame Bewusstseine. Ohne Aufmerksamkeit keine Ereignisse. Rudolf Steiners Beitrag an das Christentum scheint mir vor allem zu sein, dass er das Christentum – besser gesagt: den Tod und die Auferstehung von Christus, damals als historisches Geschehen in Palästina – als Ereignis verstanden hat. Nicht die Lehre von Christus stand für Steiner zentral, sondern die Tatsache, dass etwas geschehen war. Er spricht dann auch vom Christentum als „mystische Tatsache“. Das Geschehen auf Golgatha nennt er ein „Mysterium“ – was auch ein Ereignis ist. Und er behauptet kühn, dass diese Tatsache für alle Menschen einen zentralen Wert hat.

Mit dieser Stellungnahme ist ein Problem verbunden. Ereignisse treten immer in Raum und Zeit auf, das heißt, Ereignisse haben eine geschichtliche Einbettung. Die Art und Weise wie wir von einem Ereignis sprechen, wird durch Raum und Zeit bestimmt. Wir wissen mittlerweile, dass das Christentum als historischer Strom in Europa vom jüdisch-hellenistischen Denken und Erleben geprägt ist. Anders gesagt: Die mystische Tatsache, das Ereignis, wurde auf eine ganz bestimmte Art und Weise, vor allem über den Apostel Paulus, weitergetragen. Andere Perspektiven sind historisch gesprochen in den Hintergrund geraten.

Um zu verstehen, worum es sich handelt, brauchen wir an dieser Stelle Michel Foucault. Er hat einfach festgestellt, dass Menschen auf Ereignisse reagieren. Warum? Weil, reagieren auf Ereignisse heißt, dass man Ereignisse schöpft. Foucault würde sagen: Auf Ereignisse reagieren, heißt schöpferisch leben. Michel Foucault hat verstanden, dass es ohne Bewusststein keine Ereignisse gibt. Dann hat er einfach festgestellt, dass Menschen nicht auf die gleiche Art und Weise auf Ereignisse reagieren. In individuellen Menschen, in Gruppen von Menschen, in Kulturen und Epochen herrschen, was er „Episteme“ nennt, dass heißt in meinen Worten: unterschwellige Vorstellungen, Normen und Werte, ja, vor allem Intentionen, die insgesamt selbstverständlich als „Erkenntnis-Systeme“, als „Wahrheits-Grundlagen“ genommen werden. Diese unterschiedlichen „Wahrheits-Grundlagen“ führen zu was Foucault „Diskurs“ nennt.

Die Frage, woher diese Episteme stammen, konnte Foucault nicht beantworten. Er meinte, die Episteme entstehen spontan und beliebig, ja unbewusst experimentell. Laut Foucault werden alte und neue Episteme immer wieder einfach ausprobiert. Rudolf Steiner hätte aber an dieser Stelle gesagt: Episteme sind karmisch bedingt. Er hätte die großartige Entdeckung von Michel Foucault, dass es unterschiedliche Episteme gibt und dass diese Episteme zu unterschiedlichen Diskursen führen, als einen wichtigen Schritt verstanden. Er hätte gesagt: Schau auf die innere Logik der unterschiedlichen Episteme und du wirst die karmischen Hintergründe verstehen.

Das oben erwähnte Problem liegt eben darin, dass das Christentum-als-Diskurs schon rein sprachlich in ganz bestimmte Episteme eingebettet ist. Christus heißt ja Christus, was ein griechischer Name ist. Christus heißt nicht Krishna oder Zarathustra. Wenn, wie Steiner behauptet, das christliche Ereignis, das Mysterium von Golgatha, für alle Menschen gilt und wenn man auch behauptet, dass eine bewusste Beziehung zu diesem Ereignis entscheidend ist – ohne Bewusstsein kein Ereignis! – stellt sich die Frage: Wie kann das Ereignis für andere Episteme geöffnet werden? Das heißt: Wie kann über die europäische Geschichte hinaus von einem Ereignis gesprochen werden, das wir nur über die europäische Geschichte kennen gelernt haben?

Ich werde in meinem Vortrag versuchen, deutlich zu machen, dass diese Fragestellung eine manichäische ist. Das Auftreten von Mani im dritten Jahrhundert ist gerade so zu verstehen: Er hat sich damals mit unterschiedlichen Epistemen auseinandergesetzt und in diesen Epistemen die Bilder, Vorstellungen, Normen,Werte und Intentionen gefunden, die es ermöglichen, vor Ort eine bewusste Beziehung zu der mystischen Tatsache zu finden. Dieses „vor Ort“ war zentral in seinem Bemühen.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

12.11.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt? (2)

Bochum, den 27.10.2007. Ich nenne sie für heute Eveline. Sie steht (da) ganz vorn und schaut mit offenem forschenden Blick auf uns, die ja auf sie schauen. Auch heute dürfen wir wieder unverhohlen schauen, weil das die Übung ist. Eveline hat sich zur Verfügung gestellt, weil wir eine Antwort finden wollen auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Die stumme Sprache ihrer Gestalt spricht. Erst sehen wir „Stabilität“, dass heißt, die Gestalt steht richtig auf der Erde. Es scheint so, als ob es an der rechten und linken Seite ihrer Gestalt eine Art umgekehrtes U gibt, ein ∩ also, was das Ganze zusammenhält und festigt. Und ständig taucht das Wort „Kraft“ auf, als ob die ganze Gestalt darauf hingerichtet ist, nicht nur Kraft zu sammeln, sondern auch „kräftig“ zu handeln. Ich weiß, dass Eveline Bildhauerin ist, und denke: Wenn es um Granit geht, weiß ihre Gestalt Bescheid. Einer der beobachtenden Anwesenden drückt es wunderschön aus: „Die Schultern haben die Hände zur Verfügung“.

Wir schauen genauer auf die Einzelheiten und stellen fest, dass es überall asymmetrische Verhältnisse gibt. Die Augenbrauen, die Augen, die Mundwinkel, die Schultern, die Hände (die rechte hängt ein kleines bisschen tiefer als die linke) – alle Doppelungen sind auf einer feinen Art und Weise dem Gesetz der Asymmetrie untergeordnet. Jemand sagt: „Die Stabilität scheint mir eine zu sein, die sicher in der Asymmetrie gelandet ist.“ Jemand anders stellt fest: „Die Asymmetrie bildet einen Rhythmus, der sich von oben nach unten bewegt“. Und so ist es: Hat man den Rhythmus der Asymmetrie einmal bewusst gesehen, sieht man ihn überall.

Und dann sagt jemand auf einmal: „Deine Lippen sind perfekt!“

Wir konzentrieren uns auf Evelines Blick. Mit dem Blick sind Aufmerksamkeit und Bewusstsein verbunden. Alexander Schaumann stellt uns wieder eine unmögliche-wunderbar-mögliche Frage: „Woher kommt der Blick?“ Ich schaue und schaue und schaue, und langsam ensteht in mir ein unmöglich-wunderbar-möglicher Satz: „Der Bewusstseinsstrom kommt von oben, taucht im Herzbereich unter und nimmt dort ein warmes und schlafendes Wissen auf, steigt wieder nach oben, geht durch die Augen in den Raum und befragt frei die Welt“.

Diesmal malen wir nicht, sondern wir dichten. Das heißt: Wir schreiben gemeinsam ein Gedicht um unseren Beobachtungen außerhalb von uns eine Form zu geben. Glauben Sie mir, der Weg war lang. Gemeinsam um Worte ringen, ist nicht einfach. Trotzdem gab es auf einmal ein gemeinsames Empfinden, einen Strom von gegenseitigen Bejahungen – der Text fing auf einmal an, sich selber zu schreiben. (Ich kenne das als Schriftsteller: Wenn der Text selber tätig wird und sich von sich aus in den Prozess einmischt, entsteht Gutes. Der Titel des Gedichtes heißt natürlich „Hymne“.

= Hymne=
Deine Lippen sind perfekt!
Du
U.
Deine Schultern
haben die Hände zur Verfügung.
Stabil ist dein Stand. Deine Gestalt:
Rhythmus der Asymmetrie.
Vorbehaltlos ist dein Atmen.
In deinem conkaven Flach
spürst du den Hauch von außen.
Deine Brust speist die Hand.
Ruhe –
Dein Blick sammelt sich in der Frage:
Wer bist du?

31.10.2007

Der Tod und die Betroffenheit

Herzwerk und Tod hängen eng zusammen. Die Betroffenheit, die mit dem Tod einhergeht, weckt die Fähigkeit, die Botschaften des Lebens auf eine nicht-triviale Art und Weise zu lesen und zu verstehen. Die immer einzigartigen Ereignisse, die mit einem Sterben zusammenhängen, haben eine Intensität, die auf der Ebene des Herzens wirkt. So ist das mit dem Tod-im-Leben: Er steigert die Fähigkeit zum Leben.

In den letzten Wochen wurde in meinem Leben viel gestorben. Anfang Oktober starb Uwe Gronbach, der Vater meines Freundes Sebastian. Ich bin am 12. Oktober nach Bad Godesberg gefahren um in der Kirche der Christengemeinschaft an der Trauerfeier teilzunehmen. Es war ein wunderschöner Herbsttag mit einem warmen Licht, das sich sanft über uns ausbreitete. Nach der Trauerfeier sagte Sebastian über seinen Vater: „Seine Liebe zur Tat... Seine große, große Liebe zu den Menschen... Zu jedem einzelnen und zu allen... Das wird in diesen Stunden frei und es steht Ihnen und uns zur Verfügung. Bitte bedienen Sie sich. Es ist reichlich vorhanden.“

Genau sieben Tage später war ich in Kosiče in der Slowakei, um Marianka Novak zu kremieren. Ich hatte im August auf meiner Blogsite schon über sie geschrieben (siehe: „Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich“.) Auch in Kosiče konnte man spüren, dass etwas frei wurde. Mit ihrem Tod hat Marianka uns den Mut zum Verzeihen zur Verfügung gestellt, das heißt, die Bereitschaft, auch dann die Menschen aktiv zu lieben, wenn sie uns schwer verletzt haben. Als ich mich am Flughafen von ihren beiden Söhnen Boris und Brano verabschiedete, war uns klar: Der Tod Mariankas hat nochmals bestätigt, dass wir uns gegenseitig als „Stützpunkte“ in unseren Biographien verstehen.

Eine Stunde nach meiner Ankunft spät abends in Deutschland kam die Nachricht, dass mein Vater Harm van der Meulen gestorben war. Als ich am nächsten Morgen in Utrecht ankam, waren meine Geschwister schon dabei, die Beerdigung zu regeln. Wir saßen in seinem Zimmer, rauchten seine letzten Zigaretten und sprachen über sein Leben und sein Sterben. Zwei Aspekte standen immer wieder im Zentrum unserer Aufmerksamkeit: seine tiefe – und in den letzten Jahren auch milde – Liebe für unsere Mutter (die im August 2006 gestorben war) und die entschiedene Art und Weise, wie er sich als Gewerkschafter und Politiker verstanden hat.

Mein Vater meinte, dass Gott der Gestalter seiner Biographie war. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass er selbst sein Leben gestaltet hat, und zwar entschieden und ohne wenn und aber. Gerade mit Kunst hatte mein Vater nichts am Hut – Künstler waren in seinen Augen irgendwie halbwegs schon „subversiv“. Kunst war „flauwekul“. Und die einzige Kunst die er liebte, nämlich die Poesie der Bibel, fasste er nicht als Kunst auf, sondern als Gesetz. Als Lebenskünstler war er aber wie ein Bildhauer, der aus hartem Granit sein Leben gestaltete. Diese Fähigkeit kam frei als er starb: das Leben zu verstehen als eine Skulptur – und vor allem auch die Fähigkeit, am Ende seines Lebens die Skulptur zu verfeinern, glatt und lieb, ja, berührbar zu machen.

Einen Tag nach der Beerdigung meines Vaters in Utrecht kam Aachen. Für den Abend war dort in der Waldorfschule ein Vortrag geplant: „Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens“. Am Vormittag kam dann die unfassbare Nachricht, dass ein Vater seine Frau und seine zwei Kinder mit einem Beil getötet hatte. Der Vater, die Mutter und die zwei Kinder gehörten zum Umkreis der Waldorfschule. Einige meiner Freunde in Aachen kannten die Familie sehr gut. Eine Freundin der getöteten Frau schrieb mir: „Ich kann es immer noch gar nicht begreifen und bin fast nicht in der Lage, es auch nur auszuhalten.“

Am Abend kamen etwa sechzig Leute in der Waldorfschule zusammen um meinen Vortrag zu hören. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor dem Wesen der Betroffenheit so stark und unausweichlich begegnete, wie an diesem Abend. Was in den letzten Wochen in meinem Leben schon fast physisch handgreiflich geworden war, die geistige Substanz der Betroffenheit, vertiefte sich ins Unermessliche. Spürbar war, dass das schreckliche Ereignis eine Bedeutung für die ganze Gemeinschaft hatte. Die Betroffenheit wurde zu einem gemeinsamen Boden. Was aber das schreckliche Ereignis in Aachen freigesetzt hat, ist nicht zu sagen. Mir scheint es an meiner Stelle respektlos zu sein, mir darüber Gedanken zu machen.

Die Betroffenheit ist ein Geschenk. Die Betroffenheit öffnet Türen in das große Da-oben, Da-hinten, Da-unten, Da-drinnen. Die Betroffenheit führt in den weiten Innenraum der Ahnungen. Die Betroffenheit ermöglicht Beziehung. Das Leben lehrt aber, dass es bei diesem Geschenk nicht bleiben kann und nicht bleiben muss. Erst wenn wir aus der Betroffenheit heraus entschieden Entscheidungen treffen, wird sie nachhaltig wirksam. Das Leben als Herzwerk setzt sich über die Betroffenheit hinaus fort in die Bereitschaft, die eigene Biographie und die Gemeinschaft bewusst und tatkräftig zu gestalten. Bleibt das aus, wird der Tod im Nachhinein doch wieder sinnlos.

23.10.2007

Harm van der Meulen

Zaterdag 20 oktober, op de avond voor zijn verjaardag, is mijn vader Harm van der Meulen gestorven. Zondag was ik erbij toen hij werd opgebaard. Zijn gelaatsuitdrukking was afgewend en ingekeerd. Hij had zijn ogen en zijn mond nadrukkelijk gesloten. Ik heb mijn vader altijd begrepen als iemand die zijn leven opvatte als een strijd in opdracht van God. Zijn werk in de vakbond en in de politiek was een strijd die fair maar vastbesloten moest worden gestreden. Maar hij was niet alleen een soldaat van God. Hij was ook een geliefde. Achter zijn gesloten ogen en zijn voor altijd zwijgende mond betreedt hij nu vastbesloten een binnenruimte, waar hij zich kan verenigen met de vrouw, mijn moeder, die hij innig liefhad.

Am Samstag, 20. Oktober, dem Abend vor seinem Geburtstag, ist mein Vater Harm van der Meulen gestorben. Am Sonntag war ich dabei, als er aufgebahrt wurde. Sein Gesichtsausdruck war abgewendet und eingekehrt. Er hatte seine Augen und seinen Mund entschieden geschlossen. Ich habe meinen Vater immer verstanden als ein Mensch, der das Leben genommen hat als ein Kampf im Auftrag Gottes. Seine Arbeit in der Gewerkschaft und in der Politik war ein Kampf, der fair aber entschieden geführt werden sollte. Er war aber nicht nur ein Soldat Gottes. Er war auch ein Geliebter. Hinter seinen geschlossenen Augen und seinem für immer schweigenden Mund betritt er jetzt entschieden einen Innenraum, wo er sich mit der Frau, meiner Mutter, die er innig liebte, vereinigen kann.

17.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (3)

In meinem Austausch mit meinem alten Freund Rob Rijksen geht es unter anderem um die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich hier ein paar Sätze, die er mir geschrieben hat. Er schreibt: „Was bedeutete es damals konkret für uns beide, dass du mich einerseits zu dir heran gezogen hast und mich andererseits nicht in deinem Leben zugelassen hast, wenn ich dir zu nahe kam? Du konntest dann ziemlich wütend werden“. Und: „Nimm zum Beispiel die vielen Demonstrationen, (woran ich damals als Organisator beteiligt war, JvdM), von denen du mir nicht alles erzähltest“. Und: „Du bist damals von dem Einen zu dem Anderen geflogen, und ich musste immer irgendwie hinterherlaufen.“

Was mich an diesen Sätzen vor allem berührt, ist die Tatsache, dass ich offensichtlich „wütend“ wurde, als Rob mir zu nahe kam. Diesen „wütenden“ Jelle gibt es in meinen Erinnerungen überhaupt nicht; ich erinnere mich an keine einzige Situation, wo ich Rob gegenüber verärgert oder wütend war. Trotzdem glaube ich, dass Rob recht hat. Ich habe nämlich in meinem späteren Leben feststellen müssen, dass es diesen wütenden Jelle wohl gab und gibt. Ich habe ihn aber nicht selber wahrgenommen, auch nicht in den Momenten, in denen er offensichtlich da war. Ich habe immer gehandelt, als wenn es ihn nicht gab.

Ich war schon etwa vierzig Jahre alt, als ich sehen und annehmen konnte, dass es diesen „wütenden“ Jelle gab. Noch immer aber ist es so, dass ich nicht gerne von dieser Gestalt höre, vor allem nicht, wenn meine Kinder davon erzählen. Erst vor ein paar Wochen hat einer meiner Kinder mir davon erzählt, wie ich als Vater damals in Konflikten zwischen meinen Kindern oftmals mit Wut eingegriffen habe. „Deine Wut hat dazu geführt, dass wir unsere Konflikte oft nicht ausleben und klären konnten“. Als mein Sohn mir das so sagte, hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu verteidigen.

In seinem Essay „Über die Freundschaft[1] spricht Jacques Derrida von „der Bruder, der mich begleitet“. Dieser Bruder „erweist sich als mein Feind“. Derrida: „In nächster Nähe muß er auf mich gewartet haben, in der Vertrautheit meiner eigenen Familie, bei mir zu Hause, im Herzen der Ähnlichkeit und der Affinität, unter meinen Angehörigen, im Innern der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit, der oikeiotes, die doch einzig den Freund willkommen heißen und ihm Unterkunft gewähren sollte“.

Aus nächster Nähe kommen also die schlechten-Nachrichten-über-uns, die wir als eine Bedrohung, eine lieblose Zurechtweisung, eine unbegreifliche und schreckliche „Wahrheit“ erleben. Gerade unsere Kinder, Geliebten und Freunde können uns am tiefsten mit „Wahrheiten“ verletzen, weil wir diese „Wahrheiten“ nicht sehen wollen und können (an dieser Stelle scheinen nicht-Wollen und nicht-Können fast identisch zu sein) und nichtsdestotrotz sehen müssen, weil mein Kind, meine Geliebte und meine Freunde mich lieben und ich sie liebe. Nicht hören wollen & können, heißt doch die Liebe nicht leben wollen & können.

Wie verstehe ich diesen „wütenden“ Jelle? Laut Rob Rijksen taucht er auf, wenn er mir „zu nahe“ kommt. Wohin genau kam er zu nahe? Oder anders gesagt: Was in mir wollte da nicht gesehen, angesprochen, berührt werden? Im Nachhinein – ja, leider erst im Nachhinein, das heißt, so viele Jahre später – kann ich diese Frage beantworten. Ich hatte damals eine vage und unreife Vorstellung davon, was Freiheit heißt und habe diese Vorstellung ängstlich geliebt und gelebt. Freiheit bedeutete damals für mich, dass ich tun konnte, was ich tun wollte – und gerade das durfte nicht in Frage gestellt werden. Dass meine Vorstellung von Freiheit unzulänglich war, konnte ich nicht denken und fühlen und wollen.

Heute fühlt es sich fast so an, als ob der Jelle von damals kaum etwas zu tun hat mit dem Jelle von heute. Wie damals der wütende Jelle von mir – ich würde sagen: von meinem Selbst – gespalten war und wie eine eigenständige „Gestalt“ unbemerkt von mir auftrat, erscheint heute der „damalige“ Jelle als getrennt von dem aktuellen Jelle. Etwas in mir sagt relativierend: damals war ich (leider) so, heute bin ich (aber) so – damals war ich jung und unreif, heute bin ich älter und erfahrener. Eine verdoppelte Trennung ist also im Spiel: eine damalige und eine aktuelle.

Die aktuelle und relativierende Trennung führt dazu, dass die Betroffenheit über die Worte meines Freundes (Derrida: „In nächster Nähe muss er auf mich gewartet haben.“) ihre volle verwandelnde Wirkung nicht hat. Die Betroffenheit droht abgelenkt zu werden durch ein relativierendes quasi-Verstehen, ein Verstehen-ohne-Fühlen-und-Wollen, das im Grunde genommen genau so unzulänglich ist. Eine Frage bleibt in der Domäne des relativierenden Verstehens zugedeckt, nämlich diese: Was hat der damalige Jelle mit dem aktuellen Jelle zu tun?

Ich glaube, sagen zu können, dass meine aktuelle Betroffenheit mit drei Tatsachen zu tun hat. Die erste ist, dass ich mich überhaupt nicht an den wütenden Jelle erinnere. Die zweite ist, dass auch nach dreißig Jahren die Freundschaft noch lebt. Die dritte ist, dass ich damals Rob verletzt habe. (Fast hätte ich relativierend geschrieben: dass ich damals Rob verletzt habe, ohne es zu wissen – als ob das weniger schlimm wäre.) Die Betroffenheit erzeugt in mir zwei Bedürfnisse: den damaligen und den heutigen Jelle zusammenzubringen und Rob um Verzeihung zu bitten.

[1] Jacques Derrida, Michel de Montaigne, Über die Freunschaft, Suhrkamp Verlag, 2000

12.10.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Bochum, den 6.10.2007. Wir sitzen mit etwa zehn Leuten in einem Halbkreis und schauen auf eine Frau, die vor einer Wand steht. Hinter der Frau gibt es ein langes Regal mit vielen Büchern. Ich erlaube mir, der Frau für heute einen anderen Namen zu geben. Ich nenne sie Myriam. Wir dürfen auf Myriam schauen, und zwar unverschämt – wir dürfen es, weil sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat den Mut, sich als „Wahrnehmungs-Objekt“ für unsere Augen vor uns hinzustellen. Heute wollen wir nämlich eine Antwort finden auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Wir schauen und schauen und schauen auf ihre Gestalt und versuchen in Worte zu fassen, was wir sehen. Und wir merken, wie viel wir eigentlich sehen, gleichzeitig aber auch, wie ungeübt wir sind, dafür die richtigen Worte zu finden. Wir merken, dass wir unsere Gedanken sofort in Sprache umsetzen können, unsere Wahrnehmungen aber scheinen über die Worte hinaus wegschweben zu wollen. Um Wahrnehmungen zu beschreiben, muss man richtig tätig werden und aktiv zugreifen. (Genau, man muss ein bisschen wie Marcel Proust oder Ernest Hemingway oder Saul Bellow oder Walter Benjamin werden.)

Aber bevor wir mit dem Schauen begonnen haben, habe ich von Walter Benjamin und seiner “mimetischen Theorie der Sprache“ erzählt. Benjamin meinte, dass die Wahrheit „ihr Haus in der Sprache hat“. Ohne Sprache keine Wahrheit. Dass ein Jude wie Walter Benjamin die Domäne der Wahrheit in der Sprache sucht, darf nicht verwunderlich sein. Laut Genesis hat ja überhaupt alles mit der Sprache angefangen: „Gott sprach: und es wurde Licht“. In seiner Theorie unterscheidet Benjamin vier Sprach-Arten: die göttliche, die adamitische, die urteilende und zuletzt die stumme Sprache. Die erste Art ist schöpferisch, die zweite gibt den Dingen einen ihrem Wesen entsprechenden Namen, die dritte ist unsere Alltags-Sprache (wir urteilen ja leider ständig!) und die vierte Sprache besagt, dass ja alles und alles und alles „sich mitteilt“ – Pflanzen, Landschaften, Tiere, Kunstwerke und auch menschliche Gestalten.

Wovon spricht aber die stumme menschliche Gestalt? Wir sitzen also auf unseren Stühlen in Bochum und schauen und schauen und schauen. Gott-sei-Dank gibt es Alexander Schaumann (er heißt nicht umsonnst Schauman), der ganz rechts auf seinem Stuhl sitzt, und ständig unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere lenkt. Er ist unser Virgil. So fragt er beispielsweise: „Wenn wir auf die Aufrichte-Kraft schauen, wo genau ist sie zu sehen?“

Und wir schauen und merken, dass die Aufrichte-Kraft in dieser Frau zumindest zwei unverkennbare Quellen hat: in den Füßen, aber vor allem irgendwo zwischen Brustbereich und Kopfbereich. Es ist, als ob in ihrer Gestalt gerade dort ein Sprung sichtbar wird, andauernd eine aufrichtende nicht-physische Bewegung vollzogen wird, die dazu führt, dass ihr Antlitz frei im Raum erstrahlt. Und wenn wir noch genauer schauen, sehen wir, dass diese andauernde Bewegung – es ist erst ein Zurücknehmen und dann ein nach oben und vorne wieder Freigeben – den Eindruck erzeugt, als ob es hinter ihrem Kopf eine unsichtbare leuchtende Muschel gibt, die sich leise nach vorne beugt und unsere „Anwesenheit“ zurückstrahlt. In dieser unsichtbaren Muschel fühlen wir uns wahrgenommen und bestätigt.

(Ja, ich räume ein, dass diese Sätze schon ein bisschen komisch klingen. Eben, Proust würde seinen Kopf schütteln.)

Und wir denken: ist das bei allen Menschen so? Und wir stellen sofort fest, dass es nicht bei allen Menschen so ist, es ist nur bei dieser Person so. Bei allen Menschen ist es so, dass es eine Aufrichte-Kraft gibt, die uns nicht nur auf die Beine stellt, sondern auch eine wache Perspektive in der Welt verleiht. (Nun ja, gibt es Mensch und Welt? Oder gehen die auseinander hervor?) Höchst individuell scheint aber die Art und Weise zu sein, wie sie in unserer Gestalt wirkt.

Dann schlägt Alexander Schaumann (er ist Maler) vor, dass wir gemeinsam ein Bild malen. Er meint, dass wir unsere Wahrnehmungen dialogisch auf dem Papier zusammentragen können, um zu schauen, ob da etwas Gemeinsames entsteht. Alexander Schaumann breitet ein Stück Papier von drei mal anderthalb Meter auf dem Boden aus und gibt uns lange Pinsel, Wasser und die drei Farben rot, gelb und blau.

„Bitte“, sagt er dann.

Über dasjenige, was in den nächsten anderthalb Stunden geschieht, wäre ein Roman zu schreiben. Wir alle sind an dem Malen beteiligt. Auf dem Papier entsteht eine „Aura“. Die Füße, Beine, Bauch, Arme und Hände, Brustbereich, Schultern und Kopf sind zwar noch klar zu erkennen, aber eingebettet in ein bewegliches und dynamisches Spiel von Farben. Ein Kunstwerk ist es nicht gerade, oder gerade doch? Uns beschäftigt sehr intensiv was da entsteht, wir sind sozusagen jede Minute richtig „dabei“. Wir „untersuchen“ unsere Wahrnehmungen, versuchen zu verstehen, wenn jemand beispielsweise sagt: „Da im Bauchbereich müsste mehr rot hinzugemalt werden, wegen der Wärme die es dort gibt“.

Was hat das so entstandene Bild mit Myriam zu tun? Auch im Nachhinein fasziniert mich unsere „Entdeckung“ der Muschel – obwohl da rein physisch nichts zu sehen ist, meine ich wirklich eine Muschel „gesehen“ zu haben. Vor allem kann ich mein Empfinden, dass ich mich in dieser Muschel wie zurückgestrahlt und bestätigt erlebe, nicht zur Seite schieben. Und weil ich Myriam schon vorher kannte, kommt noch ein Empfinden dazu: Ich habe das Gefühl, dass ich ihre „Muschel“ schon vorher gespürt hatte. Die Übung scheint also etwas ins Bewusstsein zu heben, was vorher schon unbewusst vorhanden war und erlebt wurde.

(Am 27. Oktober geht es weiter. Wir werden dann nicht malen, sondern „dichten“. Alle sind herzlich willkommen. Jede Veranstaltung steht für sich. Info: www.firmafueranthroposophie.de)
Mit dank an Birgitt Kähler

04.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (2)

„Rob und ich sind damals ´aus einander hervorgegangen`. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.“ Diese Sätze habe ich letzte Woche in meinem Blog über meinen alten Freund Rob Rijksen geschrieben.

Es ging mir dabei um die Formulierung „aus einander hervorgehen“. Ich lebe schon eine Weile mit dieser treffenden Formulierung, die ich in einem Buch von Professorin Ursula Stenger (Kunstakademie Düsseldorf) gefunden habe. Sie schreibt in ihrem Buch über schöpferische Prozesse: „Mensch und Welt gibt es nicht, sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor. In einem wechselseitig sich steigernden Prozess entsteht neues; es entsteht mehr und anderes als in den Ausgangsbedingungen ersichtlich sein konnte“.[1] Für das Thema Freundschaft scheinen mir diese Sätze brennend relevant zu sein.

Aber bevor ich zu dieser wunderbaren Formulierung etwas sage, erst etwas anderes. Mein Freund Rob Rijksen und ich sind mittlerweile in einen Austausch geraten über die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Vielleicht berichte ich in einem nächsten Blog davon. Für heute genügt es zu sagen, dass offensichtlich die freundschaftliche Beziehung noch immer existiert, und in gewissem Sinne all die dreißig Jahre existiert hat. Auch in der radikalen Zweiheit-bis-zum-Vergessen bleibt die Verbindung bestehen.

Was kann Ursula Stenger mit ihrer Formulierung meinen? Sie schreibt: „Mensch und Welt gibt es nicht“, und dann direkt anschließend: „Sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor“. Mir scheinen diese Sätze die Drehscheibe ihres Buches zu bilden, oder anders gesagt, das „Urphänomen“ ihres Buches zu beschreiben. Sie greift dabei in ihrem Buch auf Nietzsche zurück und zitiert ihn: „(...) endlich erscheint uns der Horizont wieder frei (...), endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jeder Gefahr hin auslaufen, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, (...)“[2]. Es sind also nicht die Götter, die Mensch und Welt bestimmen, es sind Mensch und Welt die einander – das heißt: auch die Götter – bestimmen. Mit Nietzsche wird die „Bestimmtheit“ der Vergangenheit abgehakt.

Erst einmal müssen wir feststellen, dass die beiden Sätze von Ursula Stenger ein paar richtig „große“ Worte/Begriffe beinhalten, nämlich Mensch, Welt und Prozess. Zwischen diesen drei Begriffen „spielt“ der vierte – und neue – Begriff „aus-einander-hervorgehen“. Der neue Begriff bewegt sich in ihren Sätzen auf einem Flussbett (Prozessgeschehen) zwischen zwei Felsen (Mensch und Welt – Stenger meint „Ich“ und Welt). Der Begriff Prozess ist zu verstehen als „etwas“ zwischen Mensch und Welt; dieses „Etwas“ steigert sich dann in der Formulierung: „aus-einander-hervorgehen“.

Erst die „Felsen“ Mensch und Welt. Laut Stenger gibt es die nicht. Allein das Paradox in dem Gefüge der Begriffe (es gibt die Felsen nicht, gehen trotzdem „aus-einander-hervor“) macht deutlich, dass Stenger hier versucht, das offensichtlich Unsagbare sagbar zu machen. Sie meint nicht, dass es nichts gibt. Sie meint auch nicht, dass es den Menschen nicht gibt; und auch nicht, dass es die Welt nicht gibt. Sie meint offensichtlich: wenn es um die Konstitution von Mensch und Welt geht, soll man nicht einseitig von dem Menschen und auch nicht einseitig von der Welt ausgehen. Sie versucht also die klassische Kluft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ zu überwinden.

Und das gelingt Stenger nur dadurch, indem sie in ihrer Formulierung ein Paradox zulässt. Das Paradox lässt sich mit einer Frage verdeutlichen: Wie können zwei Sachen, die es nicht gibt, aus einander hervorgehen? Rein gedanklich ist das nicht möglich. Es muss in Stengers Denken also etwas geben, was begrifflich über Mensch und Welt hinausgeht, aber nicht in Worte gefasst wird. (Mit Martin Heidegger hätte Ursula Stenger an dieser Stelle vielleicht von „Eigentlichkeit“ sprechen können. Sie macht das aber nicht, weil sie mit dem Philosoph Heinrich Rombach meint, dass die „Eigentlichkeit“ im Sinne von Heidegger nur ein Horizont von vielen ist).

Um an dieser Stelle weiter zu denken, muss ein Sprung gemacht werden. Anders gesagt: Man muss auf eine „andere“ Ebene zugehen und ein Bedeutungsfeld oder Horizont erörtern, was in dem Paradox eingeschlossen bleibt. Klassisch gibt es unterschiedliche Namen für dieses Bedeutungsfeld: die Metaphysik, die Spiritualität oder eben die Esoterik. Auf dieser anderen Ebene macht man sich zum Beispiel über Mensch und Welt Gedanken, die nicht an physische oder auch phänomenologische – so wie Stenger offensichtlich die Phänomenologie versteht – Erscheinungen festgemacht werden können. Diesen Sprung will Ursula Stenger aber nicht machen, weil sie mit Nietzsche die „Götter“ abgehakt hat.

Und so beinhaltet ihr wunderbarer Satz noch ein zweites Paradox. Ihr (wissenschaftliches) Denken führt zu einer Stelle, die um einen Sprung fragt, der aber aus bestimmten (wissenschaftlichen?) Gründen nicht gemacht werden darf. Ihr Satz wirkt also wie eine geschlossene Tür, die aber gleichzeitig klar macht, dass es dahinter einen Raum gibt. So ist es ja eben mit Türen: sie machen uns aufmerksam auf geschlossene Räumlichkeiten. Es würde mich interessieren, von Ursula Stenger zu erfahren, ob sie sich für sich selber über diesen geschlossenen Raum Gedanken macht. Und welche Gedanken sind es dann? Oder meint sie, dass es den Raum hinter der Tür nicht gibt? Wenn das der Fall wäre, müsste sie erklären, was eigentlich ein Paradox ausmacht.

In Freundschaften gehen die Freunde aus einander hervor. Trotzdem gibt es Rob und trotzdem gibt es Jelle. Allein schon die einfache Tatsache, dass Robs Körper und mein Körper von Anfang an getrennte Sachen waren und auch immer immer bleiben, besagt, dass Rob im Sinne von Emmanuel Lévinas für mich ein „Du“ ist, ein „Gegenüber“, ein „Anderer“. An dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Subjekt und Ich (oder Selbst) hilfreich – seht dazu meine Blogs vom 15.08 und 20.8. Mir scheint es so zu sein: Von Subjekten kann man sagen, dass es sie anfänglich nicht gab, von Ichen, dass es sie gibt. Ohne Iche gibt es keine Subjekte.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

[1] Ursula Stenger, Schöpferische Prozesse. Phänomenologisch-anthropologische Analyse zur Konstitution von Ich und Welt, Juventa Verlag, 2002. Seite 19
[2] ebd., Seite 57

28.09.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (1)

Seit ein paar Monaten habe ich wieder Kontakt mit einem Freund, den ich völlig aus den Augen verloren hatte. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns nur einmal in Amsterdam getroffen – das war vor etwa zehn Jahren. Irgendwie hatten wir einander nach so vielen Jahren viel zu sagen, aber irgendwie auch wieder nicht. In mir gab bei diesem Wiedersehen in Amsterdam eine Kluft zwischen meinen Gefühlen und dem, was ich wollte. Die Gefühle waren warm, intim und vertraut, mein Wollen ging aber in eine andere Richtung – es war als ob mein alter Freund irgendwie nicht zu den Spuren passte, denen ich in meinem Leben nachgehen wollte. Jetzt, zehn Jahre später, sieht es in mir in Bezug auf meinen Freund ganz anders aus.

Vor dreißig Jahren waren wir richtig „befreundet“. Wir haben damals Musik gemacht, Songs und Gedichte geschrieben, über tausend Themen gesprochen, ja eben elektrische Gitarren gebaut. Wir hatten richtig etwas vor. Aus meiner Sicht würde ich sagen: Wir wollten die Welt erobern. Mein Freund war ein begnadeter Maler und Musiker – er konnte die Gitarre spielen wie ein Gott und auch noch richtig singen dazu. Ich war eher auf Wörter und Sprache orientiert: Dichtung, Philosophie und Journalismus. Ein Ding war irgendwie aber klar: Die Welt konnte mitkriegen, dass wir existierten!

Dann sind wir aber nach etwa fünf Jahren auseinander gegangen. Er ging seinen Weg und ich meinen. Der Grund? Ich weiß ihn immer noch nicht so genau. Es hatte aber schon damit zu tun, dass ich ein Wort-Mensch und er ein Klang-Mensch war. Ich habe jetzt aber das starke Bedürfnis, das damalige Auseinandergehen zu klären und zu verstehen. Es scheint so zu sein, dass unsere beiden „Sonderwege“ mir im Nachhinein etwas Wichtiges zu sagen haben – als ob wir in der Tiefe verschränkt sind, gerade aber in dieser „Verschränktheit“ eine Zweiheit erleben müssen, eine radikale Zweiheit bis zum Vergessen.

Vor zwei Monaten entdeckte ich im Internet eine Website von einer Rockband aus Culemborgh. Die Band nennt sich „Orange Red“ und einer der Bandmitglieder heißt Rob Rijksen. Ein Photo machte mir sofort deutlich, dass es dabei tatsächlich um meinen alten Freund Rob Rijksen ging. Auf dem Photo ist er zu sehen mit einer großen Bassgitarre und er schaut dunkel um sich herum, wie er das immer machte: Er schaute auf die Welt aus einer tiefen Dunkelheit heraus. Klar ist, dass er mit der Bassgitarre etwas bewegen möchte. Nur verlegen oder nur halbwegs die dicken Saiten berühren, kann die Sache nicht sein.

Ich war froh, als ich ihn da so sah. Rob war noch da! Und er machte noch immer Musik! Meine Freude war irgendwie uralt und auch funkelneu. Seitdem mache ich mir Gedanken über die Kraft der Freundschaft, weil mir meine Freude klar sagte: sie war noch immer da. Ich würde es jetzt, vielleicht ein bisschen abstrakt, so sagen: Rob und ich sind damals „aus einander hervorgegangen“. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.

Dass ich nach dreißig Jahren das Gefühl habe, es gibt etwas zu klären, ist nicht verwunderlich. Wie ist sein Sonderweg zu verstehen, wissend, dass es eine gegenseitige „Verschränkung“ gibt? Und wie ist mein Sonderweg zu verstehen? Und natürlich das Wichtigste: Was haben wir beide in unserem Leben aus der Verschränkung gemacht? Und was wollen wir weiterhin noch machen?

23.09.2007

Der Kölner Dom hat einen Ausweg gefunden

Immer wenn ich durch die Tür des Kölner Doms gehe, habe ich das Gefühl, dass ich mein Haupt neigen soll. Der Eingangsbereich ist so gestaltet, dass ich für einen Moment vergesse, dass das Gebäude weit weit weit über mich hinausragt. Ich fühle mich in die Enge getrieben, als ob mir erst klar gemacht werden soll, dass ich ganz ganz ganz klein bin. Auch heute sitzt neben der Tür ein Bettler. Und unwillkürlich kommt in mir die alte alte alte Frage wieder hoch: Bin ich in geistigen Angelegenheiten nicht eigentlich ein Bettler?

Wenn ich dann weiter hineingehe und im „Vorhof“ stehe, komme ich mir wieder „normal“ vor. Ich bin ja ein Besucher, wie Hunderte andere Besucher auch. Das Einzige was mich noch davon zurückhält, einfach zügig weiterzugehen, ist die Dunkelheit. Der Vorhof erlaubt mir zwar mein Haupt wieder zu heben, umschließt mich aber mit einem Halbdunkel, das eine gewisse Vorsicht erzeugt. Richtig losgehen, geht noch nicht. Das Halbdunkel ist irgendwie genau passend: Ich sehe schon den Flur, auf dem ich gehen kann – dass er aber aus festen quadratischen Fliesen besteht, bleibt verborgen. Der Vorhof macht also ein klares Statement: Um hier zu gehen braucht man Vertrauen.

Nach zehn Schritten öffnet sich auf einmal die Kathedrale in ihrer gewaltigen Größe. Weit über mich hinaus bilden die riesigen Säulen, Wände und Gewölbe einen Innenraum – wie eine statische Explosion. Ich fühle mich wie verdoppelt: Hier bin ich ganz unten, aber ich bin genauso da oben. Wenn ich mein Haupt in meinen Nacken lege und empor schaue, scheint es mir, als ob ich mir von da oben entgegenkomme. In der Vertikalität scheint es eine Illusion zu sein, dass ich hier unten stehe und nach oben schaue. Die Welt dreht sich um und ich schaue auf mich von oben nach unten. Und der Gedanke, dass ich ein Besucher bin, wie Hunderte andere Besucher auch, verschwindet. Nein, gerade ich bin gemeint. Ich bin DER Besucher. Und ich soll in meinem Leben etwas mit der Tatsache machen, dass ich DER Besucher bin.

Dann schaue ich horizontal in die Ferne. Ganz weit weit weit weg an der anderen Seite der Kathedrale, sehe ich einen glänzenden Punkt aus Gold. Es ist mir schon lange bekannt, dass es sich dabei um den goldenen Schrein handelt, indem die Gebeine der drei Könige (eigentlich Magier) aufbewahrt werden. Der goldene Schrein macht den „historischen Inhalt“ des Doms aus; ohne diesen abgeschlossenen Schrein gäbe es keinen Innenraum. Und sofort möchte ich dahin, um nochmals nochmals nochmals das Gold zu sehen und mir innerlich die Gebeine vorzustellen. (So ist das: Der Inhalt des strahlenden Schreins ist tot tot tot.)

In der Mitte der Kathedrale angekommen, schaue ich nach rechts zu dem großen Südportal. Ich blicke auf und sehe das neue schillernde Glasfenster, mehr als hundert Quadratmeter groß. Ich habe in den letzten Wochen viel in den Kölner Zeitungen über das Glasfenster gelesen. Und ich bin mit den meisten Kölnern einverstanden: Das neue Fenster ist großartig. Und ich bin mit meinem Freund Sebastian Gronbach einverstanden, dass der Dom mit dem neuen Fenster „im 21. Jahrhundert angekommen“ ist. (Lest bitte Gronbachs Kolumne über das Fenster: www.info3.de/wordpress/?p=119 ).

Was ist im Fenster zu sehen? Ich meine, das neue Fenster bietet einen Ausweg aus dem Innenraum des Doms. Oder anders gesagt: Die Tausenden kleinen farbigen Quadrate holen den großen Außenraum-da-draußen in den Innenraum des Doms rein und zwar ohne mit dem großen Außenraum-da-draußen den Innenraum bestimmen zu wollen. Auf einmal hat der Dom eine Öffnung gefunden, ein nicht-bildliches Bild (in der Kunst spricht man von „abstrakt“), das so intensiv mit dem großen Singen-da-draußen mit singt, so dass es klar und frei im Innenraum hörbar wird.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

15.09.2007

Die Art von Ute Wagner - Zavaglia

Auf ihren Knien liegt ein großes Notizbuch mit vollgeschriebenen Blättern. Und ihre langen Finger liegen auf diesen vollgeschriebenen Blättern – wie zarte Fühler. Man könnte meinen, sie liest mit ihren Fingern wie ein Blinder. So ist es aber nicht. Sie scheint mit dem behutsamen Berühren der Blätter die Vergangenheit wieder tastbar machen zu wollen.
Ute liest mit ihren Augen, aber so, dass ihre Augen genau so aufmerksam auch bei uns sind, den dreißig Zuhörern. Der Vorgang ist präzise. Sie liest still und ruhig ein paar Sätze von den vollgeschriebenen Blättern, hält inne und schaut in sich auf das, was sie gelesen hat, blickt genau so ruhig in die Runde, liest in unseren Gesichtern, spürt nach, was in der andachtsvollen Stille lebt und erzählt dann weiter. Ihre Worte scheinen kleine farbige Herbstblätter zu sein, die von einem leisen Wind getragen werden.
Ute erzählt von Kevin, einem fünfjährigen Jungen, den sie vor einem Jahr kennengelernt hat. Und durch ihre schlichten Worte ist Kevin bald bei uns im Raum. Er ist klein, hat rote Haare und große braune Augen, trägt eine Jacke und Hosen, die zu groß sind. Mit seinen Augen saugt er die Welt auf. Kevin scheint lauter Staunen zu sein und stellt hundert Fragen. Um sich nicht in seinem Staunen zu verlieren, hält er mit einer Hand die Jacke seiner Mutter fest, die hinter ihm steht.
Kevin hat ein Problem. Er ist nämlich „ein Feuerwerk an Energie“. (Nein, diese Worte sind nicht spektakulär gemeint. In Utes Mund klingen sie eher sanft und sachlich.) Kevin ringt mit seiner Begeisterung, die ihn manchmal mitreißen kann. Wenn er das Feuer in sich nicht halten kann, kocht seine Seele über den Rand seines Körpers hinaus. Was er dann macht? Nun ja, was macht man dann? Kevin wird dann auf einmal „hyperaktiv“ und ist nicht mehr zu stoppen. Er will dann eigentlich fliegen, was aber leider nicht geht. Oder er will auf einmal alles anfassen, alles untersuchen, alles wissen, alles prüfen. Er ist dann, wie man so schön sagt, „aus seinem Häuschen“.
„Kevin ist innig mit den Dingen verbunden“, sagt Ute.
Ute erzählt vierzig Minuten lang. Erst über Kevins „Biographie“, die noch ganz kurz ist. In dieser noch ganz kurzen „Biographie“ tauchen aber ein paar ernsthafte Probleme auf. Ute erzählt von den ersten Jahren, von den Eltern und von den Menschen um Kevin herum. Und es scheint, als ob das Leben sich um Kevin herum so einrichten will, dass er keinen Halt findet, keine Stützpunkte geboten bekommt und dass ihm keine Grenzen gegönnt werden. Dasjenige, wovon Kevin in den ersten Jahren seines Lebens getragen werden soll, scheint wackelig und voller Löcher zu sein. Und am Ende erzählt Ute von seiner Geburt. Er schaffte es nicht alleine und ohne ärztliche Hilfe durch die Enge zu gehen. Die Enge war zu eng und seine Begeisterung-zum-Leben zu groß.
Während Ute erzählt, ändert sich langsam und unbemerkt der Raum, worin wir uns befinden. Für unsere Augen bleibt der Raum irgendwie noch immer quadratisch, so wie Räume eben quadratisch sind. Mein Empfinden sagt aber, dass wir längst nicht mehr in einem quadratischen Raum sind. Der Raum ist rund geworden. Und in diesem runden Raum scheint ein zartes und fühlsames Licht, ich würde sagen: ein Herbstlicht, das nicht nur scheint und sichtbar macht, sondern auch leise berührt und bewegt – ich spüre das Licht fast auf meiner Haut. In diesem Licht scheint nichts spektakulär zu sein, alles aber bemerkenswert und liebenswürdig.
Die dreißig Zuhörer sehen einander auf einmal in einem anderen Licht.

(Ute Wagner-Zavaglia ist Mitarbeiterin des Janusz Korczak Institut in Nürtingen. Der Name von „Kevin“ ist geändert. Mit dank an Birgitt Kähler.)