12.11.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt? (2)

Bochum, den 27.10.2007. Ich nenne sie für heute Eveline. Sie steht (da) ganz vorn und schaut mit offenem forschenden Blick auf uns, die ja auf sie schauen. Auch heute dürfen wir wieder unverhohlen schauen, weil das die Übung ist. Eveline hat sich zur Verfügung gestellt, weil wir eine Antwort finden wollen auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Die stumme Sprache ihrer Gestalt spricht. Erst sehen wir „Stabilität“, dass heißt, die Gestalt steht richtig auf der Erde. Es scheint so, als ob es an der rechten und linken Seite ihrer Gestalt eine Art umgekehrtes U gibt, ein ∩ also, was das Ganze zusammenhält und festigt. Und ständig taucht das Wort „Kraft“ auf, als ob die ganze Gestalt darauf hingerichtet ist, nicht nur Kraft zu sammeln, sondern auch „kräftig“ zu handeln. Ich weiß, dass Eveline Bildhauerin ist, und denke: Wenn es um Granit geht, weiß ihre Gestalt Bescheid. Einer der beobachtenden Anwesenden drückt es wunderschön aus: „Die Schultern haben die Hände zur Verfügung“.

Wir schauen genauer auf die Einzelheiten und stellen fest, dass es überall asymmetrische Verhältnisse gibt. Die Augenbrauen, die Augen, die Mundwinkel, die Schultern, die Hände (die rechte hängt ein kleines bisschen tiefer als die linke) – alle Doppelungen sind auf einer feinen Art und Weise dem Gesetz der Asymmetrie untergeordnet. Jemand sagt: „Die Stabilität scheint mir eine zu sein, die sicher in der Asymmetrie gelandet ist.“ Jemand anders stellt fest: „Die Asymmetrie bildet einen Rhythmus, der sich von oben nach unten bewegt“. Und so ist es: Hat man den Rhythmus der Asymmetrie einmal bewusst gesehen, sieht man ihn überall.

Und dann sagt jemand auf einmal: „Deine Lippen sind perfekt!“

Wir konzentrieren uns auf Evelines Blick. Mit dem Blick sind Aufmerksamkeit und Bewusstsein verbunden. Alexander Schaumann stellt uns wieder eine unmögliche-wunderbar-mögliche Frage: „Woher kommt der Blick?“ Ich schaue und schaue und schaue, und langsam ensteht in mir ein unmöglich-wunderbar-möglicher Satz: „Der Bewusstseinsstrom kommt von oben, taucht im Herzbereich unter und nimmt dort ein warmes und schlafendes Wissen auf, steigt wieder nach oben, geht durch die Augen in den Raum und befragt frei die Welt“.

Diesmal malen wir nicht, sondern wir dichten. Das heißt: Wir schreiben gemeinsam ein Gedicht um unseren Beobachtungen außerhalb von uns eine Form zu geben. Glauben Sie mir, der Weg war lang. Gemeinsam um Worte ringen, ist nicht einfach. Trotzdem gab es auf einmal ein gemeinsames Empfinden, einen Strom von gegenseitigen Bejahungen – der Text fing auf einmal an, sich selber zu schreiben. (Ich kenne das als Schriftsteller: Wenn der Text selber tätig wird und sich von sich aus in den Prozess einmischt, entsteht Gutes. Der Titel des Gedichtes heißt natürlich „Hymne“.

= Hymne=
Deine Lippen sind perfekt!
Du
U.
Deine Schultern
haben die Hände zur Verfügung.
Stabil ist dein Stand. Deine Gestalt:
Rhythmus der Asymmetrie.
Vorbehaltlos ist dein Atmen.
In deinem conkaven Flach
spürst du den Hauch von außen.
Deine Brust speist die Hand.
Ruhe –
Dein Blick sammelt sich in der Frage:
Wer bist du?

Keine Kommentare: