Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (1) Ereignisse
In der Waldorfkindergartenbewegung in Deutschland stehen zumindest drei grundlegende Fragen an. Die erste Frage betrifft die Grundidee des Kindergartens selbst. Aus welchen Gründen meinen wir, dass es Kindergärten geben soll? Und wie sollen sie aussehen? Die zweite Frage betrifft die Vorstellungen, die wir davon haben, was ein Kind eigentlich ist. Wenn wir meinen, dass es dieses wunderbare Wesen wirklich gibt (d.h. keine soziale „Konstruktion“ ist), was macht dann sein Wesen aus?
Und die dritte Frage bezieht sich auf die Bedeutung der Anthroposophie im Leben und Arbeiten in und um den Waldorfkindergarten. Wenn die Anthroposophie kein ideologischer Lieferant von pädagogischen Methoden & Rezepten ist, welche Bedeutung hätte sie dann? Klar müsste sein, dass diese drei Fragen – besser wäre vielleicht zu sagen: diese drei Untersuchungsfelder – eng miteinander verknüpft sind. An dieser Stelle gilt, dass man sich nicht in dem einen Untersuchungsfeld bewegen kann, ohne ständig auf die zwei anderen Bezug zu nehmen..
Über die zweite und die dritte Frage könnte gesagt werden, dass Rudolf Steiner sie schon beantwortet hat. Das stimmt durchaus, reicht allerdings nicht mehr aus. Erstens sind Antworten immer Aussagen unter bestimmten Umständen – und seit dem Tod Rudolf Steiners im Jahr 1925 hat sich viel verändert. Zweitens geht es gar nicht mehr um die Frage, was Rudolf Steiner damals gemeint hat. Die heutige Lebenspraxis wird dadurch bestimmt, was Menschen heute denken, fühlen und vor allem wollen. Und was die erste Frage angeht: Rudolf Steiner hat sich einfach nie mit der Einrichtung eines Kindergartens beschäftigt. Die Bewegung der Waldorfkindergärten ist erst nach seinem Tod entstanden.
Eine Falle wäre, sofort in die drei genannten Untersuchungsfelder einzusteigen und klare Statements abzugeben. Das wird hier und da getan, bringt aber nichts. Mir scheint nämlich, dass die drei Fragen eine Vierte hervorrufen, die eigentlich nie gestellt wird. Gerade diese Frage müsste ins Zentrum des Denkens gerückt werden. Die Frage lautet: Was sagt uns die Tatsache, dass die drei Fragen zu einer träumenden Gemeinschaft gehören? Oder anders gesagt: Wie wäre zu erreichen, dass diese Gemeinschaft von Menschen, die mit dem Impuls der Waldorfpädagogik verbunden sind, in Bezug auf die Fragen wach wird? Oder noch anders gesagt: Wie könnte in dieser Gemeinschaft wirklich ein Diskurs entstehen?
Hinter dieser Frage steckt ein klares Urteil. Die eigentliche Krise der Waldorfkindergärten liegt darin, dass leider von einer wachen Gemeinschaft nicht gesprochen werden kann. Dieser Umstand wäre auf unterschiedlicher Art und Weise zu beschreiben – heute versuche ich es folgendermaßen. Wenn man auf die unterschiedlichen „Positionen“ in der Waldorfkindergartenbewegung schaut, fallen ein paar Probleme auf. Mit Positionen meine ich hier: Man ist ein „Elternteil“ (excusez le mot, man müsste eigentlich sagen: ein Vater oder eine Mutter), ein Kind, eine Erzieherin, eine Kindergartenleiterin, ein Vorstandsmitglied, ein Funktionär der Internationalen Kindergartenvereinigung oder ein wohlwollender Unterstützer. (Für mich gilt, dass ich ein Funktionär bin. Ich bin in der Leitung des Seminars für Waldorfpädagogik in Köln tätig, und Mitglied des Verantwortungskreises der Internationalen Kindergartenvereinung in NRW.
Die lange und reiche Vergangenheit der Waldorfkindergartenbewegung hat dazu geführt, dass eine formale Welt von Positionen und dementsprechend mit scheinbaren Verantwortungen entstanden ist. Diese Verantwortungen sind aber losgelöst vom wirklichen Leben. Das heißt, dass Entscheidungen zwar formal getroffen werden können, in der Lebenspraxis aber nur von ganz Wenigen getragen werden. Egal, ob man auf die internationale Kindergartenvereinigung bundesweit, auf die Kindergartenvereinigung in beispielsweise NRW oder auf die einzelnen Kindergärten schaut, grundlegende Entscheidungen haben nie die Bedeutung, die sie haben müssen um wirklich Entscheidung zu sein, nämlich die Bedeutung eines Ereignisses.
In der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es keine Ereignisse mehr. Was ist ein Ereignis in einer Gemeinschaft? Ereignisse erzeugen Geschichte. Ereignisse gestalten die Biographie der Gemeinschaft. Das geht aber nicht von alleine. Mit Ereignissen ist es halt so, dass sie erst dann auch wirklich Ereignisse sind, wenn sie als Ereignis wahrgenommen und erlebt werden. Ereignisse die nicht gemeinsam wahrgenommen & erlebt & bewertet & integriert werden, sind kollektive Träume. Sie bleiben wie Schatten an der Wand. Sie bestimmen zwar eindringlich die Gefühle – und über die Gefühle auch die Gedanken und Taten – der Mitglieder der Gemeinschaft, sie erreichen aber nie die Transparenz, die als Bedingung für freie Entscheidungen notwendig ist. Erst wenn eine Gemeinschaft um gedankliche Transparenz ringt, d.h. einen aktiven und wachen Diskurs führt, entsteht ein gemeinsames Erleben von Ereignissen. (Fortsetzung folgt)
(Mit Dank an Birgitt Kähler)
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