17.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (3)

In meinem Austausch mit meinem alten Freund Rob Rijksen geht es unter anderem um die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich hier ein paar Sätze, die er mir geschrieben hat. Er schreibt: „Was bedeutete es damals konkret für uns beide, dass du mich einerseits zu dir heran gezogen hast und mich andererseits nicht in deinem Leben zugelassen hast, wenn ich dir zu nahe kam? Du konntest dann ziemlich wütend werden“. Und: „Nimm zum Beispiel die vielen Demonstrationen, (woran ich damals als Organisator beteiligt war, JvdM), von denen du mir nicht alles erzähltest“. Und: „Du bist damals von dem Einen zu dem Anderen geflogen, und ich musste immer irgendwie hinterherlaufen.“

Was mich an diesen Sätzen vor allem berührt, ist die Tatsache, dass ich offensichtlich „wütend“ wurde, als Rob mir zu nahe kam. Diesen „wütenden“ Jelle gibt es in meinen Erinnerungen überhaupt nicht; ich erinnere mich an keine einzige Situation, wo ich Rob gegenüber verärgert oder wütend war. Trotzdem glaube ich, dass Rob recht hat. Ich habe nämlich in meinem späteren Leben feststellen müssen, dass es diesen wütenden Jelle wohl gab und gibt. Ich habe ihn aber nicht selber wahrgenommen, auch nicht in den Momenten, in denen er offensichtlich da war. Ich habe immer gehandelt, als wenn es ihn nicht gab.

Ich war schon etwa vierzig Jahre alt, als ich sehen und annehmen konnte, dass es diesen „wütenden“ Jelle gab. Noch immer aber ist es so, dass ich nicht gerne von dieser Gestalt höre, vor allem nicht, wenn meine Kinder davon erzählen. Erst vor ein paar Wochen hat einer meiner Kinder mir davon erzählt, wie ich als Vater damals in Konflikten zwischen meinen Kindern oftmals mit Wut eingegriffen habe. „Deine Wut hat dazu geführt, dass wir unsere Konflikte oft nicht ausleben und klären konnten“. Als mein Sohn mir das so sagte, hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu verteidigen.

In seinem Essay „Über die Freundschaft[1] spricht Jacques Derrida von „der Bruder, der mich begleitet“. Dieser Bruder „erweist sich als mein Feind“. Derrida: „In nächster Nähe muß er auf mich gewartet haben, in der Vertrautheit meiner eigenen Familie, bei mir zu Hause, im Herzen der Ähnlichkeit und der Affinität, unter meinen Angehörigen, im Innern der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit, der oikeiotes, die doch einzig den Freund willkommen heißen und ihm Unterkunft gewähren sollte“.

Aus nächster Nähe kommen also die schlechten-Nachrichten-über-uns, die wir als eine Bedrohung, eine lieblose Zurechtweisung, eine unbegreifliche und schreckliche „Wahrheit“ erleben. Gerade unsere Kinder, Geliebten und Freunde können uns am tiefsten mit „Wahrheiten“ verletzen, weil wir diese „Wahrheiten“ nicht sehen wollen und können (an dieser Stelle scheinen nicht-Wollen und nicht-Können fast identisch zu sein) und nichtsdestotrotz sehen müssen, weil mein Kind, meine Geliebte und meine Freunde mich lieben und ich sie liebe. Nicht hören wollen & können, heißt doch die Liebe nicht leben wollen & können.

Wie verstehe ich diesen „wütenden“ Jelle? Laut Rob Rijksen taucht er auf, wenn er mir „zu nahe“ kommt. Wohin genau kam er zu nahe? Oder anders gesagt: Was in mir wollte da nicht gesehen, angesprochen, berührt werden? Im Nachhinein – ja, leider erst im Nachhinein, das heißt, so viele Jahre später – kann ich diese Frage beantworten. Ich hatte damals eine vage und unreife Vorstellung davon, was Freiheit heißt und habe diese Vorstellung ängstlich geliebt und gelebt. Freiheit bedeutete damals für mich, dass ich tun konnte, was ich tun wollte – und gerade das durfte nicht in Frage gestellt werden. Dass meine Vorstellung von Freiheit unzulänglich war, konnte ich nicht denken und fühlen und wollen.

Heute fühlt es sich fast so an, als ob der Jelle von damals kaum etwas zu tun hat mit dem Jelle von heute. Wie damals der wütende Jelle von mir – ich würde sagen: von meinem Selbst – gespalten war und wie eine eigenständige „Gestalt“ unbemerkt von mir auftrat, erscheint heute der „damalige“ Jelle als getrennt von dem aktuellen Jelle. Etwas in mir sagt relativierend: damals war ich (leider) so, heute bin ich (aber) so – damals war ich jung und unreif, heute bin ich älter und erfahrener. Eine verdoppelte Trennung ist also im Spiel: eine damalige und eine aktuelle.

Die aktuelle und relativierende Trennung führt dazu, dass die Betroffenheit über die Worte meines Freundes (Derrida: „In nächster Nähe muss er auf mich gewartet haben.“) ihre volle verwandelnde Wirkung nicht hat. Die Betroffenheit droht abgelenkt zu werden durch ein relativierendes quasi-Verstehen, ein Verstehen-ohne-Fühlen-und-Wollen, das im Grunde genommen genau so unzulänglich ist. Eine Frage bleibt in der Domäne des relativierenden Verstehens zugedeckt, nämlich diese: Was hat der damalige Jelle mit dem aktuellen Jelle zu tun?

Ich glaube, sagen zu können, dass meine aktuelle Betroffenheit mit drei Tatsachen zu tun hat. Die erste ist, dass ich mich überhaupt nicht an den wütenden Jelle erinnere. Die zweite ist, dass auch nach dreißig Jahren die Freundschaft noch lebt. Die dritte ist, dass ich damals Rob verletzt habe. (Fast hätte ich relativierend geschrieben: dass ich damals Rob verletzt habe, ohne es zu wissen – als ob das weniger schlimm wäre.) Die Betroffenheit erzeugt in mir zwei Bedürfnisse: den damaligen und den heutigen Jelle zusammenzubringen und Rob um Verzeihung zu bitten.

[1] Jacques Derrida, Michel de Montaigne, Über die Freunschaft, Suhrkamp Verlag, 2000

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

lieber jelle,


es ist schön, dass du über freundschaft schreibst! danke für deine gedanken und meditationen dazu, zum wesen der freundschaft. es regt mich zu eigenen überlegungen an, auch dafür dank.

ein freund ist doch jemand, der einem nichts böses will, dem ich nichts böses will. und freundschaft ist ein hilfreiches wort, wenn man nicht das große wort liebe oder nächstenliebe sagen mag. jesus war umgeben von seinen freunden, sie haben ihn auch verletzt und verlassen und dennoch hat die freundschaft überdauert. über das versagen hinweg die treue und verbundenheit aufrechtzuerhalten, halte ich für so wichtig;

gerade auch im streit, z.b. unter anthroposophen. ich kann mich über einen sergej p. aufregen wie ich will, kann ihn vielleicht sogar bekämpfen, aber fühle mich trotzdem solidarisch mit ihm (den ich nicht mal persönlich kenne). er ist so gesehen gar kein freund im herkömmlichen sinne, aber die vorstellung, er könnte mein freund (gewesen) sein, erleichtert mir, ihn gelten zu lassen, ihn nicht zu verteufeln oder zu hassen. oder ebenso auch ein helmut zander...

ich habe mal vor vielen jahren in einem gästebuch von felix hau als meine beschreibung von anthroposophie geschrieben: "freundschaft und pflichterfüllung". vielleicht würde ich heute auch noch dankbarkeit hinzufügen... -

freunde sind doch wirklich reale teile von mir selbst; das erlebe ich auch permanent, gerade bei freunden aus der vergangenheit, zu denen schon lange kein kontakt mehr besteht. das alles ist zwar etwas vergangenheitsbezogen, aber es ist auch ein potenzial, ein fundus für die zukunft (was mache ich daraus?). die (frühere) begegnung mit den freunden wartet vielleicht auf eine auferstehung?

sei ganz herzlich gegrüßt!