04.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (2)

„Rob und ich sind damals ´aus einander hervorgegangen`. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.“ Diese Sätze habe ich letzte Woche in meinem Blog über meinen alten Freund Rob Rijksen geschrieben.

Es ging mir dabei um die Formulierung „aus einander hervorgehen“. Ich lebe schon eine Weile mit dieser treffenden Formulierung, die ich in einem Buch von Professorin Ursula Stenger (Kunstakademie Düsseldorf) gefunden habe. Sie schreibt in ihrem Buch über schöpferische Prozesse: „Mensch und Welt gibt es nicht, sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor. In einem wechselseitig sich steigernden Prozess entsteht neues; es entsteht mehr und anderes als in den Ausgangsbedingungen ersichtlich sein konnte“.[1] Für das Thema Freundschaft scheinen mir diese Sätze brennend relevant zu sein.

Aber bevor ich zu dieser wunderbaren Formulierung etwas sage, erst etwas anderes. Mein Freund Rob Rijksen und ich sind mittlerweile in einen Austausch geraten über die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Vielleicht berichte ich in einem nächsten Blog davon. Für heute genügt es zu sagen, dass offensichtlich die freundschaftliche Beziehung noch immer existiert, und in gewissem Sinne all die dreißig Jahre existiert hat. Auch in der radikalen Zweiheit-bis-zum-Vergessen bleibt die Verbindung bestehen.

Was kann Ursula Stenger mit ihrer Formulierung meinen? Sie schreibt: „Mensch und Welt gibt es nicht“, und dann direkt anschließend: „Sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor“. Mir scheinen diese Sätze die Drehscheibe ihres Buches zu bilden, oder anders gesagt, das „Urphänomen“ ihres Buches zu beschreiben. Sie greift dabei in ihrem Buch auf Nietzsche zurück und zitiert ihn: „(...) endlich erscheint uns der Horizont wieder frei (...), endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jeder Gefahr hin auslaufen, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, (...)“[2]. Es sind also nicht die Götter, die Mensch und Welt bestimmen, es sind Mensch und Welt die einander – das heißt: auch die Götter – bestimmen. Mit Nietzsche wird die „Bestimmtheit“ der Vergangenheit abgehakt.

Erst einmal müssen wir feststellen, dass die beiden Sätze von Ursula Stenger ein paar richtig „große“ Worte/Begriffe beinhalten, nämlich Mensch, Welt und Prozess. Zwischen diesen drei Begriffen „spielt“ der vierte – und neue – Begriff „aus-einander-hervorgehen“. Der neue Begriff bewegt sich in ihren Sätzen auf einem Flussbett (Prozessgeschehen) zwischen zwei Felsen (Mensch und Welt – Stenger meint „Ich“ und Welt). Der Begriff Prozess ist zu verstehen als „etwas“ zwischen Mensch und Welt; dieses „Etwas“ steigert sich dann in der Formulierung: „aus-einander-hervorgehen“.

Erst die „Felsen“ Mensch und Welt. Laut Stenger gibt es die nicht. Allein das Paradox in dem Gefüge der Begriffe (es gibt die Felsen nicht, gehen trotzdem „aus-einander-hervor“) macht deutlich, dass Stenger hier versucht, das offensichtlich Unsagbare sagbar zu machen. Sie meint nicht, dass es nichts gibt. Sie meint auch nicht, dass es den Menschen nicht gibt; und auch nicht, dass es die Welt nicht gibt. Sie meint offensichtlich: wenn es um die Konstitution von Mensch und Welt geht, soll man nicht einseitig von dem Menschen und auch nicht einseitig von der Welt ausgehen. Sie versucht also die klassische Kluft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ zu überwinden.

Und das gelingt Stenger nur dadurch, indem sie in ihrer Formulierung ein Paradox zulässt. Das Paradox lässt sich mit einer Frage verdeutlichen: Wie können zwei Sachen, die es nicht gibt, aus einander hervorgehen? Rein gedanklich ist das nicht möglich. Es muss in Stengers Denken also etwas geben, was begrifflich über Mensch und Welt hinausgeht, aber nicht in Worte gefasst wird. (Mit Martin Heidegger hätte Ursula Stenger an dieser Stelle vielleicht von „Eigentlichkeit“ sprechen können. Sie macht das aber nicht, weil sie mit dem Philosoph Heinrich Rombach meint, dass die „Eigentlichkeit“ im Sinne von Heidegger nur ein Horizont von vielen ist).

Um an dieser Stelle weiter zu denken, muss ein Sprung gemacht werden. Anders gesagt: Man muss auf eine „andere“ Ebene zugehen und ein Bedeutungsfeld oder Horizont erörtern, was in dem Paradox eingeschlossen bleibt. Klassisch gibt es unterschiedliche Namen für dieses Bedeutungsfeld: die Metaphysik, die Spiritualität oder eben die Esoterik. Auf dieser anderen Ebene macht man sich zum Beispiel über Mensch und Welt Gedanken, die nicht an physische oder auch phänomenologische – so wie Stenger offensichtlich die Phänomenologie versteht – Erscheinungen festgemacht werden können. Diesen Sprung will Ursula Stenger aber nicht machen, weil sie mit Nietzsche die „Götter“ abgehakt hat.

Und so beinhaltet ihr wunderbarer Satz noch ein zweites Paradox. Ihr (wissenschaftliches) Denken führt zu einer Stelle, die um einen Sprung fragt, der aber aus bestimmten (wissenschaftlichen?) Gründen nicht gemacht werden darf. Ihr Satz wirkt also wie eine geschlossene Tür, die aber gleichzeitig klar macht, dass es dahinter einen Raum gibt. So ist es ja eben mit Türen: sie machen uns aufmerksam auf geschlossene Räumlichkeiten. Es würde mich interessieren, von Ursula Stenger zu erfahren, ob sie sich für sich selber über diesen geschlossenen Raum Gedanken macht. Und welche Gedanken sind es dann? Oder meint sie, dass es den Raum hinter der Tür nicht gibt? Wenn das der Fall wäre, müsste sie erklären, was eigentlich ein Paradox ausmacht.

In Freundschaften gehen die Freunde aus einander hervor. Trotzdem gibt es Rob und trotzdem gibt es Jelle. Allein schon die einfache Tatsache, dass Robs Körper und mein Körper von Anfang an getrennte Sachen waren und auch immer immer bleiben, besagt, dass Rob im Sinne von Emmanuel Lévinas für mich ein „Du“ ist, ein „Gegenüber“, ein „Anderer“. An dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Subjekt und Ich (oder Selbst) hilfreich – seht dazu meine Blogs vom 15.08 und 20.8. Mir scheint es so zu sein: Von Subjekten kann man sagen, dass es sie anfänglich nicht gab, von Ichen, dass es sie gibt. Ohne Iche gibt es keine Subjekte.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

[1] Ursula Stenger, Schöpferische Prozesse. Phänomenologisch-anthropologische Analyse zur Konstitution von Ich und Welt, Juventa Verlag, 2002. Seite 19
[2] ebd., Seite 57

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